Schreibschule Sent

Neben dem Unterwegssein mit Goethe und seinen Reisegefährten gab es auch ad hoc Schreibaufgaben mit bestimmten Vorgaben, hier eine leicht überarbeitete und ergänzte:

Mein liebes Annakind,

ich freu‘ mich so, dass Du den Wettbewerb gewonnen hast, auch wenn es nicht wichtig ist, Wettbewerbe zu gewinnen, wichtiger ist, gut zeichnen zu können, und das kannst Du, das weiß ich seit Langem! Wie schön aber – oder Du sagst vielleicht, wie cool – dass Dein Können Dir jetzt die Möglichkeit eröffnet hat, ein neues Land kennenzulernen, das so ganz anders ist als das, in dem Du zuhause bist. Du wirst staunen! Und ich wette, Du nimmst Deinen Skizzenblock mit und hältst viel von dem Neuen fest, das Du sehen wirst: Die hohen Berge, die sich zum Himmel strecken – manchmal wirken sie wie große Herrscher, so majestätisch, manchmal sind sie aber auch bedrohlich, so wie Monster vielleicht. Dann die wahnsinnig grünen Wiesen, die über die ganze Landschaft gebreitet sind wie weiche Decken oder wie die Grasmattenfliese einer Spielzeugeisenbahnlandschaft. Ach genau, Eisenbahnen! Du wirst viele Bahnen sehen, manchmal schlängeln sie sich wie rote Würmer durch das Grün der Wiesen, manchmal kraxeln sie die Berge hinauf, das schaffen sie, obwohl es steil ist. Auf die Berge kommst Du aber auch mit Seilbahnen, zwischen hohen Pfosten sind starke Seile gespannt und daran schaukeln die Gondeln, in denen Du sitzen oder stehen kannst, bis Du auf dem Berg bist oder wieder von ihm herab. Gut ist, dass die Gondeln geschlossen sind, dann wird einem nicht so schwindlig, wenn sie über einen Abgrund schaukeln, und man kann beruhigt den Ausblick genießen und die großen Bäume betrachten, zu denen man aber nicht hinauf-, sondern hinunterschauen muss. Manchmal sieht man dann auch Kühe, die sich auf dem steilen Hang verteilen, als hätte man sie da hinein gesteckt, sie haben Glocken um den Hals gebunden, die tönen bis in die Gondel herauf, und sie fressen das grüne Gras und die duftenden Bergkräuter. Kannst Du Dir vorstellen, wie gut dann die Milch schmeckt und der Käse, der aus dieser Milch gemacht wird, also schon ein bisschen anders als Euer Gouda –  na, Du wirst es ja bald selbst probieren können und vielleicht zeichnest Du dann auch so eine Kuh mit Glocke oder gleich eine ganze Herde und den großen, runden Käselaib dazu! Ach, ich könnte Dir noch viel schreiben von dem, was Dich hier erwartet (zum Beispiel die Wasserfälle!), aber das Land soll Dich doch auch noch überraschen! Ich freu‘ mich schon drauf, es mit Dir zusammen mit Deinen Augen neu zu sehen, das wird bestimmt ganz fantastisch (oder sagst Du vielleicht, es wird mega?) ! Es wird megamega, liebes Annakind, bis ganz bald,

Deine …..

Erntedankfest

Das Herrnhuter Losungsbüchlein bedenkt die mit dem Erntedankfest beginnende Woche mit dem Vers 15 aus Psalm 145, der ein Lobgesang von David ist.

Ich zitiere aus diesem Psalm die Verse 14 bis 19 nach der Elberfelder Übersetzung:

Der HERR stützt alle Fallenden, er richtet auf alle Niedergebeugten. Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit. Du tust deine Hand auf und sättigst alles Lebendige nach Wohlgefallen. Der HERR ist gerecht in allen seinen Wegen und getreu in allen seinen Werken. Nahe ist der HERR allen, die ihn anrufen, allen, die ihn in Wahrheit anrufen. Er erfüllt das Verlangen derer, die ihn fürchten. Ihr Schreien hört er, und er hilft ihnen.

Senter Texturen 2

Um den Dorfbrunnen scharen sich Marktstände und bieten ein Destillat der Senter Essenz. Brotlaiber duften nach Anis, Nußtörtchen schlummern in Folien, Kürbisse schwelgen in Formen und Farben, Holz fügt sich zu Engeln und Ziegen, Thymian funkelt als dunkler Sirup, Kühe sind im Käse präsent und das Allegra tönt aus vielen Mündern.

