Ich habe nicht gezählt, wie oft ich schon vor Michelangelos berühmter Pietà gestanden bin, in der ersten rechten Seitenkapelle des Petersdomes, der Cappella della Pietà. Seit einem Hammeranschlag auf das Werk am 21.Mai 1972 (mit regelrecht medizinischen Diagnosen der Verletzungen und geglückter restaurierender Therapie) hat sich eine Panzerglasscheibe zwischen die Betrachtenden und das aus einem einzigen Marmorblock geschlagene Werk geschoben. Der Anblick bleibt dennoch überwältigend.
Michelangelo ist jung, als ihm diese Vollkommenheit gelingt, ein französischer Kardinal hatte den 25-Jährigen beauftragt, als Schmuck für sein Grabmal „innerhalb eines Jahres eine lebensgroße Statue zu schaffen, die schöner ist als alle bisherigen Kunstwerke aus Marmor“. Zwei Jahre, von 1498 bis 1500, arbeitet Michelangelo an der Pietà, während seines ersten Rom-Aufenthaltes. Der Kardinal von Saint-Denis, Jean de Villiers de la Grolaye, Gesandter Karls VIII. beim Papst Alexander VI., stirbt 1499, die 1500 vollendete Pietà kommt in die Kapelle Madonna della Febbre und nach deren Abriss 1749 in den Petersdom.
Könnte ich gerade dort stehen und mich in jedes Detail der Pietà versenken! (Obwohl, jetzt gerade zu den Osterfeiertagen, dazu noch im Heiligen Jahr, ist sie bestimmt zu sehr umlagert). Ich begnüge mich mit dem Abbild, das ich habe, und mit Beschreibungen in verschiedenen Büchern. Wie der fast nackte Leichnam des Sohnes in den Schoß der vollständig bekleideten Mutter gegossen ist! Wie ihre rechte Hand ihn hält, die linke aber sich einverstanden erklärt mit dem Geschehen! Wie der tote Körper geborgen erscheint im Mutterschoß und mit dem rechten Fuß und der rechten Hand Kontakt hält zu den Gewandfalten! Wie lebensecht überhaupt die Füße, die Knöchel, die Knie, die Hände, die Adern sind! Und wie jung sie ist, diese Maria, mit ihrem befriedeten Gesicht, fast jünger als ihr Sohn, sie könnte eine Schwester sein!
Ascanio Condivi (1525-1574, italienischer Maler und Autor, Schüler, Mitarbeiter und Biograph Michelangelos) schreibt: „Diese Madonna sitzt auf dem Stein, wo das Kreuz aufgerichtet war, mit dem toten Sohn auf dem Schoß, und ist von solch großer und seltener Schönheit, dass keiner sie ansehen kann, der im Herzen nicht von Mitleid bewegt würde. Ein Bildwerk, das jenes Menschentums wahrhaftig würdig ist, wie es dem Sohne Gottes und einer solchen Mutter zukommt, wennschon es etliche gibt, die an dieser Mutter rügen, sie sei im Vergleich mit dem Sohne zu jung. Darüber sprach ich eines Tages mit Michelangelo…“
Neulich wies die Nun-Wieder-Italienisch-Lehrerin auf eine weniger bekannte Pietà von Michelangelo hin, ein unvollendet gebliebenes Spätwerk, das Michelangelo für sein eigenes Grab vorgesehen hatte und an dem er sporadisch etwa ein Jahrzehnt lang ab 1554 bis zu seinem Tod arbeitete, die im Castello Sforzesco in Mailand ausgestellte und fast modern aussehende Pietà Rondanini. Schaut man Bilder im Internet, wirkt es, als würde bei den beiden aufrechten Gestalten Maria aus dem vom Kreuz genommenen Christus emporwachsen, ja, als würde er, der Sohn, die Mutter tragen.
(Michelangelo – Lebensberichte, Briefe, Gedichte; herausgegeben und übersetzt von H.Hinderberger, Manesse-Verlag 1947; in einem Basler Antiquariat erworben im Mai 2016)
