Ein blauer Koffer 2

Sommerzeit ist auch Reisezeit. Kam die ZEIT deswegen auf die Idee, nicht abgeholte Koffer zu ersteigern am Flughafen und sie Schriftstellern und Schriftstellerinnen (je zwei und zwei)  zu überlassen, damit die sie mit Geschichten umspinnen? May be.

Die Koffer jedenfalls sind nicht nur herren -, sondern auch damenlos, sage ich mal (diverslos klingt irgendwie neu), und eher am Flughafen nicht gestrandet, sondern gelandet, bevor die ZEIT zuschlug für 185 bis 410 Euro. Die teuersten waren die blauen, hat das was zu sagen? Erinnert blau vielleicht am meisten an Himmel und Meer und Sommer und Ferien? Possible. Ein bisschen langweilig ist, dass weibliche Koffer weiblichen SchriftstellerInnen zugeteilt wurden und männliche Koffer männlichen – also ich hätte das andersherum gemacht, wenn man mich gelassen hätte, hat man aber nicht. Peccato. Man kann schließlich davon ausgehen, dass denen genug eingefallen wäre, die Geschichten auch vice versa zu spinnen oder dachte die ZEIT vielleicht fürsorglich, dass die Beglückten sich gleich mit dem Inhalt einkleiden? War das etwa Teil des Deals? Aber das wäre doch auch kein Hindernis gewesen, Paul Maar trüge sicher gerne Bikini, zumal sein Koffer außer Herren-Kurzarmhemden, Badehose und Elektrorasierer auch einen rosa Damenmorgenmantel, einen schwarzen Damenbody und zwei weiße Miniröcke bereithielt, fragt sich nur, zu was die Käsereibe in diesem Zusammenhang, äh, in dieser Zusammenstellung gut sein sollte. Aber darüber machen wir uns jetzt mal keine Gedanken. Lieber darum, warum die Schriftsteller – und – * –  und – Innen doch gehörigen Respekt vor diesen Koffergetümen hatten, wenn nicht sogar klitzekleine Panikanfälle, nein, nein, ich verrate jetzt nicht, wer am dollsten. Hat sie aber am Geschichtenspinnen nicht gehindert, gracias a dios. Sie haben da wirklich was rausgezogen aus den 6,2 bis 11,7 kg, nicht nur goldene Sneaker mit weißen Schnürsenkeln, rosa Sandalen mit Eiffelturm-Muster (zur Daunenjacke!) oder graue Herren-Wildlederschuhe, sondern auch Katzen und Dinge, Interpretationen und Wahrheiten, Treppenhäuser und ein Es war einmal…

Wie ist es eigentlich unserem allein reisenden Koffer ergangen? Ich meine den vom 3.Januar 2025, also den meeresblauen mit den abgewetzten grauen Paspeln? Er hat sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sämtliche Sprints von diversen Personen zu diversen Bahnhöfen (und das bei heftig einsetzendem abendlichen Schneefall) hinderten ihn nicht daran, auf seinem Sitzplatz zu bleiben und durchs Rheintal zu kutschieren. Er stellte so seine Beobachtungen an, nach außen und nach innen, die Zeit gönnte er sich. Bis er schließlich ganz allein übrig blieb und sein Reisegefährte, äh Reisegefährt in nächtlichen Stillstand fiel. Irgendwelche Über- und Ermittlungen im Hintergrund aber nicht ruhten. Jedenfalls durfte (oder musste?) er dann den Platz wechseln, ein bisschen noch vor sich hin dämmern im Dunkeln, leider ohne Rheintal (aber vielleicht gab´s ja gute und kluge Mit-Dämmerer?). Schlussendlich konnte der Herr (in diesem Fall stimmt das) des Koffers den graugepaspelten Meerblauen wieder in die Arme bzw. am nicht mehr versenkten Griff und mit zu sich nach Hause nehmen. Doch ein wenig bitten lassen hat der Koffer sich schon, denn sein Herr musste ihn abholen an der Ruhestation. Dafür hat der Blaue aber alles behalten, was sein Innenleben betraf, gar nichts aussortiert, weder die Schuhe noch den Gürtel, weder die Standhaftigkeit noch die Flexibilität, weder das Hemd noch den Bedacht, auch nicht die Perspektive. Und die Tasche? Was für eine Tasche denn???

