
Im Sommer 1978 bin ich nach dem ersten Studiensemester für einen Monat nach Rom zurückgekehrt, nachdem ich es Ende Februar 1978 hatte verlassen müssen. Die private Anfrage zu einer mehrwöchigen Nachtwache bei einer alten Dame hatte mir die Möglichkeit eröffnet, wieder in „meiner“ casa zu sein, auch wenn die gestrenge Leiterin des Hauses mit dieser Lösung zunächst nicht einverstanden war. So hatte ich auch nicht eines der den Haustöchtern zustehenden Zimmer, sondern war – immerhin allein – in einem Mehrbettjugendraum im Souterrain untergebracht für die wenigen Schlafstunden, denn tagsüber wollte ich unbedingt meine Streifzüge durch Rom fortsetzen, ebenfalls allein. Spärliche Notizen sind von diesen Gängen erhalten, meist habe ich aus Rom seitenlange Briefe geschrieben, an Freundinnen, vor allem aber an die Eltern. Die Briefe waren eigentlich lange Notate dessen, was ich bei meinen römischen Erkundungen gesehen und mir im Sehen, Erleben und Nachlesen angeeignet hatte (diese brieflichen Aufzeichnungen existieren nicht mehr).
In einem spiralgehefteten quaderno, das ich im Sommer 1978 in Rom gekauft haben muss, denn die erste Seite weist es als italienisch aus (Feld für nome/materia/classe/scuola und Feld für Stundenplaneintragungen lunedi/martedi/mercoledi/giovedi/venerdi/sabato), finden sich am 2.August 1978 folgende Eintragungen:
Chiesa del Gesù
Obwohl mir ja eigentlich die Art des Barock nicht zusagt, so scheint es mir nun doch, als wollte man mit all dieser Pracht an Malerei, Skulptur, Architektur, Dekoration, mit all dieser Fülle an Bewegung und Farbe die Macht und die Freude des Ganz-Anderen, der Vollkommenheit, der Göttlichkeit ausdrücken, die die Menschen ergreift.
Gedenkstätte für Aldo Moro in der Via Caetani in der Nähe des Kapitols
Seltsam dieser Ausdruck einer fast heidnischen Anbetung, fast Vergöttlichung, ganz auf dem Gefühl beruhend, für ein Opfer der verkörperten Gewalt, die für menschliche Empfindungen und Gefühle keinen Raum mehr lässt.
Santa Sabina
Diese Einfachheit – welch ein Gegensatz zur barocken Überlast! Sie und die absolute Stille erheben das Herz, so dass es hineingenommen wird in die Hoheit Gottes, welche sich dem Einfachen zuwendet.
(Die 47 Jahre alte Postkarte zeigt eine ungewöhnliche Darstellung der Kreuzigung Christi auf der aus dem 5. Jahrhundert (!) stammenden Holztür der Basilica di Santa Sabina all‘ Aventino. Die Zypressenholztür war für das Hauptportal extra entworfen worden, ihre Reliefbilder zählen zu den bedeutendsten Kostbarkeiten abendländischer Kunst. Die Tafel der Kreuzigungsszene gilt als älteste Darstellung des gekreuzigten Christus, wobei das Kreuz an sich gar nicht dargestellt ist, sondern ein aufrecht stehender Christus in Orantenhaltung mit ausgebreiteten Armen und weit offenen Augen, die Hände von Nägeln durchbohrt, daneben die beiden mit ihm gekreuzigten Schächer)
(Aldo Moro, italienischer Ministerpräsident von 1963 bis 1968 und von 1974 bis 1976, ansonsten mehrfach Minister, wurde am 16.März 1978 auf dem Weg ins Parlament von den Brigate Rosse entführt, dabei wurden seine fünf Leibwächter ermordet. Aus der Geiselhaft schrieb er mehr als 80 Briefe an Parteifreunde, an seine Familie und an Papst Paul VI., welcher sich vergeblich als Geisel im Austausch für den befreundeten Moro anbot. Ein Teil dieser Korrespondenz sowie Texte der Entführer wurden in Auszügen im Corriere della Sera abgedruckt. Am 9.Mai 1978 wurde Moro tot in der Via Michelangelo Caetani im Kofferraum eines roten Renault 4 aufgefunden, durch acht Schüsse ermordet)
