Wir fahren in die Berge

schreibt meine Mutter in ein 1972 gestaltetes Fotoalbum.

Gemeint ist eine Ausfahrt ins 20 km von Rimini entfernt und auf 330 m sul livello del mare liegende uralte Dörfchen Verrucchio, zu der uns der Hotelier und Familienfreund mitnahm, nicht nur, um die Aussicht zu genießen, sondern um im einstigen Schlupfwinkel der Malatesta der Empfindung nachzuspüren, dass das Rad der Zeit sich kaum weitergedreht habe.

Weitere Fahrten „in die Berge“ begleiteten unsere Aufenthalte am adriatischen Meer, immer mit dem Hoteliersfreund, manchmal auch zusammen mit dessen Mutter, der nonna P., oder anderen Familienmitgliedern, zum balcone della Romagna Bertinoro oder zum 35 km von Mauro Mare entfernten Dorf San Leo, zu dem eine einzige Straße hinaufführt. Der heilige Leo, Bischof von Rom im 5.Jh.n.Chr., soll die erste christliche Gemeinde hier gegründet haben. Die trutzige Festung auf dem fast senkrecht stürzenden Felsen (in römischer Zeit Mons Feretrius) hatte im 18.Jh. einen berühmten Gefangenen: von 1791 bis zu seinem Tode am 26.August 1795 war der Alchimist, Arzt, Freimaurer und Hochstapler Giuseppe Balsamo hier eingekerkert, besser bekannt unter dem von ihm selbst erfundenen Namen Graf Cagliostro. Im von der Hoteliersfamilie erstellten und im Hotel bereit liegenden Informationsblatt hieß es, dass Cagliostros Elixiere den Damen ewige Jugend versprachen, dass seine Geisterbeschwörungen ihn überall bekannt gemacht hatten und dass seine Gestalt auch Inspiration für literarische Figuren war: in Schillers „Geisterseher“ und  in Goethes „Groß-Cophta“. (Goethe hat sich intensiv mit dem Hochstapler Cagliostro auseinandergesetzt und Prozessschriften en détail studiert, sich außerdem bei dessen Familie in Sizilien unter falschem Namen als Vertrauter ausgegeben).

„Ihr glaubtet, in eine finstere Burg einzutreten und hattet Euch schon auf eine furchterregende Schau vorbereitet, als Ihr plötzlich gewahr werdet, von einer heiteren und stillen Atmosphäre voll Frieden und Freude umgeben zu sein“, schreibt die Mutter unter Fotoerinnerungen an San Leo. Und die Tochter regte das San Leo-Erlebnis zu einer Sandnachbildung am Strand an.