(siehe auch Blogeintrag vom 3.Januar 2025 Ein blauer Koffer)

(ZEIT N° 32 vom 31.Juli 2025 Rubrik Entdecken: „Die Gepäckausgabe. Herrenlose Koffer, gestrandet am Flughafen – was steckt da wohl drin?“; Geschichten von Martina Hefter, Paul Maar, Helene Hegemann und Max Annas)

(Foto: Wien 29.Juli 2019)

Sei froh in Dänemark

Was macht eine 17-Jährige, bevor sie mit ihrer Herkunftsfamilie in ein Ferienhaus nach Ligurien aufbricht?

Freunde, die gestern Abend auf ihrer Nordlandtour genau an dem Ort ankamen, den ich damals kennenlernte, brachten mich darauf :

Die 17-Jährige fährt mit der kleinen Familie der Deutschlehrerin (die auch die Theater-AG leitet) in ein Ferienhaus nach Dänemark, um das Kleinkind zu hüten, während dessen Eltern ihr Segel-Hobby ausüben. Hinauf geht es in der Nacht vom 2. auf 3.Juli mit dem Auto und wieder hinunter gen Süden fährt die 17-Jährige am Mittwoch, den 21.Juli 1976 per Zug ab Flensburg, da sie am 23.Juli mit nach Italien aufbrechen will. Kurz vor 5 Uhr in der Frühe war man am Bahnhof Flensburg angekommen, aber die Abfahrt des Zuges wird nicht angezeigt, wenige andere Wartende meinen, doch, auch sie wollen mit diesem Zug fahren, er steht im Kursbuch. Man frühstückt „unter duftenden Linden, die gerade blühen“. Auf dem vorgesehenen Bahnsteig kommt kein Zug, aber ein Bahnbediensteter, der die Wartenden darauf aufmerksam macht, dass der gewünschte Zug nur „werktags nach Sonntagen fährt“. Es gibt aber einen nächsten Zug nach Hamburg um 6:21 Uhr, nach einem Umstieg in Neumünster soll man in Altona um 8:23 Uhr ankommen und somit zur gleichen Zeit wie mit dem angedachten Zug, die Auskunft wirkt erleichternd, die Wartehalle wird aufgesucht, schließlich öffnet auch der Fahrkartenschalter und dann fährt die 17-Jährige von Gleis 10a aus Flensburg ab, steigt in Neumünster auf demselben Bahnsteig in den herrlich ausgestatteten D-Zug Richtung Hamburg-Altona und „in Altona (altbekannt!) freundlicherweise auch auf dem gleichen Bahnsteig (Gleis 10, Gleis 11) in einen Wagen, der bis Port Bou fährt“. Die 17-Jährige muss aber nur bis Villingen /Schwarzw. und in Offenburg noch einmal umsteigen „(auch auf demselben Bahnsteig) in den Eilzug nach Konstanz“.

Zunächst aber fährt sie ja hinauf nach Dänemark, wo sie noch nie war und auch nur dies eine Mal sein wird (Stand 49 Jahre später), mit dem Auto wird sie gefahren über Rottweil, Tübingen, Böblingen, Heilbronn, Würzburg, Kassel, Hamburg, dort ist sie ab 6:00 Uhr wieder wach und sieht die Köhlbrandbrücke und den neuen Elbtunnel, nach der Autobahn-Ausfahrt Schleswig geht es über kleine Straßen Richtung Niebüll und nach einer Rast im Wald von Niebüll aus ins Nolde-Museum, wo die Ausstellung besucht wird, nachdem man sich mit Kaffee gestärkt hat: „Ölbilder  (Verschiedenartigkeit), Aquarelle, Lithographien, Radierungen; Christusbildnisse (eigenartig, eigenwillig), dann weiter durch das herrlich flache Land; Grenze, bei Nymindegab zum ersten Mal die Nordsee“. Gegen 18 Uhr wird Skodbjerge erreicht und in den Dünen das Sommerhaus ‚Ingola‘ gefunden.