Am Abend tönen die Glocken und es ist, als gehörten sie nicht nur San Lurench, sondern jedem Gipfel ringsum, sie werfen ihre Stimmen von Höhe zu Höhe und ich verstehe, warum das Rumantsch viele Worte weiß für Glocken.

Senter Texturen

Das Haus gegenüber ist kein Haus, sondern eine hohe Scheune. Die Lamellen der ins Mauerwerk eingepassten Holzverschalung lassen ein Herbstlicht durch, die Scheune ist leer. Spatzen fliegen die Dachrinne an, auf schmalem Streifen Erde reckt sich eine Vogelbeere und lässt ihre Früchte locken. Die Blätter der Laubbäume kondensieren das Mittagslicht zu Herbstfarben, die Lärchen aber sind noch grün. Blüten schummeln sich zwischen Pflastersteine oder zieren Fenstersimse. Auf Hauswänden stehen Psalmverse und beim Volg lernt man ein paar Worte Vallader. Dann geht der Mond auf, mit seltener Helligkeit wandert er über den Waldkamm des Berges, dessen Namen ich nicht kenne.

Litanie degli alberi

Das Lied der 1983 in Pieve di Cadore geborenen Erica Boschiero haben wir heute mit der Nun-wieder-Italienisch-Lehrerin gesungen und darüber nachgedacht, was die verschiedenen in Form des „prega per noi“ angerufenen Baumsorten uns alles lehren können. Zuvor waren wir mit dem ragazzo della Via Gluck (Adriano Celentano 1966, Text von Miki Del Prete) unterwegs und haben die klirrende Kälte der vierten Strophe gespürt, in welcher der ehemalige Junge weder seine früheren Freunde finden kann, noch das, was er als erste Heimat in Erinnerung hat. Die Texte der canzoni liefern Gesprächsstoff und spunti di lavoro, auch für Hausaufgaben, so referierten Einige über den 1949 geborenen Publizisten und Soziologen Carlo Petrini (Sohn eines Eisenbahners), der die internationale Slow Food Bewegung gründete. Den Auslöser zur Gründung gab 1986 die Eröffnung einer McDonalds-Filiale an der Piazza Navona in Rom, Petrini organisierte als Protest ein öffentliches Spaghetti-Essen an der Spanischen Treppe. Am 9.Dezember 1989 erfolgte dann in Paris die eigentliche Gründung der Bewegung. Außerdem initiierte Petrini in Turin den Salone del Gusto und im Castello di Pollenzo in Zusammenarbeit mit den Regionen Piemont und Emilia-Romagna die Università di Scienze Gastronomiche, die Studiengänge konzentrieren sich ausschließlich auf den Bereich Lebensmittel und Wein, wobei die Privatuniversität als internationales Bildungs- und Forschungszentrum für nachhaltige Landwirtschaft und biokulturelle Vielfalt fungieren soll mit Entwicklung eines interdisziplinären Ansatzes (Lebensmittelwissenschaft u. -technologie, Sozial-, Bio- , Human- und Agrarwissenschaften). In Turin fand zudem die erste Konferenz des Bauernnetzwerks Terra Madre (Welttreffen von fast 5000 Bauern unter Schirmherrschaft von Prinz Charles) statt, Veröffentlichung zu Terra Madre 2009 von Carlo Petrini: Terra Madre. Come non farci mangiare dal cibo. Oder 2010 auf englisch: Terra Madre. Forging a New Global Network of Sustainable Food Communities. Eines Tages erhielt Carlo Petrini einen Telefonanruf von Papst Franziskus, den er zunächst als Scherzanruf eines Freundes deutete, schließlich erzählte der nicht kirchengewogene Petrini dem Papst ein Erlebnis seiner Großmutter beim Beichten, das sie als beherzte und schlagfertige Frau kennzeichnete – diese Geschichte gab den Anstoß zu weiteren Anrufen und Gesprächen und der Entwicklung einer Freundschaft zwischen Papst Franziskus und Petrini. Die Gespräche mit Papst Franziskus über Ökologie, Migration und soziale Gerechtigkeit (Terrafutura) sind 2021 im Rotpunktverlag Zürich auf Deutsch erschienen.

