Herbstfreuden 4 oder Spaziergang 6

Lange schon bin ich nicht mehr hinaufgestiegen nach St.Ottilien. Das hatte Gründe, der Fuß wollte nicht gerne unebenes Gelände betreten. Jetzt aber mag er wieder und nach dem Sturmtag erinnert der Himmel sich seiner Durchlässigkeit, gewährt weißgebleichten Wolken ein blaue Leinwand und mir die Freude, ihm entgegen zu gehen. In der Röhrigasse gibt es eine neue Quadermauer, noch sind die hellen Steine jungfräulich, nur ganz am Rand schaffen es dornige Ranken schon mit einer grünen Umgarnung. Dorngebüschbeeren, althochdeutsch bramberi, Brombeeren also halten ungestüm ihr Rot, das nicht mehr reifen will, in die Höhe, während die Hagebutten das ihre zwischen ein Braun der Zweige betten, die der Herbststurm zu Boden gerissen hat. Überhaupt hat der Herbst den Hügel fest im Griff, wo man auch hinschaut, bedecken Variationen des Herbstlaubs den Boden, während die Obstbäume noch etwas erstaunt ihre kahlen Äste ausstrecken. Gemächlich steige ich hügelan, rechts stecken zwei Gießkannen aus Zink ihre Tüllen wie Rüssel in den Blatteppich, der sich neben altem Mauerwerk einer Gartenlaube ausbreitet. Ich habe die Treppe hinauf zum Kirchenvorplatz erreicht, das undurchdringliche Buschwerk zu beiden Seiten bildet noch einen grünen Tunnel, ab und an illuminiert die Herbstsonne einzelne Blätter, die ob der geschenkten Aufmerksamkeit gleich frühlingshaft strahlen. Und wieder sehe ich eine Neuerung, an der roten Sandsteinmauer hat man eine bronzene Raute befestigt, wohl ein aufmunternder Rahmen für Langzeitwanderer: Westweg – Ziel in Sicht, Durchblicke erlauben auch die Buchstaben. Auf der Kirchenwand gegenüber schreibt sich mit sicheren Konturen der große Lindenbaum ein, viele seiner Blätter hat er noch nicht hergegeben, er möchte ihr goldenes Leuchten noch ein wenig an sich tragen.

Mir hänn jetzt zwei Vaterunser gbettet, eins für uns und eins für Sie, sagt der ältere Mann, als er mit seiner Begleiterin aus der Kirchentür auf den Kies des Vorplatzes tritt, die Beiden hatten mich auf der Treppe überholt, während ich pausierte und fotografierte. Das ist schön, bedanke ich mich, aber ich bete selbst auch noch eines, wenn es gestattet ist. Verdutzt hält der ältere Herr inne, er weiß nicht so recht, was er antworten soll, die Frau geht schon einmal zwei Schritte weiter, schenkt mir aber ein Lächeln, sie hatten wohl gedacht, dass ich das Kirchlein nicht betrete. Das aber tue ich und sehe, dass das Herbstlaub nicht vor der Tür geblieben ist, sondern im Innern den Gang eingenommen hat, aber auf eine Weise, als hätte ein Kind in festlichem Kleidchen vor einem Brautpaar Blüten auf den roten Teppich gestreut. Ich habe das Kircheninnere für mich alleine, niemand hat sich auf den Sitzpolstern der Stühle niedergelassen, kurz setze ich mich, dann gehe ich vor in den Altarraum, ich muss nach den drei Jungfrauen im Sakramentsschrein sehen, da sind sie ja, geschützt hinter einer Glasscheibe. Auf dem Altartisch liegt wie immer die Bibel mit der alten Frakturschrift aufgeschlagen, diesmal beim längsten Psalm, dem mit der Nummer 119, ich lese die ersten Verse der Seite, es sind die Verse 103 bis 105: „Dein Wort ist meinem Mund süßer denn Honig. Dein Wort macht mich klug; darum hasse ich alle falsche Wege. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.“ Ich traue mich, vorsichtig die Seiten zu wenden, um zu schauen, von wann die Bibelausgabe stammt, eine Lutherbibel ist es, Stereotyp-Ausgabe der Preußischen Haupt-Bibelgesellschaft, Berlin 1899, und Martin Luther ist abgebildet in einem Talar, breitbeinig, mächtig und mit entschlossenem Gesicht steht er da, das Bibelbuch fest in beiden Händen. Ich schlage wieder die Seite 618 auf, in früheren Zeiten hat dort jemand ganz oben etwas notiert, das sind.. und Mittag – Abend kann ich aus der verblassten Tintenschrift entziffern.