Gartengaben oder Sommerfreuden 6

Eine Chorkollegin bringt mir von überreicher Gartenernte, Mirabellen und Bohnen. Nach kurzer Kühlschrankruhe melden sich die Gaben und wollen verarbeitet werden. In welche Gesellschaft können und wollen sie sich begeben?

Zu den Mirabellen finden sich Quark, Joghurt, Bourbon-Vanille-Zucker, Cantuccini und Zitronenmelisse ein: die Mirabellen entsteinen und kurz mit etwas (Zimt-) Zucker zu einem Kompott dünsten und abkühlen lassen. Ein paar Mirabellen im Originalzustand lassen für die Dekoration des Desserts. Speisequark und etwas festeren Natur- Joghurt so miteinander verrühren, dass eine Art Creme entsteht (Fettgehalt kann man je nach Gusto wählen; Menge je nach Bedarf), dahinein kommt der Bio-Bourbon-Vanille-Zucker, bei mir war es ein Tütchen, hat man eine größere Menge Creme oder will man es süßer, müssen es natürlich zwei oder mehr Tütchen sein. Die Cantuccini füllt man in ein Küchentuch (oder in eine Plastiktüte) und zerschlägt sie mit einem Stößel oder Hammer in kleinste Stücke. Mit den zerstoßenen Cantuccini beginnt man die Schichtung in kleinen Gläsern, dann folgt die Quarkjoghurtcreme, schließlich das Mirabellenkompott – da capo, bis die Gläser gefüllt sind, enden sollte man mit der Creme. Auf der man zum Schluss dekoriert mit den ganzen Mirabellen, ein paar Cantuccini-Streuseln und Zitronenmelisse- oder Minzblättern. Kühl stellen bis zum Servieren.

Die Bohnen vergesellschaften sich sommerlich- marokkanisch mit kleinen Tomaten und frischem Knoblauch: die Bohnen waschen und in kleine Stücke schneiden, dann in kochendes Wasser oder Gemüsebrühe geben und je nach gewünschter Bissfestigkeit garen, nach dem Abtropfen zu den Stückchen frischen Knoblauchs und den in Würfeln oder Hälften geschnittenen Tomaten geben, die man zuvor in Olivenöl angedünstet hat, vermengen, mit (Kräuter-) Salz, Pfeffer, Koriander und Kreuzkümmel würzen und noch etwas weiter dünsten. Statt des Kreuzkümmels kann man auch ein paar Chiliflocken dazugeben, dann erhält man eine etwas andere Geschmacksnote. Bleibt etwas übrig, schmeckt es anderntags gut als Salat, nachwürzen, mit Oliven- oder kaltgepresstem Rapsöl und rotem Balsalmico versehen.

Das Bohnenrezept habe ich vor Jahren einmal dem Buch „Die Küche des Kalifen“ entnommen, das auf zartlachsfarbenen Seiten ohne Bebilderung einfach zuzubereitende Rezepte der orientalischen Küche versammelt, garniert mit arabischen Sprichworten, zum Beispiel „Der Gruß führt zur Unterhaltung“ oder „Ein hundert Meilen weiter Weg beginnt mit dem ersten Schritt“ und „Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt“.

Und Andreas Loos hat inzwischen die beiden weiteren Beiträge zu einer Theologie des Gartens auf www.reflab.ch veröffentlicht, am 3.August „Erde unter den Fingernägeln: Gärtnern macht menschlich und ist göttlich“ (z.B. Eden als gemeinsames Projekt von Gott und Mensch und Den Garten genießen und darin spielen) und am 10.August „Der Uhrgarten in Eden und die Zeitnot unserer Gegenwart (wirklich Uhrgarten in der Überschrift zum Urgarten; z.B. Gärten sind Orte der Verwandlung und Im Duft des Gartens die Zeit kosten)

(Die Küche des Kalifen. Klassische Rezepte aus Marokko. Gondrom Verlag Bindlach 2005)

Achter Sonntag nach Trinitatis

Als Wochenspruch ist im Herrnhuter Losungsbüchlein heute angegeben Epheser Kap. 5, Verse 8b-9a und ich zitiere nach der Elberfelder Übersetzung (2006):

Wandelt als Kinder des Lichts – denn die Frucht des Lichts besteht in lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.

