Neujahrstag – Spaziergang 3

Es ist der Neujahrstag und nach dem heftigen Feuerwerkssturm der Nacht bleibt neben der Spreu versprengter Feuerwerkskörper auf dem Hügel eine Lautlosigkeit zurück. Das Wetter ist weiterhin freundlich gestimmt und so beschließe ich, vom Haus aus loszugehen. Ohne Berührungsangst haben sich auf den kobaltblauen Stelen des Bildhauers Volker Scheurer grüne Flechten niedergelassen und bilden ein blumiges Muster. In der Röhrigasse lädt ein Schild Weinfreunde und Wanderer ein, dem ersten grenzüberschreitenden Weinweg der Region zu folgen und wie es sich gehört, tut es das auf weinrotem Grund. Eine dünne Eisschicht bedeckt noch das Pflaster der Wasserabflussrinne rechts und zeugt vom frostigen Morgen, links hat die Sonne bereits den Raureif vom braunen Herbstlaub getaut, das am Gassenrand überdauert hat. Im Gras oberhalb der Stützmauer, die einen Himmelsanstrich trägt, leuchtet herbstlaubbraun eine verwaiste Bierflasche. Ein Stück weiter oben fehlen die Schafe, die neulich hier zwischen den kahlen Rebstöcken grasten und aus dem wolligen Winterfell dunkle Gesichter erhoben, um Spaziergänger zu betrachten.

Gerade beginnen erste Sportaffine, ihre Neujahrsvorsätze zu verwirklichen und treten hügelan kräftig in die Pedale, zu Weihnachten hat man ihnen voluminöse Profi-Helme geschenkt, so dass sie fast aussehen wie Astronauten. Ich raste lieber auf einer Bank, wo die Sonne wärmt als wäre sie schon eine Märzensonne, auf den Juraausläufern und den Vogesenhöhen residieren weiße Schneefelder und ein Dunstband zeigt mir den Verlauf des Rheins. Bekannte kommen vorbei, bleiben stehen und außer dass wir uns Gutes wünschen hinein ins frische Jahr, sprechen wir über die bis in frühe Morgenstunden ausufernde Böllerei und davon, wie unbeholfen, aber keineswegs untätig uns Ausfälle des Internet- Providers hinterlassen, schließlich sind wir noch im Besitz alter Radios und Briefpapier ist auch vorhanden.

Das Ehepaar geht weiter, ich bleibe noch ein wenig und frage mich, ob diejenigen sich wirklich als „Heroes of Fire“ fühlen, die neben der Bank die Hüllen gezündeter Lichterstäbe hinterließen, und warum sie keine Helden der Müllsammlung sein wollen.

Als die Uhr der Altweiler Kirche einmal schlägt und plötzlich von unten ein Martinshorn heraufhallt, stehe ich auf und folge dem Feldweg Richtung Westen. Zur Rechten leuchtet das kräftige Rot der Hagebutten aus Brombeergestrüpp, bunte Bienenstöcke stehen verschlossen, links habe ich eine Weile noch die Sonne zur Seite, bis ich mich umwende und einen tiefer gelegenen Weg zurück nach Osten nehme. Im Gewann Sänger klärt mich das Schild Nr.29 des Weinwegs über eine uralte Sorte auf, seit dem 4.Jahrhundert ist der Anbau der dunkelblauen dichtbeerigen Trauben im Burgund belegt und im Jahr 1318 in Schloss Salem die Sorte urkundlich bezeugt, die in Deutschland auch als Spätburgunder, in Frankreich als Pinot noir und in der Schweiz als Blauburgunder bezeichnet wird. In Gedanken erhebe ich mein Glas und grüße Hügel und Dreiland mit einem kräftigen „Prosit Neujahr!“

Ein frohes Neues Jahr!

„Und nun wollen wir glauben an ein langes Jahr, das uns gegeben ist, neu, unberührt, voll nie gewesener Dinge, voll nie getaner Arbeit, voll Aufgabe, Anspruch und Zumutung; und wollen sehen, dass wirs nehmen lernen, ohne allzuviel fallen zu lassen von dem, was es zu vergeben hat.“

Zitat aus einem Brief von Rainer Maria Rilke (1875-1926) an seine Frau Clara Rilke -Westhoff (1878-1954) am 1.Januar 1907

(Foto: Detail aus Henri Matisse `Baigneuses à la tortue, Paris 1907/1908, Öl auf Leinwand, noch bis 26.Jan.2025 zu sehen in der Fondation Beyeler, Riehen, sonst Saint Louis Art Museum)