Dann verlasse ich St.Ottilien, setze aber meinen Spaziergang fort, noch ist es hell und mein Weg führt Richtung Westen. Auf der großen Wiesenfläche neben dem Obertüllinger Lindenplatz nutzen Einige die verbliebenen Böen und lassen bunte Drachen steigen, eine Eiche zu meiner Linken will sich am Spiel beteiligen und überlässt ihre gelappten Blätter dem Wind. Der Grasnarbenweg bleibt zunächst noch auf der Höhe und der Blick gleitet weit über die Rheinebene zum dunklen Blau der Vogesen am Horizont, dann beginnt der Pfad sich zu senken und ich folge ihm, vorbei an blond gewordenen Reben, die ordentlich ihre Reihen halten. Hängt da rechts am Baum eine Tierhaut? Ich trete näher, nein, jemand hat aus Totholzfindlingen eigenwillige Mobiles kreiert und im Wildwuchsdickicht platziert. Und dort leuchten Beeren in kräftigem Rot, wie kleine Spielzeugäpfel geformt, es sind die Früchte des eingriffeligen Weißdorns. Ich kehre auf den Pfad zurück, hebe aber noch einmal den Blick hinauf zu den dicken Mistelnestern, die die oberen Äste eines kahlen Baumes gekapert haben, über ihnen schwimmen die Wolken im blauen Himmelsbassin.

Nun habe ich wieder befestigtere Wege des Hügels erreicht, muss mich nach Osten wenden und begegne prompt denen, die ihre Hunde springen lassen, manchen springen die Lieblinge auch davon und werden mit Geschrei bedacht, auf das sie nicht hören, ich aber soll hören und Glauben schenken, dass die Lieblinge nichts machen, nur gerade außer Rand und Band sind, obwohl sie Arthrose haben und schon viel zu lange rennen. Hm, Bewegungsdrang, traue ich mich zu sagen und bin dann froh, dass meine Bewegung eine andere Richtung nimmt als die der Lieblinge und ihrer Besitzer. Gleich habe ich meine große Schlaufe beendet und bin wieder im Gewann Sänger angekommen, da entdecke ich links im heiteren Gelb des Reblaubs dunkle Dolden, es sind Trauben, die man für Eiswein hat hängen lassen.

Punkte, Punkte, Punkte …

die kennt man von der am 22.März 1929 in Matsumoto, Japan geborenen Yayoi Kusama, der die Fondation Beyeler eine umfassende Retrospektive auf über 70 Jahre künstlerisches Arbeiten widmet – und in Form von 1200 glänzenden, gleichförmigen Edelstahlkugeln empfangen sie mich am sturmgebeutelten Tag bereits vor Betreten des Museums. In einvernehmlicher Nachbarschaft mit den gefallenen Herbstblättern ziehen sie ihre Bahnen oder sich in eine Teichecke zurück, Narcissus Garden ist der Titel der Installation, die die nicht geladene Künstlerin erstmals dennoch 1966 auf der Biennale in Venedig präsentierte.

Spiegelungen, nicht nur die der Eitelkeit, sondern auch jene der Selbstreflexion, sind ein vielfach und überwältigend variiertes Thema von Kusama, die nach Lebensjahren in New York in ihre Heimat Japan zurückkehrte, sich dort 1977 selbst in eine psychiatrische Klinik einlieferte, in der sie seither lebt und arbeitet. Im September 2017 eröffnete sie in Tokyo ihr eigenes Museum. Halluzinationen von Punkten und Netzmustern begleiten Kusama seit ihrer Kindheit, in einer Bleistiftzeichnung der 10-Jährigen in Raum 1 überziehen die Punkte bereits das in sich gekehrte Gesicht einer jungen Frau und breiten sich in die Umgebung aus.