Und das vorgeschlagene Wochenlied ist Nr.262/263 im Evangelischen Kirchengesangbuch „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unsrer Zeit“. Es hat sieben von verschiedenen Verfassern geschriebene Strophen, die Melodie stammt ursprünglich aus Böhmen und dem Jahr 1467. Der Text der ersten Strophe bezieht sich auf eine Stelle aus dem Maleachi-Buch (Altes Testament), Maleachi 3,20:

Aber euch, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen, und Heilung ist unter ihren Flügeln. Und ihr werdet hinausgehen und umherspringen wie Mastkälber.

(In meiner Wuppertaler Studienbibel – Brockhaus Verlag 1980 – heißt es zur Eigenart des Maleachibuches, dass es eine literarische Einheit darstellt und im Frage- und Antwortstil oder sog. dialogischer Redeform verfasst ist)

Best Ager Darstellerin gesucht

Seit einiger Zeit spielt mir Instagram immer wieder Werbung einer Plattform zu, die Darsteller für Werbespots sucht, zum Beispiel eine Best Ager Schauspielerin, die als „Callcenter Anette“ für ein Social Media Format agieren soll, die Bezahlung ist angegeben und dem geposteten Foto ist offenbar zu entnehmen, welchen Vorstellungen die BewerberInnen entsprechen sollen, für diesen Auftrag jedenfalls kommen w/d-Personen in Frage, gezeigt wird eine freundlich lächelnde schlanke ältere Dame mit weißem kurzem Bob (oder sind die Haare hochgesteckt? Ein feines Haargespinst ist hinter den Ohren neben dem Nacken noch zu erkennen), das warme kräftige Rot des Lippenstifts passt perfekt zum Blazer. Ich habe keine Ahnung, warum ich diese Anzeigen sehe, erhalten sie vielleicht alle Menschen, die sich auf Instagram tummeln? Denn, überlege ich, woher sollte der Meta-Konzern wissen, dass ich schon einmal an einem Casting teilgenommen und in der Oberstufe in der Theater-AG gespielt habe? Habe ich ihm das etwa verraten? Über verborgene Flüsterbogen zugeflüstert? Gut also, jetzt kannst du es eben wissen, Meta, ich erzähle es dir öffentlich: ich war mal zu einem Casting für die Serien Richterin Barbara Salesch und Jugendgericht, an einem 29.Juni um 18 Uhr, der Ort gut zu erreichen, zweieinhalb Stunden (Eigen-) Zeit zu ermöglichen, der professionelle Foto-Termin fürs Portrait- und Ganzkörperfoto bezahlbar. Etwas jünger als die Dame aus der Instagram-Anzeige war ich, aber doch schon Ü 40, Middle-Ager also. Haare knapp schulterlang, Metallrahmenbrille, Lippenstift passend zur Bluse mit gerundeten graphischen Mustern von weiß über orange und rot zu schwarz. Was ich vor der Kamera gesagt habe, erinnere ich nicht mehr, auf jeden Fall mangelte es wohl an spontaner Schlagfertigkeit, ich wurde nicht genommen, das Setting beim Casten aber und das ganze Drumherum waren mir Feier genug.

Das Buch „Wir spielen immer“, in dem Will Quadflieg (1914-2003) Erinnerungen festhielt, hatte ich mir gewünscht für die Anerkennungsgabe zu den „Leistungen“ in der Theater-AG, die sich aber auf Nebenrollen beschränkten, in Dürrenmatts Die Physiker, in Ionescos Die Nashörner, wir durften auf der Bühne des „Theater am Ring“ auftreten. Was habe ich denn im Jahr 1977 in dem Buch angestrichen (ich weiß noch, dass ich es las, als ich bei der Johanniter-Unfallhilfe einen Schwesternhelferinnen-Kurs absolvierte)? „Wissen, woher man kommt“ ist die Seite 13 überschrieben und mit Bleistift markiert habe ich die „innere Biographie“ im Satz „Doch es gibt so etwas wie eine innere Biographie, und mit der war ich ohnehin seit einiger Zeit beschäftigt, als ich begonnen hatte, in mir aufzuräumen.“ Über den Seiten 206ff steht „Die Existenz des Schauspielers“ , markiert habe ich „ich stelle eine andere Person dar, als ich bin, aber ich lüge nicht. Ich zeige nur die eigenen inneren Wahrheiten, die der Dichter an- und ausgesprochen hat.“ „Mein Hauptantrieb zum Theater zu gehen, das weiß ich genau, war das Wort, die Ausformung der Sprache.“ „Was nicht erlischt, ist mein Bedürfnis, Verse zu sprechen, ist der innere Zwang, mich selbst immer genauer kennenzulernen; auch mir selbst zuzeiten zu entkommen…“ Auf Seite 232 unter „Rechenschaft vor mir selbst“ einen ganzen Abschnitt zu Bachs Matthäuspassion mit dem Choral ‚O Haupt voll Blut und Wunden‘  und besonders den Satz „Seit der Arbeit an….hat die Verbindung von Musik und Wort eine ständig wachsende Anziehungskraft für mich“. S.246: „Niemand kann die magische Kraft und Wirkung, die einige aneinandergereihte Worte in einer aufnahmefähigen Seele bewirken können, logisch definieren.“