St.Ottilien – Spaziergang 2

Im Ottilienkirchlein ist eine Krippe aufgebaut, das Stallgebäude hat einen hölzernen Dachstuhl, dort sitzt mit baumelnden Beinen eine geschnitzte Putte und hält mit beiden Händen ein langes Windeltuch, wohl dem Jesuskind zugedacht, das nackt und bloß, aber mit segnend gebreiteten Ärmchen auf seinem Krippenbett im Freien vor der Stallmauer liegt. Der heilige Josef steht mit einigem Abstand, aber dem Kind zugeneigt, die Hände wie zum Gebet gefaltet, auch Maria gegenüber ist nicht nahbei, sondern kniet etwas entfernt, unter ihrem Schleier in den Anblick des Kindleins versunken. Der Esel steht ihr mit langen, aufmerksamen Ohren zur Seite, am nächsten ist dem Kindlein die gehörnte Kuh, sie ruht hinter dem Krippenbett und vier ihrer Rippen zeichnen sich deutlich unter der Rückenkuppe ab. Die Krippe steht in einer Nische unter der runden, wie frei schwebenden Kanzel, drei gefleckte Grautöne lassen aber deren Machart aus schwerem Stein erkennen, nur sind die hinaufführenden Stufen hinter einer Wand verborgen. Das Kirchlein duftet weihnachtlich, ein großer, fein geschmückter Tannenbaum nimmt den Platz vor dem Taufbecken ein und steht aufrecht links vor dem Rundbogen, der den Altarraum abgrenzt. Durch das Flachglas der beiden schmalen hohen Kirchenfenster rechts fällt das Mittagslicht und ich sehe, dass sich in einer Facette des blaugrundigen, mit Pflanzenornamenten gestalteten Fensters ein kleines Kirchengebäude findet, darunter die Jahreszahl 1975. Im zweiten, rotgrundigen Fenster wachsen gelbe Ähren in die Höhe, unter den Ähren links prangen in dem ihnen eigenen Blau drei Kornblumenblüten, und wenn man den Blick nach unten gleiten lässt, entdeckt man ein vierblättriges Kleeblatt in hellgrün , darunter so etwas wie seinen Schatten. Jetzt öffnet sich die Holztür zum Kirchlein und herein kommt ein junges Paar, es steigt die Treppe zur kleinen Empore hinauf und sitzt dort eine Weile ruhig in seiner dunklen Kleidung. Ich bleibe noch ein wenig, nachdem das Paar das Kirchlein verlassen hat, dann nehme auch ich die gusseiserne Klinke in die Hand und trete auf den Vorplatz, der sich 405 Meter über Normalnull auf dem südlichen Grat des Tüllinger Hügels ausbreitet und nach Süden und Westen die Rundsicht öffnet auf das nahe Basel und das gesamte Dreiländereck. „Ja, s’goht steil ufe“ hat mich ein älterer Herr beim Aufstieg entgegenkommend entschuldigt, als ich kurz pausieren musste. Ich habe gelesen, dass das Ottilienkirchlein im Jahr 1113 zum ersten Mal urkundlich Erwähnung fand, zusammen mit der Siedlung „Tülliken“. Daran denke ich, als ich schwach im Mittagsdunst hinter den Juraausläufern ein paar Alpengipfel erahne. Ich umrunde das Kirchlein, auf dessen Außenwänden sich die kahlen Bäume des Vorplatzes mit langgestreckten Schatten einschreiben, hinter dem Kirchlein öffnet sich noch der Blick hinunter nach Lörrach und hinüber zu den Schwarzwaldhöhen, dann geht es ein paar flache Stufen hinauf und an der Nordwand sehe ich ein Schild, das davon kündet, das dies einer der mythischen Orte am Oberrhein ist.
 