Ich nehme auch einen Bleistift, einen der kleinen, gut gespitzten, die neben den in Deutsch, Englisch und Französisch ausliegenden Mitmachheften für Kinder bereitliegen, dann kann ich vielleicht im Saalbooklet ein paar Anmerkungen notieren. Tatsächlich sind an diesem Donnerstagmorgen viele Kinder in der Ausstellung, eine ganze Gruppe im Kindergartenalter, munter trappeln sie durch die Räume, keine Ahnung, ob die Erzieherinnen die Kleinen von den freizügigen Performance-Videos in Raum 6 fernhalten, ich verliere die Gruppe aus den Augen und das Mitmachheft sagt dazu nichts. Eine Züricher Stiftung ermöglicht Kindern und jungen Menschen bis 25 Jahre ein Kunstvermittlungsprogramm und freien Eintritt in die Fondation.

Detailgenaue Bleistiftzeichnungen von Blättern und zarte Pastellgemälde geben in den ersten Räumen Zeugnis von Kusamas Ausbildung in traditioneller Malerei in Kyoto, bevor dann die ersten riesigen Ölgemälde der Infinity Net Paintings mit sich wie endlos dehnenden Netzmustern den ganz eigenen Weg der Künstlerin signalisieren. Ich setze mich auf eine der wenigen breiten Holzbänke, um eine Weile die weißgrauen Waben von The Pacific Ocean (1958) zu betrachten, neben mir ein noch sommerbraunes Paar, leise liest in beiger Hose und blauem Sweatpulli der junge Mann seiner Begleiterin die Saaltexte vor, auf Französisch, sie lauscht und schaut, wendet ihm ihr Gesicht zu mit der cognacfarbenen Brille, die einen der changierenden Farbtöne ihres langwelligen Haares aufnimmt, und antwortet sotto voce auf Französisch, bevor sich die Zwei erheben und weitergehen. Auch diese Beiden verliere ich aus den Augen in der zunehmenden Menge der Besucher, treffe aber in einem anderen Raum auf ein Paar aus meinem Chor.

Aus den Jahren 2021 bis 2023 stammen buntgemusterte und beschriebene Acrylgemälde mit Titeln wie The Net of Love I Aspired to in My Youth, My Wish is To Offer up This Splendor to Humankind und Every Day I Pray for Love. Extra für die Ausstellung aktuell geschaffen hat die 96-jährige Künstlerin den Infinity Mirrored Room – The Hope of the Polka Dots…(Titel noch länger), schon beim Hinabgehen in den Saal 9 winden sich die gelbschwarzen Tentakel vom jetzt gleichgemusterten Boden des doppelgeschossigen Ganges in die Höhe, bevor man im Saal von allen Seiten von ihnen umschlungen und schließlich für kurze Zeit eingeschleust wird in den eigentlichen Infinity Mirrored Room, in dem dunkle Spiegel oben, unten und von allen Seiten die leuchtende Bewegung der aufgeblasenen Tentakel ins Unendliche vervielfältigen, so dass man die Bodenhaftung verliert und in diesem Universum schwebt. Tatsächlich muss ich beim Hinausgehen erst wieder Trittsicherheit gewinnen.

Die Ausstellung ist in jeder Hinsicht überwältigend und es ist ein Glück, dass der Museums- Pass- Musées und die Nähe zur Fondation Beyeler es mir ermöglichen, noch des Öfteren in die Welt der Yayoi Kusama einzutauchen und punktgenau Einzelheiten zu studieren (zum Beispiel die eigenwilligen Selbstportraits).

(Seit dem 12.Oktober 2025 und noch bis 25.Januar 2026 in der Fondation Beyeler, CH-Riehen; danach vom 14.März bis 2.August 2026 im Museum Ludwig, Köln und vom 11.September 2026 bis 17.Januar 2027 im Stedelijk Museum, Amsterdam)

