
Nein, ich kann sie nicht zählen, die Blätter der Winterlinde, die in der Sommermorgensonne die Bank an der Bushaltestelle beschatten. Später zieht die Sonne sich doch noch einmal einen Schleier über den strahlenden Kopf, wahrscheinlich haben deswegen die blauen Gitterstühle der Raucherecke im Hof noch keine Gäste. Hellgraue Steppnähte lassen die schwarzen Ledersofas gekachelt erscheinen und mir gegenüber muss eine flotte Mittfünfzigerin ein Schlüsselproblem lösen, das Smartphone hebt sie dafür ans rechte Ohr unter die graumelierte überschulterlange Mähne und bemüht sich, leise hinein zu beschwichtigen: „Den findest du wieder, der ist nicht weg, den hast du nur verlegt, kann passieren in der Hektik, du weißt ja jetzt, dass du einen bekommst.“ Dass ihr Telefongegenüber einen Schlüssel erhält, hat sie mit einer Marlene geklärt, die sie wachgeklingelt hat, weswegen anzunehmen ist, dass es sich bei Marlene um ihre noch jugendliche Tochter handelt, die genau instruiert wurde, wo die Rettung zu finden ist, nämlich in einer Seitentasche der rosa Jacke: “Wenn du den Reißverschluss der rechten Seitentasche öffnest, da ist der Schlüssel.“ Ein Martinshorn tönt durch die geöffneten Fenster, durch die jetzt die Sommersonne scheint, entfernt sich der Einsatzwagen oder kommt er näher? Die Mittfünfzigerin wird aufgerufen und läuft raschen Schritts zum Behandlungszimmer, die weiten Hosenbeine ihrer blauen Culotte-Jeans schwingen über beigen Sneakern aus Segeltuch, die zur Farbe des Blousons stimmen, mit den Füßen hat sie jedenfalls kein Malheur.
Blütenfotos im quadratischen Großformat sollen das Warten versüßen, das aber hoffentlich nicht alle Jahreszeiten durchläuft, die die Blüten verkörpern, Schneeglöckchen-, Gänseblümchen-, Klatschmohn- und Dahlien-Portraits hängen zwischen den Türen. Ich schaue weg von den Blüten und hinein in meine Lektüre, Harald Martensteins Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land, und bin doch sehr erfreut, dass mich gleich der zweite Text ins Glück entführt, nach Osnabrück nämlich, wo die zufriedensten Deutschen leben, und dann erfährt mein Erfreutsein noch eine Steigerung, denn auf Platz 2 und damit direkt nach Osnabrück rangiert das Gebiet rund um Villingen-Schwenningen und somit genau die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, und Stuttgart, die Jugendheimat meiner Mutter, liegt mit Platz 5 weit vor München.
„Osnabrück ist hübsch“ schreibt Martenstein und das kann ich bestätigen, denn vor nicht allzu langer Zeit habe ich es samt dem Fluss Hase endlich kennengelernt, bin durch die Altstadt gelaufen, habe zwar nicht den Dom, wohl aber die St.Marien-Kirche am Markt besucht und dort „Schöne deutsche Literatur in schöner arabischer Schrift“ angeschaut und später in einer Buchhandlung ein Belegexemplar der kalligraphischen Kunst von Iyad Shraim erstanden, eine Doppelkarte mit dem in Schwarz und Ocker gemalten Text „Fühlst du nicht an meinen Liedern, dass ich eins und doppelt bin“ aus Goethes Gingko biloba-Gedicht von 1815. Neben St.Marien fanden meine Begleiterin und ich auch ein heimeliges Café, das zum Osnabrück-Glück stärkenden Kuchen und wärmende Getränke bereit hielt, so dass wir den Regenschirmen, die den Altstadt-Gang beschützten, eine Pause gönnen konnten.
Das graue Nass war uns aber auch sonst nicht auf den Kopf gefallen, denn die Osnabrück-Begegnung galt nicht nur der Friedensstadt, sondern auch dem am 15.Dezember 1928 in Wien geborenen und am 19.Februar 2000 in Queensland verstorbenen Friedensreich Hundertwasser, dem das von Daniel Libeskind entworfene Felix- Nussbaum-Museum die noch bis zum 31.August 2025 zu sehende Familienausstellung „Paradiese kann man nur selber machen“ gewidmet hat.
In der Ausstellung, die den Aspekt des Öffnens an den Anfang setzt, badeten wir bei den rund 90 Werken nicht nur in Farben aller Art, sondern auch in Hundertwassers Ideen und Appellen zu bewusstem, schützendem Umgang mit der Natur, zur Aktivierung schöpferischer Fähigkeiten, für eine menschengerechtere Architektur. Einen Friedensvertrag mit der Natur hat er entworfen, als Architekturdoktor eine Therapie für die kranken Bauten der Nachkriegszeit erfunden und Regentage fand er so schön, dass er nicht nur das Schiff, auf dem er zehn Jahre lebte und malte, auf den Namen Regentag taufte, wie wir in Peter Schamonis Film von 1972 sehen konnten, sondern auch einen Regentag seinen Vornamen hinzufügte und somit wurde er: Friedensreich Regentag Dunkelbunt Hundertwasser. Sein persönliches Paradies fand der als Friedrich Stowasser Geborene in Neuseeland, wo er mitten in der Natur an einem verträumten Fluss ein Haus baute, die Wälder durchstreifte, seine Bilder entstehen und die Gedanken fliegen ließ, wie der Flyer, der jüngere Museumsbesucher zur Ausstellungsrallye einlädt, erklärt.
Jetzt höre ich aber plötzlich einen Namen, meinen Namen, klappe daher Osnabrück-Glück und Martenstein zu, verstaue das Buch im Rucksack und gehe langsam und unrund zum Behandlungsraum. Wo ich dann doch noch weitere Untersuchungen und das erhalte, was sich vornehm Fußentlastungsorthese nennt, ich aber bezeichne es als Elefantenfuß. Und da habe ich doch wieder geöffnetes Glück, denn bekanntermaßen sind Elefanten meine Lieblingstiere. Und der Tag ist ein Sommersonnentag.
(Harald Martenstein: Romantische Nächte im Zoo. Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land. aufbau taschenbuch 3.Aufl.2018)
(Peter Schamoni: Hundertwassers Regentag. Dokumentarfilm von 1972)