Genug, die Best Agerin hört hier mal auf, sonst finden das Zitieren und der Blog-Eintrag kein ENDE.

(Will Quadflieg: Wir spielen immer. Erinnerungen. S.Fischer-V., Frankfurt a.M. 1976)

Am 8.August 1976

nehmen wir Abschied von Andora-Pinamare, nachdem wir noch einmal auf Französisch und Italienisch mit Giorgio gesprochen und unsere neuen Bekannten, die Familie Chiesa aus A.burg getroffen und den „Geschichtsvortrag“ des elfjährigen Spielfreundes über die Schlacht um Jerusalem bewundert haben. „Wir winken, bis wir sie nicht mehr sehen; Abschiede sind nicht schön!“

Am 4.August sind wir aber noch da und fahren nach Monaco, auf der Autobahn. Die „Autobahn ist herrlich, geht über viele Brücken und durch viele Tunnels, vor allem sieht man viel von der Landschaft: Täler, Felsen, Berge, kleine Dörfer, die auf den Bergkuppen sitzen, und die großen Orte am Meer.“ Bald haben wir den kleinen Stau an der italienisch-französischen Grenze hinter uns gelassen und finden es lustig, „dass nach der Grenzstation, die gleich hinter der letzten Alt-Station ist, noch ein ganzes Stück Italien kommt“ und erst in einem Tunnel „dann die richtige Staatsgrenze (Confine di Stato)“ ist, „dann der erste Blick auf Monaco- Monte Carlo! Wie ich mich freue!“ Nachdem wir auf gewundenen Straßen die Principauté erreicht haben, stellen wir fest, dass es auch hier Menschen gibt, „die ihr Alltagsleben führen (jemand schüttelt sein Staubtuch aus)“. Wir fahren durch die ganze Stadt, vorbei auch an den vielen neuen Hochhäusern und notieren, dass in einem dieser Hochhäuser Johannes Mario Simmel wohnt. Dann parken wir „auf einem großen Parkplatz in Nähe des Schlosses, das weniger prunkvoll als das Casino auf einem Felshügel über dem Meer liegt“, wir essen unsere mitgebrachten Sachen aus der Kühltasche und sehen, dass das noch einige andere so machen. Gestärkt steigen wir zum Schloss hinauf, am tollen Stadion und einem kleinen Zoo vorbei und sehen ganz oben auf dem Felsen den Kakteengarten. Vor dem Schloss stehen die Wachen in weißen Anzügen und vor allem viele Menschen. Nachdem wir Postkarten erworben haben, schreiben wir und sitzen dabei auf einer Bank „mit herrlichem Blick über ganz Monaco“. Im Wachsfigurenkabinett erfahren wir später etwas über alle Fürsten Monacos, angefangen bei François Grimaldi, der als Mönch verkleidet die Burg eingenommen hatte. Nachdem wir in einer Bar neben dem Aquarium etwas getrunken haben, besichtigen wir die Domkirche mit der Grabkapelle der Fürsten und verlassen sie wieder, „die schöne Kirche, die ganz aus weißem Stein gebaut ist, nachdem sich auch Mama und Papa noch in das Gästebuch eingetragen haben“. Später fahren wir am Hafen und am Casino vorbei und bewundern neben dem Casino, in das wir noch nicht hinein dürfen, das Hôtel de Paris, vor dem Wagen wie Rolls Royce und Sonderanfertigungen von Mercedes stehen. Als wir uns wieder Richtung Italien aufmachen, sehen wir noch den Friedhof von Monaco, „auf dem, wie wir später erfahren, Josephine Baker begraben liegt“. Von der Autobahn fahren wir in San Remo ab, die Eltern haben es aber von früher viel schöner in Erinnerung. Die Küstenstraße Via Aurelia führt uns über Cervo zurück nach Andora und, nachdem wir noch etwas gegessen haben, gehen wir „müde und glücklich zu Bett“.