Auftakt

„Der Rhein springt in kinderglücklichem Eifer von seiner königlich hohen Wiege herab, wird bald von den tollen Knabenspielen schmutzig und unlustig vom Schleppen der vielen runden Steine, die ihm erst als geliebtes Spielzeug dienten. Der Bodensee scheint nur eben für ihn gefüllt mit hellem Wasser, in das des Himmels Bläue fällt, und der Knabe Rhein schwingt sich jauchzend in die große Wanne, denn er schämt sich plötzlich seines schmutzigen Antlitzes und lässt auch seinen Spielkram im Bade zurück. Strahlend gleitet er aus dem See, erfrischt und mit gebändigter Kraft; er will Mann sein. Nach dem tollkühnen Sprung bei Schaffhausen verliert er auch die letzte knabenhafte Wildheit. In besonnener Eile fließt er weiter und beschaut in seinem Spiegel die Ufer. Mit einem Mal möchte er seinen Gang verlangsamen; an seinen glänzenden Leib schiebt sich ein wunderschönes Gelände. Er leuchtet mit tausend Wellenaugen hinüber, es gefällt ihm so sehr, dass er mit Herrschergebärde seinen Weg nach Norden umbiegt, weil er dem schönen Gefilde möglichst lange nahe sein will. Leise braust Leidenschaft über ihn hin. Und siehe da: aus lieblichem, breitem Tal inmitten des Gartens klingt ein silbernes Lachen her, da springt ihm die Wiese entgegen, seine junge Braut. Er nimmt sie in sein leuchtendes Bett zu zweisam-verströmender, segensvoller Kameradschaft und segnet das Heimatland seiner Wiese und grüßt zu ihrem königlichen Vater hinauf, dem stolzen, dunklen Feldberg, und zum Hüter des großen Gartens hinüber, dem hohen Blauen. Der hebt sich im Osten aus den wuchtigen, hingelagerten Massen des Schwarzwaldes heraus im blauen Dunkel seiner ernsten Forste. Gleich einem tiefen, alle Harmonien in sich vollendenden Klang ruht er in dem heiteren Spiel der Landschaft.“ ….

Soweit einmal das Zitat aus der Nummer 26 der Heimatblätter „Vom Bodensee zum Main“, herausgegeben vom Landesverein Badische Heimat, erschienen 1924 im Verlag C.F.Müller, Karlsruhe. Mit dem Kapitel „Auftakt“ leitet  der badische Heimatautor und Volkskundler Hermann Eris Busse (1891-1947) seine Schrift über den Ötlinger Maler Hermann Daur (1870-1925) ein, er beendet sie mit „Ausklang“, dazwischen finden sich die Kapitel Jugendzeit, Lehr- und Wanderjahre (hierunter die Abschnitte Basel, Karlsruhe, Furtwangen; Auf der Kunstschule; Dachau, Duhnen), Meisterschüler bei Hans Thoma und Ötlingen.

Die Sprache sei halt überschwänglich und fast kitschig, sagt die umsichtige und freundliche Dame, die das kleine Museum der Dorfstube Ötlingen an der Adresse Zur Alten Schmiede 9 freiwillig betreut, als sie am Ende ihrer Erzählungen über Hermann Daur eines von zwei Exemplaren des Heimatblattes Nr.26 zum Kauf anbietet. Ich mag sowas, sage ich, und erwerbe das Heft, zumal es mir in Abbildungen und Text eine Fortsetzung und Vertiefung dessen bietet, was ich inzwischen über den Markgräfler Maler erfahren habe. Die Dame hatte sich darum gekümmert, dass in unmittelbarer Nähe des Ötlinger Malateliers von Hermann Daur und im Ambiente seiner Zeit auch die Dorfstube eine Ausstellung seines Lebens und Wirkens anlässlich seines 100.Todestages anbieten kann. Und so sieht man in Schlaf- und Arbeitsstube neben altem Mobiliar auch einige von Daurs Landschaftsgemälden, Postkartenzeichnungen und Portraits seiner aus Duhnen bei Cuxhaven stammenden Frau Margarete, die ihren Mann um 30 Jahre überlebte. Nach Lebensstationen als Witwe bei ihrem ledigen Bruder in Heidelberg und bei einer Freundin in Cuxhaven wurde sie post mortem wieder nach Ötlingen verbracht und dort auf dem Tüllinger Hügel an der Seite ihres Mannes beerdigt. Die Duhnener seien übrigens neidisch, dass Hermann Daurs Blicke auf Ötlingen (wo er 20 Jahre lebte) heute noch ziemlich unverändert nachzuschauen sind, weiß die Museumsdame zu berichten, im Gegensatz zu seinen Ansichten rund um Duhnen. Die wenigen BesucherInnen, die aber die Räume der Dorfstube gut ausfüllen, hören noch so einige Anekdoten und Begebenheiten, auch dass man einmal gemeinsam mit der jetzigen Wirtin im Gasthaus das Essen nachgekocht habe, das der Markgräfler Maler dort zu speisen beliebte.