(Der Nun-wieder-Italienisch-Lehrerin habe ich übrigens das von mir im Mai 2022 erworbene Buch von Eric Pfeil gezeigt und empfohlen, das sie noch nicht kannte: „Azzurro. Mit 100 Songs durch Italien“ , sie hat es sich umgehend auch zugelegt. Über Il ragazzo della Via Gluck wird unter der Nummer 71 erzählt und für Eric Pfeil ist es „schlicht das schönste Lied der Welt“. Verlag Kiepenheuer &Witsch, Köln 2022)

(Litanie degli alberi kann man von der sich selbst auf der Gitarre begleitenden Erica Boschiero anhören und anschauen auf Youtube oder als Instagram Reel)

Die Shaker – Weltenbauer und Gestalter

Eine bessere Welt, ja einen „Himmel auf Erden“ wollten sie schaffen, die Mitglieder der im 18.Jahrhundert in den USA gegründeten freikirchlichen Gemeinschaft der Shaker, die an ein nahes zweites Kommen Jesu glaubten und zölibatär lebten. Das Vitra Design Museum hat ihnen, ihrer von funktionaler Schönheit geprägten Architektur, den Möbeln und Gebrauchsgegenständen eine Ausstellung gewidmet, die am vergangenen Wochenende zu Ende ging. Obwohl es inzwischen kaum noch Shaker gibt, haben ihre Ideen die Jahrhunderte überdauert und inspirieren auch heute noch kreativ Tätige.

Ihren Glauben drückten die Shaker unmittelbar in Arbeit, Handwerk und Design aus, die von dessen Werten durchdrungen waren, für die Gemeinschaft waren soziale Gleichheit, Gemeinbesitz und Pazifismus zentral. Trotz der Grenzen, die die Shaker – auch durch kennzeichnende innere und äußere Ordnungen – zur säkularen Welt zogen, blieben sie offen für Veränderungen, auch technologischer Art. Sowohl durch Handel wie durch Publikationen hielten sie den Kontakt zur Welt außerhalb der Gemeinschaft. Bekannt sind ihre schlichten Möbel, deren Ästhetik der praktischen Erfordernis ihres spirituellen und gemeinschaftlichen (nach Geschlechtern getrennten) Lebens entsprang, die Gegenstände sollten funktional, einfach, lange haltbar und der Gemeinschaft dienlich sein. Individuelle Fertigkeiten wurden in die Gemeinschaft eingebracht, dort aufgetauchte Alltagsprobleme führten zu „Erfindungen“ wie zum Beispiel dem Kippmechanismus an Stühlen. Im Versammlungshaus, dem Zentrum jedes Shaker-Dorfes, kamen die Mitglieder zusammen und brachten ihren Glauben auch durch Musik, Gesang und Tanz zum Ausdruck, in den Tänzen liegt auch der Ursprung der zunächst abwertenden Bezeichnung der Gemeinschaft „Shaking Quakers“. Anfänglich waren die Tänze wohl ekstatisch und arrhythmisch, später wurden durch Father Joseph Meacham individuelle Bewegungen zu einem linearen Tanz geformt, so dass sich die Brüder und Schwestern nach Geschlechtern getrennt nun in einheitlichen Linien und Kreisen bewegten (verschiedene Abbildungen in der Ausstellung und der aktuelle Film einer zeitgenössischen Auseinandersetzung des amerikanischen Choreografen Reggie Wilson und seiner Performance-Group mit der spirituellen Kraft des Shaker-Tanzes: „Power-Every Movement is Sacred“). Ein einzigartiges Notationssystem und mindestens 10000 eigene Lieder gehören zum musikalischen Erbe der Shaker, eines davon wurde bei der Amtseinführung von Barack Obama gespielt: „Simple Gifts“. Da die Shaker autark sein wollten, gab es in ihren Dörfern auch gut ausgestattete medizinische Einrichtungen mit selbst hergestellten Medikamenten (oft aus Kräutern) und Instrumenten, überstieg aber ein Leiden die Möglichkeiten, wurden Ärzte von außen beigezogen. Da alle Mitglieder – auch Alte, Gebrechliche und Beeinträchtigte- aktiv am Leben der Gemeinschaft teilnehmen sollten, suchte man mit pragmatischem Fürsorgeansatz Lösungen für hindernde Probleme und entwickelte Rollstühle, Gehhilfen und orthopädische Schuhe, eindrucksvolle Beispiele fanden sich in der Ausstellung, neben den Möbeln, landwirtschaftlichen Geräten, Saatgutkisten, Nähmaschinen, Handschuhformen, Musikinstrumenten, Werbeplakaten für Medikamente (z.B. ein aus Früchten hergestelltes Laxans) etc. Wiegen wurden nicht nur für Kinder angefertigt (die Shaker zogen Kinder von neuen Mitgliedern, Waisen und Findelkinder auf), sondern auch für Erwachsene, wo sie in der Pflege von Alten und Kranken durch das Schaukeln Wundliegen verhindern und in letzten Lebenstagen Linderung verschaffen sollten.