Auch am 8.August gehen wir schnell zu Bett, nachdem wir noch ein letztes Mal durch „meine eine kleine Seligkeit“, die Bazarstraße von Laigueglia gegangen sind und gesagt haben „Auf Wiedersehen, Laigueglia, aber hoffentlich wirklich ein Wiedersehen!“

Regen und Glück in Osnabrück

Nein, ich kann sie nicht zählen, die Blätter der Winterlinde, die in der Sommermorgensonne die Bank an der Bushaltestelle beschatten. Später zieht die Sonne sich doch noch einmal einen Schleier über den strahlenden Kopf, wahrscheinlich haben deswegen die blauen Gitterstühle der Raucherecke im Hof noch keine Gäste. Hellgraue Steppnähte lassen die schwarzen Ledersofas gekachelt erscheinen und mir gegenüber muss eine flotte Mittfünfzigerin ein Schlüsselproblem lösen, das Smartphone hebt sie dafür ans rechte Ohr unter die graumelierte überschulterlange Mähne und bemüht sich, leise hinein zu beschwichtigen: „Den findest du wieder, der ist nicht weg, den hast du nur verlegt, kann passieren in der Hektik, du weißt ja jetzt, dass du einen bekommst.“ Dass ihr Telefongegenüber einen Schlüssel erhält, hat sie mit einer Marlene geklärt, die sie wachgeklingelt hat, weswegen anzunehmen ist, dass es sich bei Marlene um ihre noch jugendliche Tochter handelt, die genau instruiert wurde, wo die Rettung zu finden ist, nämlich in einer Seitentasche der rosa Jacke: “Wenn du den Reißverschluss der rechten Seitentasche öffnest, da ist der Schlüssel.“  Ein Martinshorn tönt durch die geöffneten Fenster, durch die jetzt die Sommersonne scheint, entfernt sich der Einsatzwagen oder kommt er näher? Die Mittfünfzigerin wird aufgerufen und läuft raschen Schritts zum Behandlungszimmer, die weiten Hosenbeine ihrer blauen Culotte-Jeans schwingen über beigen Sneakern aus Segeltuch, die zur Farbe des Blousons stimmen, mit den Füßen hat sie jedenfalls kein Malheur. 

Blütenfotos im quadratischen Großformat sollen das Warten versüßen, das aber hoffentlich nicht alle Jahreszeiten durchläuft, die die Blüten verkörpern, Schneeglöckchen-, Gänseblümchen-, Klatschmohn- und Dahlien-Portraits hängen zwischen den Türen. Ich schaue weg von den Blüten und hinein in meine Lektüre, Harald Martensteins Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land, und bin doch sehr erfreut, dass mich gleich der zweite Text ins Glück entführt, nach Osnabrück nämlich, wo die zufriedensten Deutschen leben, und dann erfährt mein Erfreutsein noch eine Steigerung, denn auf Platz 2 und damit direkt nach Osnabrück rangiert das Gebiet rund um Villingen-Schwenningen und somit genau die Gegend, in der ich aufgewachsen bin, und Stuttgart, die Jugendheimat meiner Mutter, liegt mit Platz 5 weit vor München.