(Dorfstube Ötlingen, Öffnungszeiten März bis Oktober sonntags 15 bis 17 Uhr, Eintritt frei, Spende willkommen; Träger Stadt Weil am Rhein, Verein zur Förderung der Dorfstube Ötlingen e.V.; Sonderöffnungen und Rahmenprogramm wie z.B. Schmieden unter www.museen-weil-am-rhein.de)

(zu Hermann Daur siehe auch Blogeintrag vom 10.Oktober 2025)

Durch das Rebland

Betriebsleiter bei den Midland Great Western Railway war der Vater des irischen Malers Stanhope Alexander Forbes (1857-1947), sein Onkel James Staats Forbes ein Eisenbahnmanager, seine Mutter eine Französin, 1880 ging Stanhope Alexander für Malstudien nach Paris, 1881 in die Bretagne, wo er in prägenden Kontakt mit der Freilichtmalerei kam. 1901 wurde Forbes als unsentimentaler Maler beschrieben, von außergewöhnlicher Klarheit und Einfachheit, von der Gegenwart des Lebens durchdrungen, mit Appell an den Freimut jedes Einzelnen.

Bei solcher Trias (Freimut, Klarheit, Einfachheit) freuen wir uns wonniglich, wenn der Büroaufsteller bei unserem Ausflug zu ihm die Kurve kriegt, die wir auf morgendlichen Wegen dorthin genommen haben, wir haben auf unserem Bike den erblondeten Hügel links liegen gelassen und sind dem Ruf des Wiesentalbachs gefolgt, der auf seinem Weg Richtung Rhein heute ein bisschen Wasser aus den Himmeln aufnimmt, in die wir gerade nicht aufsteigen können.

Achtzehnter Sonntag nach Trinitatis

Heute greife ich einmal nicht auf das Herrnhuter Losungsbüchlein zurück, sondern auf die wunderbaren Choräle aus Johann Sebastian Bachs Johannespassion, die wir (u.a.) geprobt haben mit fein angeleitetem Ohrenmerk aufs gestalterische Gelingen dessen, was die Musik an Aussage weckt und transportiert:

Wer hat dich so geschlagen, mein Heil, und dich mit Plagen so übel zugericht? Du bist ja nicht ein Sünder, wie wir und unsre Kinder, von Missetaten weißt du nicht. (In meinem Peters Klavierauszug, den ich 1985 erworben habe, als ich zum ersten Mal die Johannespassion sang, ist das N° 15)

O große Lieb‘, o Lieb‘ ohn‘ alle Maße, die dich gebracht auf diese Marterstraße, ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden, und du musst leiden. (N° 7 Peters Klavierauszug)

„Gut `eu -ren“ (wie in heure) – gut hören, sagt die junge Französin, die schwungvoll und präzise einen Teil der Probe leitet.

(Rötelskizze,1978)

Herbstfreuden 3

Es ist sieben Uhr und ein frischer Morgen. Mit schüchterner Röte deutet sich über dem Chrischona-Hügel der Tag an. Die Randen sind nicht schüchtern, selbstbewusst lassen sie ihr dunkles Rot glänzen und imprägnieren gerne damit ihre Umgebung, Schneidebrett, Messer, Hände. Die feinen Röllchen der Lauchzwiebeln geben nicht nur die Komplementärfarbe dazu, sondern ergänzen mit Schärfe den erdigen Geosmin-Geruch. Wir fügen Walnüsse hinzu, nicht nur erinnert uns ihre Form an Gehirne, sie sind auch gut für diese wichtigen Organe, als „Brainfood“ fördern sie die Datenübermittlung. Fehlt noch das Dressing: wir halten es einfach, Salz, Pfeffer, Olivenöl, roter und weißer Balsamico als Mixtur, ein Hauch Honig. Fetawürfel können sich on top einfinden, müssen aber nicht. Und nun, wohin? Es ist Chorprobenwochenende und Teilete.

(zu „Teilete“ siehe Blogeintrag vom 4.Februar 2025)
 

