Tag 2 im Dezember

lässt mich zurückblicken auf die Retraite in Ralligen:

Gegen sieben Uhr früh ist alles in Rosa getunkt und staune ich darüber schon am ersten Morgen, so werden mir die Himmel am nächsten Tag zeigen, dass sie es noch besser können. Eine zunehmende Herbsthelligkeit legt sich aufs noch ruhende Wasser, später trötet dunkel ein Kursschiff, ich schaue, ja dort gegenüber ist es, gleich landet es an in Spiez. Ich kenne die Reise über den See, schon mehrfach habe ich sie gemacht, im Kanal in Thun ging sie los und endete in Interlaken erneut in einem Kanal, dazwischen die Stationen an den Seeufern, links und rechts und wieder links – Hilterfingen, Oberhofen, Gunten, Spiez, Faulensee, Merligen, Beatenbucht, Beatushöhlen, Neuhaus –  und geradeaus im Gegenlicht der Morgenblick auf die Schneegipfel dreier Majestäten: Mönch, Eiger, Jungfrau. Jetzt aber habe ich anderes zu schauen, so Vieles, dass ich Wochen beschäftigt wäre. Die Frische des Morgens ist inzwischen einer Herbstmilde gewichen, Mücken tanzen um die Winterlinde, die Spreu des Herbstlaubs bedeckt das Sechseck der Bank und den gepflasterten Boden, im Gutsgelände steige ich entlang eines Bachlaufs zum Bauernhof hinauf, kräftiger Stallgeruch zieht mich an, er steigert sich, als ich die Holztür weiter öffne, ja, da liegen Heuhaufen an eine einfache Wand gelehnt und kleine Emaille-Schalen der Tränken hängen darüber – aber wo sind die Kühe? Am Vorabend rief eine Glocke zum Gebet in die Kapelle unterm Dachzelt des Schlosses, sie rief mit dem Klang einer Kuhglocke. Außer mir ist niemand beim Bauernhaus, in die Stille strömt ein kristallklarer Strahl und vereint sein Wasser mit dem kühlen, das bereits einen verwitterten steinernen Trog füllt. Auf der Wiese vorm Stall beweist ein Traktor, dass hier gewirtschaftet wird, Erdschlamm und Herbstlaub haben in den Rillen seiner großen Reifen Wohnung genommen, daneben lädt eine Bank zum Weitblick ein, nah werben auf einem Mäuerchen Zierkürbisse gelbgrün um Beachtung und lassen mich an Yayoi Kusamas Motive denken. Ich folge dem Feldweg, rechts hat ein Baum noch Blattwerk bewahrt, fast golden leuchten große dünne Blätter, die von den Ästen hängen als wären sie tibetanische Gebetsfahnen. Ich ahne, dass bald wieder die Glocke rufen wird, diesmal zum Mittagsgebet, die Zeiten sind genau gehalten, gleich steige ich im Schloss die steinerne Wendeltreppe ganz nach oben, ein Handlauf aus Bambusholz hilft mir dabei, und fünfzehn Minuten später werde ich die Kapelle verlassen, auf dem Weg hinab kurz das Kaminzimmer streifen, dann mit anderen Hausgästen und den Brüdern unten im Speisesaal vor hohen Fenstern, durch die der Niesen grüßt, Herbstaromen vom Kartoffel-Kürbisgemüse aufnehmen und eine feine Säure vom Ralliger Apfelmus.

(Fortsetzung folgt)