„Osnabrück ist hübsch“ schreibt Martenstein und das kann ich bestätigen, denn vor nicht allzu langer Zeit habe ich es samt dem Fluss Hase endlich kennengelernt, bin durch die Altstadt gelaufen, habe zwar nicht den Dom, wohl aber die St.Marien-Kirche am Markt besucht und dort „Schöne deutsche Literatur in schöner arabischer Schrift“ angeschaut und später in einer Buchhandlung ein Belegexemplar der kalligraphischen Kunst von Iyad Shraim erstanden, eine Doppelkarte mit dem in Schwarz und Ocker gemalten Text „Fühlst du nicht an meinen Liedern, dass ich eins und doppelt bin“ aus Goethes Gingko biloba-Gedicht von 1815. Neben St.Marien fanden meine Begleiterin und ich auch ein heimeliges Café, das zum Osnabrück-Glück stärkenden Kuchen und wärmende Getränke bereit hielt, so dass wir den Regenschirmen, die den Altstadt-Gang beschützten, eine Pause gönnen konnten.

Das graue Nass war uns aber auch sonst nicht auf den Kopf gefallen, denn die Osnabrück-Begegnung galt nicht nur der Friedensstadt, sondern auch dem am 15.Dezember 1928 in Wien geborenen und am 19.Februar 2000 in Queensland verstorbenen Friedensreich Hundertwasser, dem das von Daniel Libeskind entworfene Felix- Nussbaum-Museum die noch bis zum 31.August 2025 zu sehende Familienausstellung „Paradiese kann man nur selber machen“ gewidmet hat.

In der Ausstellung, die den Aspekt des Öffnens an den Anfang setzt, badeten wir bei den rund 90 Werken nicht nur in Farben aller Art, sondern auch in Hundertwassers Ideen und Appellen zu bewusstem, schützendem Umgang mit der Natur, zur Aktivierung schöpferischer Fähigkeiten, für eine menschengerechtere Architektur. Einen Friedensvertrag mit der Natur hat er entworfen, als Architekturdoktor eine Therapie für die kranken Bauten der Nachkriegszeit erfunden und Regentage fand er so schön, dass er nicht nur das Schiff, auf dem er zehn Jahre lebte und malte, auf den Namen Regentag taufte, wie wir in Peter Schamonis Film von 1972 sehen konnten, sondern auch einen Regentag seinen Vornamen hinzufügte und somit wurde er: Friedensreich Regentag Dunkelbunt Hundertwasser. Sein persönliches Paradies fand der als Friedrich Stowasser Geborene in Neuseeland, wo er mitten in der Natur an einem verträumten Fluss ein Haus baute, die Wälder durchstreifte, seine Bilder entstehen und die Gedanken fliegen ließ, wie der Flyer, der jüngere Museumsbesucher zur Ausstellungsrallye einlädt, erklärt.

Jetzt höre ich aber plötzlich einen Namen, meinen Namen, klappe daher Osnabrück-Glück und Martenstein zu, verstaue das Buch im Rucksack und gehe langsam und unrund zum Behandlungsraum. Wo ich dann doch noch weitere Untersuchungen und das erhalte, was sich vornehm Fußentlastungsorthese nennt, ich aber bezeichne es als Elefantenfuß. Und da habe ich doch wieder geöffnetes Glück, denn bekanntermaßen sind Elefanten meine Lieblingstiere. Und der Tag ist ein Sommersonnentag.

(Harald Martenstein: Romantische Nächte im Zoo. Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land. aufbau taschenbuch 3.Aufl.2018)

(Peter Schamoni: Hundertwassers Regentag. Dokumentarfilm von 1972)

Sommerfreuden in Ligurien

Am 6.August 1976 geht es erst um halb drei und damit zu ungewohnter Uhrzeit an den Strand, vor und nach dem Frühstück haben wir geschrieben. Das Meer hält an diesem Tag die größten Wellen für uns bereit und abends hören wir es rauschen, während wir durch „mein geliebtes Laigueglia“ gehen und im Ristorante Rialto Eis essen, etwas trinken und Menschen beobachten, nachdem wir zuvor in der großen und weiten Kirche elf Altäre gezählt haben.