Besucherfahrt in den Landtag und Rückblick auf den Tag der Demokratie

Die Einladung eines Abgeordneten bringt einen durch ein Wechselspiel dichter oder duftiger Nebel mit farbengesättigter Herbstlandschaft direkt zur Konrad-Adenauer-Straße 3 in Stuttgart, wo das Baden-Württembergische Landtagsgebäude liegt, im Schlossgarten, umringt von Schauspiel, Staatsoper, Staatsgalerie, Landesbibliothek, Altem Schloss, Markthalle, Stiftskirche und Neuem Schloss (und unweit des S21-Projektes mit den Lichtaugen und den Baucontainern, auf denen in großen Lettern „Seele“ prangt). Man habe die Demokratie mitten ins herrschaftliche Herz pflanzen wollen, wird der Besuchergruppe zur Platzierung erklärt. 1959 bis 1961 erbaut, war es jedenfalls der erste Parlamentsneubau Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg, wobei der Heidelberger Architekt Horst Linde und der Stuttgarter Bauleiter Erwin Heinle auf einen Entwurf des von Mies van der Rohe inspirierten Mainzer Architekten Kurt Viertel zurückgriffen. Das Gebäude gilt als markantes Beispiel deutscher Nachkriegsarchitektur und als eines der wichtigsten Baudenkmäler Deutschlands. Klares Konzept, teilweise offene Raumstruktur und moderne Formensprache sollten für Offenheit und Transparenz der neuerstandenen Demokratie stehen. Eine Sanierung und Modernisierung 2016 brachte die Transformation des Daches in eine fünfte lichtspendende Fassade durch Einarbeitung kreisrunder Öffnungen verschiedener Größen, seit 2017 existiert das angefügte Bürger- und Medienzentrum.

Nachmittags verfolgt man vom Besucherbalkon aus einen Ausschnitt der 132.Sitzung. Die Sitzungen werden aufgezeichnet und lassen sich ein bis zwei Tage später über die Mediathek des Landtages nachschauen und nachhören. Überraschend und beeindruckend aber im Live-Erlebnis ist die Arbeit der Stenografinnen und Stenografen, die zu beiden Seiten des RednerInnen-Pultes platziert sind und alles von Hand mitprotokollieren, die Reden und alle Zwischenrufe etc. mit namentlicher Zuordnung. Wie bei einem Staffellauf übernehmen – auch im Wechsel zwischen rechts und links – nach jeweils fünf Minuten andere, greifen die Blätter und verschwinden in Nebenräume, um das in Kürzeln Mitgeschriebene in von allen lesbare Protokolle zu verwandeln. Fast schwindlig nimmt man in der Stunde des Plenarsitzungsbesuches die Menge an Stenografen und Stenografinnen wahr, die mit ruhigen und doch zügigen, routinierten Bewegungen und unbewegten Mienen ihre Arbeit tun. Wo kommen sie alle her? Sie sind begehrt, erfährt man später bei Nachfragen, keine KI kann sie ersetzen, es gibt Festangestellte und solche, die herumreisen für ihre Dienste. 200 bis 400 Kürzel vermögen sie in der Minute zu schreiben und gewinnen Medaillen bei Kurzschriftwettbewerben. So also gelingt das Mitschreiben von Demokratie.

Eine warme Spätsommersonne begleitete die Veranstaltung zum Tag der Demokratie in Lörrach, die in diesem Jahr um einen Tag auf den 20.September vorverlegt wurde. Der 1956 geborene Jurist und Publizist Michel Friedman sprach unter dem Balkon des Alten Rathauses Lörrach, von dem aus der 1805 geborene Rechtsanwalt und Publizist Gustav Struve am 21.September 1848 die Deutsche Republik ausrief, und umkreiste lobend und mahnend die über ihm auf der Flagge festgehaltenen Früchte und Aufgaben der Demokratie: Freiheit, Bildung, Wohlstand. Hörten ihm mehr Menschen zu als den Veranstaltern einer Gegendemonstration auf dem benachbarten Alten Marktplatz?

Parlamentsstenografen schreiben blitzschnell alle Reden im Landtag mit | Staatsanzeiger BW https://share.google/tzeuuCAZ2pzWcDAGl

Landtags-Stenografen holen Medaillen bei Kurzschrift-Meisterschaft | Landtag Baden-Württemberg https://share.google/iBnumRkQuj9GHQDyU

Herbstfreuden 2

Am 11.Oktober 2022 war ich auf Wegen der Kindheit und Jugend unterwegs.

Im Rathaus arbeitete 28 Jahre lang der Vater, bei Besuchen dort faszinierte das Kind die lange, schwere Amtskette, der am Schreibtisch befestigte und mit einer Kurbel zu bedienende Bleistiftspitzer, die dunkle Holztreppe hinauf zur Wohnung der Gemeindeschwester Marie, die vom Hof zugängliche Gefängniszelle.

