symétrique – asymétrique

C’est symétrique – c’est asymétrique.

Es ist das Jahr 1991 und die alte Dame geht rechts am Stock und links am Arm ihrer Tochter, sie geht durch den Saal von Kunstwerk zu Kunstwerk.

Die Kunstwerke stehen in Ecken oder hängen an Wänden, der Saal ist ein Speisesaal, nicht groß, auch nicht klein, ein länglicher Saal mit weiß gedeckten Tischen.

Vor jedem Kunstwerk macht die alte Dame halt, sie richtet sich auf, sie schaut und konstatiert: c’est symétrique, c’est asymétrique.

Manchmal tritt der Kellner hinzu, sie wechseln ein paar leise Worte, die alte Dame und der Kellner, dann blickt die alte Dame wieder dem Kunstwerk ins Gesicht, nickt lächelnd und sagt: c’est symétrique. Erst wenn das letzte asymétrique gesprochen ist, nimmt die alte Dame an einem der Tische Platz, auch die Tochter setzt sich, welche Worte da fallen und ob überhaupt Worte fallen, die junge Frau hört es nicht.

Die junge Frau hört den Kellner, der vor sich hin summt, ja sogar vor sich hin singt, leise, er singt eine luftige Melodie auf den Text symétrique – asymétrique.

Vor jeder Mahlzeit wiederholt sich das Zeremoniell, die alte Dame schreitet die Reihe der Kunstwerke ab, es ist eine Ehrerbietung, ein Salutieren: symétrique – asymétrique.

Die junge Frau hört die Stimme, es ist eine noch helle, melodische Stimme, die Stimme grüßt das Antlitz des Kunstwerks und es scheint, als gäbe das  Kunstwerk sein Einverständnis, oui, antwortet es, symétrique – oui, asymétrique.

Der Speisesaal liegt am Corso Umberto und die junge Frau schreitet den Corso ab, nach jeder Mahlzeit schreitet sie ihn ab, Corso Umberto hin und Corso Umberto her, jemand schreitet an ihrer Seite, und hinter dem griechischen Theater erhebt sich der Vulkan.

Die junge Frau ist jetzt keine junge Frau mehr. Das Jahr ist das Jahr 2025.

C’est symétrique – c’est asymétrique.

https://www.jazzhaus.de/programm/2025-02-19-etta-scollo-4940.html