Am ersten August haben wir auch „herrliche Wellen“ wahrgenommen und am zweiten August einen „enormen Wind“, der alles „plastisch und nah“ erscheinen lässt und dem Meer „die schönsten, dunkelsten Farben“ beschert. Weil wir so viel geschrieben haben und fünfzig Briefmarken für Karten benötigen, betrachtet uns der Postbeamte am Windtag mit komischem Blick, aber es ist kein Missverständnis, wir bekommen die Marken und wenden uns dann einem Marktbesuch und dem „bunten Gewirr von Ständen und Menschen“ zu und das Finden einer passenden Handtasche macht uns „ganz verrückt vor Glück“. Auch „süße Baumwollkleider“ tragen zum Marktglück bei und die Mama und der Papa schenken uns die Kleider zum Geburtstag des Großpapas, der aber gar nicht an diesem Tag ist, sondern an einem anderen im August: „wie wir uns freuen!!!“

Am dritten August schreiben wir nach dem Frühstück, gehen wieder zur Post und auch zur Bank, danach sind wir am Strand „fast nicht mehr zu bewegen, unsere Badefreuden zu beenden“ und als wir spätnachmittags nach Mittagessen, Schreiben und Einkaufen noch einmal an den Strand fahren, haben wir ihn und „das Meer beinahe für uns allein“. Abends im Ferienhaus „lesen wir vier noch etwas aus dem Buch von Jörg Zink“ und gehen früh zu Bett, „weil wir ja morgen nach Monaco fahren wollen!“

Kuhrettung

Heute, am Dienstag, den 5.August 2025, einem Tag, der sich nach Anfangsschwierigkeiten zu einem Sommertag gemausert hat, berichtet die Lokalzeitung über einen pensionierten Landtierarzt, der nun nicht mehr Nutztiere auf Bauernhöfen behandelt, sondern aus seinen Erlebnissen Kurzgeschichten bastelt. Er habe viel zu erzählen, nicht nur von Tieren, sondern auch von den Bauern, meint der Artikel, die Texte seien anschaulich, lebendig und mit einem Schuss Humor versehen. Da gibt es Trauer um ein Familienpferd, veritable oder vermutete Tollwutanfälle und Kuhrettungen aus dem Rhein mit Hilfe eines Krans.

Beim Ausflug zum Büroaufsteller gestern, Montag, den 4.August 2025, begrüßen mich friedlich unter Bäumen und wohl nicht am Rhein, sondern an der Leie grasende Kühe, die der flämische Maler Emile Claus (1849-1924) Ende August 1909 auf Leinwand gebannt hat, und mit ihnen das flirrende Licht eines Sommertages, war er doch ein Wegbereiter des Luminismus.

Bunt, sagt der freudige Fratz (den wir jetzt zum Purzel ernennen) zum kleinen Holzspielzeug und hat seine helle Freude, wenn die Kuh mit ihren Wackelbeinen einknickt und tanzt. Seine nonna zieht eine Textminiatur vom 22.März 2024 heraus:

Rau ist die Zunge, die über den Handteller schleckt, rau und lang und warm. Das Mädchen zieht die Hand nicht weg, es hat keine Angst. Es sieht die großen, braunen Augen mit den langen Wimpern, ruhig legt es seinen Blick in den der Kuh. Als der dampfende Atem das Gesicht des Mädchens erreicht, will es über dem feuchten Rosa der Nüstern die weiße Blesse berühren. Kurz nur lässt die Kuh das zu, dann dreht sie den Kopf zur Seite. Aber es genügt, die weiche Geschmeidigkeit des Fells kommt in den Fingern des Mädchens an und bleibt dort, wie das Raue bleibt, das den Handteller berührte. „Sie mögen das Salz der Haut“ sagt die Bäuerin und fragt, ob das Mädchen melken will. Das Mädchen nähert sich dem prallen Euter, es hat Respekt, es setzt sich auf den Schemel, legt die Finger um die Zitze und müht sich um den rechten Druck und Rhythmus. Das ist schwer, die Bäuerin lacht und übernimmt die Arbeit. Rasch füllt sich der Eimer, das Mädchen verlässt mit der Bäuerin den Stall des Aussiedlerhofes und nimmt den Geruch mit. Am Ausgussbecken wäscht es mit kaltem Wasser das Klebrige von der Hand. Dann wird es in die gute Stube geführt, dort sitzt der Vater mit dem Bauer und das Mädchen bekommt eine geblümte Sammeltasse bis zum Rand gefüllt mit der Milch. Es taucht die Lippe ein und der erste Schluck liegt samtig, sahnig und warm auf der Zunge.