Die Gründerin, Mother Ann Lee, soll ihren AnhängerInnen gesagt haben: „Tut all eure Arbeit so, als hättet ihr noch tausend Jahre zu leben – und so, als wüsstet ihr, dass ihr morgen sterben könntet.“

Michaelistag oder Tag der Erzengel

Auch das Herrnhuter Losungsbüchlein weist diesen Tag als einen besonderen aus, als Michaelistag nämlich und er erhält einen Extra-Vers aus dem Psalm 34: „Der Engel des HERRN lagert sich um die her, die ihn fürchten und hilft ihnen heraus“ (Vers 8; in der Elberfelder Übersetzung heißt es „…und er befreit sie“). Der Tag gilt aber auch allgemein als Tag der Erzengel (also vorrangige, oberste oder erste Engel/Boten), zu denen neben Michael u.a. auch Gabriel und Rafael gehören. Rafael, dessen Name bedeutet „Gott heilt“, spielt im Buch Tobit eine Rolle, das sich in meinen Bibelausgaben in der Neuen Jerusalemer Bibel (Einheitsübersetzung mit Kommentar der Jerusalemer Bibel) findet, die ich mir einmal gewünscht und von der Mutter 1987 geschenkt bekommen hatte, in einer Luther-Ausgabe (revidierter Text 1984) ist es mit Textabweichungen unter dem Namen Buch Tobias in der Abteilung Apokryphen enthalten. Die Einleitung zum Buch Tobit in der Neuen Jerusalemer Bibel erklärt das Buch zu einer Familiengeschichte und resumiert den Inhalt u.a. so: „Tobit und Sara, beide flehen zu Gott, ihrem Leben ein Ende zu machen. Aus diesem zweifachen Unglück und auf das Gebet beider hin lässt Gott große Freude entstehen: Er sendet seinen Engel Rafael, der Tobias, den Sohn Tobits, zu Raguël geleitet, ihn Sara heiraten lässt und ihm das Heilmittel gibt, das den Blinden heilen soll….Der Engel Rafael enthüllt und verbirgt zugleich das Wirken Gottes, dessen Werkzeug er ist. ….Einen Gott, der alles zum Guten lenkt, sich nahe wissen, dazu lädt das Buch ein.“ (Das Buch Tobit wurde wahrscheinlich um 200 v.Chr. auf aramäisch geschrieben, es ist eine Erzählung mit fiktiven Elementen; das 10.Kapitel ist in der neuen Jerusalemer Übersetzung mit „Die Augen“ überschrieben).

Der Erzengel Rafael gilt als Patron der Reisenden, der Pilger, Auswanderer, Seeleute. Und auch der Dachdecker, Bergleute, Blinden, Kranken und Apotheker.

Als ich mir in einem Alter, in dem man keineswegs mehr mit Puppen spielt, die Jungen-Puppe gewünscht habe (nämlich mit 17 Jahren), wusste ich sofort und ohne jeden Zweifel, wie sie heißen sollte: Rafael. Natürlich habe auch ich nicht mit der Puppe gespielt (das haben dann Nachkömmlinge mehrerer Generationen ab und an gemacht), ich habe den Jungen nur betrachtet und einen solchen Nachkommen über viele Jahre hinweg immer auch wieder imaginiert – nicht das Blonde und Blauäugige, sondern das, was das ruhige Gesicht mit den großen, weit geöffneten Augen für mich ausdrückte. Auch wenn andere Figuren des Alten Testamentes Namensgeber wurden, ich mag ihn noch immer, den des Erzengels: Rafael.

(Neue Jerusalemer Bibel, Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Herder-V. Freiburg, Basel, Wien 1985)

(Eliot Weinberger: Engel & Heilige. Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender. Berenberg-Verlag, Berlin 2023; NB: am 25.Sept. meldet boersenblatt.net, dass der Berenberg-Verlag voraussichtlich zum 31.03.2026 nach 22 Jahren seine Geschäftstätigkeit einstellt)

Fünfzehnter Sonntag nach Trinitatis

Im Herrnhuter Losungsbüchlein ist heute der Psalm 46 – ein Lied – für die Bibellese angegeben. Ich zitiere die Verse 2 bis 6 nach der Elberfelder Übersetzung (2006):

Gott ist uns Zuflucht und Stärke, als Beistand in Nöten reichlich gefunden.

Darum fürchten wir uns nicht, wenn auch die Erde erbebt und die Berge mitten ins Meer wanken.

Mögen seine Wasser tosen und schäumen, die Berge erbeben durch sein Aufbäumen!

Des Stromes Läufe erfreuen die Stadt Gottes, die heiligste der Wohnungen des Höchsten.

Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken; Gott wird ihr helfen früh am Morgen.