In der benachbarten evangelischen St.Antoniuskirche sang die Teenagerin ab dem 10.Lebensjahr in einer Kurrende (Kinderchor) und ab und an predigte dort auch der Bürgermeister-Vater.

Den am Brunnen neben der Kirche sitzenden bronzenen Mönch gab es damals noch nicht, wie im Wappen des Ortes erinnert er an die Entstehung des Weilers im 11./12.Jahrhundert durch klösterliche Kolonisationsbewegungen.

In Räumen der evangelischen Pauluskirche der benachbarten Kreisstadt fand der Blockflötenunterricht statt, es unterrichtete die ledige Frau W., die auch die Kurrende leitete. Der Fußweg von der Bushaltestelle zu den Unterrichtsräumen zog sich sehr in die Länge.

Näher an der Bushaltestelle lag das Romäusring-Gymnasium, nach drei Jahren Grundschule wegen Kurzschuljahren (52 Kinder in der Klasse) kam die Neunjährige dort in die Sexta. Zu Schuljahresbeginn und am Aschermittwoch gab es den Schülergottesdienst in der benachbarten katholischen St.Fideliskirche.

Der gelehrige Bücherwurm im Hof des Gymnasiums thronte damals noch nicht auf seinem Stapel Glück, er fand sich erst 2014 ein.

Im Münster Unserer Lieben Frau war das Kind und die Jugendliche selten, manchmal aber doch, benachbart lag die bevorzugte Buchhandlung der Eltern. Die fast 56-Jährige sang am Sonntag, den 14.Dezember 2014 um 17 Uhr in diesem Münster ein Adventskonzert mit dem Motettenchor Lörrach.

„Mönchweiler, nahe der trutzigen Mauern des wehrhaften Villingen, war durch Jahrhunderte eine kaum beachtete, ungeschützte Wegmarke an der großen Heer- und Kulturstraße“ heißt es auf dem 231 Seiten umfassenden kirchengeschichtlichen Lesebuch über Mönchweiler, das der ehemalige Schulrektor Dieter-Eberhard Maier 1999 veröffentlichte (Untertitel: Von den Ursprüngen des christlichen Glaubens und Wirkens bis zur Gegenwart).

Ein großes Paket ist angekommen mit Familienarchivmaterial. Ich werde mich darum kümmern.

Woche der Buchmesse: Darum ist es gesund zu lesen https://share.google/qwtZCdXpl21cVY8VE

Herbstfreuden

Gestern Abend in der kurzen Pause der Chorprobe (Johannespassion mit Konzert am 29.März, Palmsonntag und Beginn der Sommerzeit) stimmen eine Soprankollegin und ich überein im Befremden darüber, dass das Jahr schon die Neigung zu seinem Ende hin nimmt, wir haben Mitte Oktober und es ist bereits an der Zeit, sich um neue Kalender zu kümmern, dabei hatten wir doch erst Januar – oder nicht? Ist das eine Alterserscheinung, fragen wir uns, und weisen diesen Gedanken natürlich umgehend von uns, zumal auch Jahrzehnte Jüngere von diesem Phänomen zu berichten wissen. Auch meinen wir, der Sommer sei dieses Jahr nicht sehr groß gewesen, eher etwas klein geraten. In den letzten Tagen treiben bereits heftig die Blätter und der erwartete Wein scheint genug Süße zu haben, die Traktoren zogen schon über den Hügel und fleißige Hände befreiten die Rebstöcke von reifer Last. Und obwohl der Rosmarin noch blüht, haben sich auf meinem Höhenweg neben ihm die Herbstzeitlosen eingefunden und vereinen ihre sattgelben Strahlen mit den etwas blasseren der Herbstsonne. Am Morgen umgarnen die Nebel den Hügel und er lässt sich werben. Gibt zur Antwort, dass er sich an den Herbst gewöhnt habe, ja ihn nicht missen möge, dass er sich ausgesöhnt habe mit der wuchernden Durchsichtigkeit der Rebstöcke, dass er es liebe, wenn Morgenlicht mit den Nebeln spiele und einen Widerpart fände in der Färbung des Herbstlaubs. Wenn dann noch Raubvögel über seinen Wölbungen kreisten, sagt er, und die Nebel ein Fenster freigäben auf sein Chrischona-Gegenüber, dann sei er ganz in den Herbstfreuden angekommen.

(ein paar Formulierungen aus einem Mini-Text vom Oktober 2023 sind eingearbeitet)