Tag 12 im Dezember

Ich fahre fort mit dem Rückblick auf die Retraite und bringe ihn zum Abschluss :

Schon vermisse ich adventlichen Duft und den Schein bronzener Kronleuchter aus dem Schloss-Saal, die Kreativ-Gruppe, die Musik und floristisches Material der Umgebung nicht nur zu Kränzen gebunden hat, ist abgereist, kaum dass ihre Hände vom würzig-klebrigen Baumharz befreit waren. Der Saal liegt dunkel und von Residuen gereinigt, nur durch wenige Schießscharten-Fenster fällt Licht auf die Ziegelfarbe des Fliesenbodens, ein mittiger dicker Pfosten stützt wie eh und je die schwere Holzbalkendecke. Ich mache mich auf den Weg nach Merligen, streife zuerst auf dem Gutsgelände die blaue Scheinzypresse und reibe erneut ihre Nadeln zwischen den Fingern, der kräftige Geruch ist ein stärkendes Inhalat. Die Magnolie etwas weiter oben erwartet bereits den Frühling, vorsichtig wagt sie, der Sonne winzige zartflaumige Spitzen entgegenzuhalten. Ich nehme den Weg heute in umgekehrter Richtung, steige zuerst die Treppe zu „Mis Träumli“ hinauf, um zum Waldstück zu gelangen, leichter Wind mischt sich in die Schwüle. Plötzlich ein Geräusch von prasselndem Regen oder sind es Hagelkörner? Ein sanfter Schmerz schneidet die rechte Wange, ich hebe den Blick: es regnet trockene Birkenblätter als wären es Sterntaler aus dem Märchen der Brüder Grimm. Nur wenige Menschen begegnen mir, meist führen sie ihre Hunde aus. Am Châtel Claire, das nun rechts liegt, wird weiter gearbeitet, links verwehren vor einem Garagentor eine große Astgabel und fünfzehn in Reihe gelegte, runde weiße Steine die Nutzung der Fläche als Parkplatz. Ein Kegel mürbe gewordener Laub- und Baumnadelreste gesellt sich zum Ensemble, das sich mit seinen Schatten unterhält. Ich erweitere meinen Gang um den Kirchweg und blicke schließlich unter den Bögen, die die Kirche zum Vorplatz öffnen, hinüber zum Niesen, er bleibt mir treu. Nachmittags, nachdem ich Fisch im Backteig, Currykartoffeln, Möhrengemüse und zum Dessert Beerenquark gegessen habe, werde ich wieder zuschauen, wie genau um 15 Uhr die Sonne auf der Niesenspitze Platz nimmt, ich werde in meine Lektüren blicken oder aufs Wasser des Sees, das nur leise gegen die Ufermauer murmelt, und bewundern, wie sich das zarte Rosa einer Gartenmyrtenaster bemüht, sein großes Berg-Gegenüber zu grüßen. Abends wird die Komplet unterm Zelt der Dachkapelle den Tag ausklingen lassen, davor blättere ich in Bänden aus den mit Schnitzereien verzierten Holzregalen der Bibliothek, ein Herr kommt mit eigener Lektüre und nimmt im Sessel neben dem hölzernen Schreibtisch Platz – ist es derselbe, der nachmittags zwischen den Dalben des Bootstegs saß? Es gibt neue Hausgäste, Schwester M. aus kleiner Kommunität in Südfrankreich, die sich die Regel von Taizé gegeben hat, besucht Ralligen auf dem Weg nach Italien, dass sie aus Schweden stammt, erfahre ich am kommenden Morgen. Eine ganze Jugendgruppe ist angereist, der junge Student der Wirtschaftswissenschaften gehört nicht dazu, er besorgt Schwester M. noch einen Stuhl an unserem Frühstückstisch, gebürtig ist er aus Ägypten, wo seine Familie zu einer absoluten Minderheit gehört- nicht koptische, sondern protestantische Christen. Ich bezahle meinen Aufenthalt bei Bruder T. und denke an den gelben Zettel, der im frühen Tagebuch liegt und verkündet, dass die Christusträger in die Tonhalle Villingen kommen vom 19.bis 24.März 1972 mit Themen wie Überentwickelte-Unterentwickelte-Verwickelte oder Hiroshima-Himmel-Gott, Pop-Peace u. Puritaner, Traum-Trug u. Traurigkeit –  und auf dessen Rückseite die 13-Jährige ein Anschreiben entworfen hat: „Liebe Christusträger, fünf von Euch kenne ich ja nun seit der Woche in V. persönlich. Ich war jeden Abend in der Tonhalle und habe Euch sehr liebgewonnen. Ich finde, Ihr seid sehr überzeugend und sehr glaubwürdig. Ihr seid so fröhlich und doch so ernst. Das gefällt mir sehr. Dieses Geld habe ich zur Konfirmation bekommen und ich glaube, Ihr könnt es viel besser verwenden als ich. Ganz herzliche Grüße, Eure F.S.“ Der letzte Ralliger Morgen sonnt sich im Tessiner Anklang und so setze ich mich, nachdem ich meine Kajüte verlassen habe, noch eine ganze Weile zu den Palmen auf die südliche Terrasse, bevor ich reiche Spreu des Herbstlaubs vom Autodach fege und den gastlichen Ort verlasse. Mein Häuschen sehe ich nicht mehr, auf seiner Außenhaut heben sich mit erneuertem Weiß und farblich abgesetzten Initialen die Frakturbuchstaben der alten Hausspruchdichtung vom Dunkel des Holzbalkens ab: Ein fröhlich Herz, ein friedlich Haus, machen das Glück des Lebens aus!