Allerheiligentag – Spaziergang 1

Am Allerheiligentag will ich hinauf nach St.Ottilien. Neben dem steinernen Brunnentrog, hinter dem man von der Röhrigasse nach links abbiegen muss, belehrt mich eine Infotafel über den Aufbau von Brunnenstuben und erzählt etwas über die Quellen des Tüllinger Hügels, die bis Ende der 1960er Jahre die Altweiler Haushalte mit Wasser versorgten. Katzgass, Sonnenbrunnen, Tschuppis , Schlipf und Röhrenbrunnen – die Namen der Quellen haben Charakter. Nun bin ich abgebogen und schon auf dem Trampelpfad durch wildes Wiesengelände, heute ist er trocken, aus seitlichem Dornengestrüpp leuchten sattrot Hagebutten, leicht steigt es sich bergan. Ungepflegte Bäume stehen verstreut, an manchen hängen noch Herbstblätter und wehen tibetischen Gebetsfahnen gleich im Wind. Ein Tunnel aus verflochtenen Ästen entlässt mich zu Treppenstufen, die man ins Steilgelände eingelassen hat, langsam nehme ich eine nach der anderen, bis ich St.Ottilien aufragen sehe und den Kirchvorplatz erreiche, dessen Kiesbelag kaum noch auszumachen ist unter einem gelbbraunen Blattteppich.  Jemand hat in die Brüstung der Sandsteinmauer Herzen und den Namen Jessica eingeritzt, ich stütze meine Ellenbogen darauf und blicke hinüber zu den Jurahöhen, die Alpgipfel halten sich heute in mildem Dunst verborgen. An einem warmen Spätsommertag stand ich hier mit plumpem Fuß und gegipstem Arm, das kurze Seidenkleid hatte die Farbe von Elfenbein. Ich stand inmitten einer frohen Hochzeitsgesellschaft, die Braut trug Lang und Kobaltblau, so hatte sie im Kirchlein auch ihr Versprechen gegeben unter einem Gemälde, das von Christus nur dessen aus Gewandfalten heraus weit gebreitete Arme zeigt. Heute ist der Kirchenraum still und leer, Sonnenstrahlen nehmen die Farben des Glasfensters mit und pinseln Flecken in Gelb, Türkis und Azurblau an die Wand. Auf dem Altartisch liegt eine alte Bibel aufgeschlagen, es ist das 7.Kapitel des Propheten Hesekiel, ich lese ein paar Sätze der Frakturschrift, dann verlasse ich das Kirchlein, es zieht mich weiter, dorthin, wo ich im Westen die Kuppen der Vogesen sehe und wo mir von der aufgebrochenen Krume eines Feldes schwacher Erdgeruch entgegen weht. Obwohl Mittagszeit ist, hat sich das Nebelband über dem Rhein nicht ganz aufgelöst, hier oben aber wärmt eine kräftige Herbstsonne und neben dem unveränderlich aus seinem Steinmedaillon blickenden Hindenburg hat sich allerlei Volk gesammelt. Ein Vater hat Mühe, den rosa Schmetterlingsdrachen des Töchterleins in die Höhe zu bekommen, laut italienisch parlierend entsteigt eine Großfamilie dem Auto und bereitet sich auf eine passeggiata vor, zwei schlanke Frauen lassen Walking-Stöcke einen sehr raschen Takt schlagen, ein wuschelköpfiger Junge wird vom Hund an der Leine gezogen und stellt seinen dahinschlendernden Eltern die Frage: „was bedeutet das eigentlich in der Menschensprache?“ Die kahl gewordenen Bäume des Obertüllinger Lindenplatzes haben über den noch immer grünen Boden ein großes Schattennetz geworfen, leicht schlüpfe ich durch seine weiten Maschen hinüber auf den Weg, von dem man hinunter ins Wiesental und hinauf zu den Schwarzwaldhöhen sieht. Dann tauche ich in den Wald ein, der licht ist und keinesfalls schwarz, `Hoherweg´ ist ein Holzschild beschriftet und hoch ragen stolze Stämme zu beiden Seiten des breiten Weges, der dem Hügelkamm folgt, weit oben strecken sie einander Blattkronen entgegen und der Himmel darüber leuchtet noch einmal in frischem Blau. Ein Specht klopft laut, Radfahrer passieren in Funktionskleidung und werfen sich von Helm zu Helm englische Worte zu, vor einem Blätterhaufen hockt ein kleines Mädchen und fragt mit staunender Neugier, was das für ein Käfer sei, es betrachtet seinen Fund lange, der Vater aber hat weder Name noch Geduld dafür. Mit einem Mal endet der Wald, die letzten Stämme rahmen den Blick ins Markgräflerland, ich wende mich wieder nach links, vor der Daurhütte brennt ein Feuer und ich nehme seinen Geruch mit und den der hellen Würste, die auf dem Grillrost brutzeln. Der Weg ist nun zweispurig in die sattgrüne Grasnarbe gefurcht und senkt sich langsam einem Dorf entgegen, das noch verborgen hinter der Kuppe liegt, obwohl es doch selbst auf den Hügel geschmiegt ist. Ein wenig verweile ich auf einer Bank, lasse den Blick über die Rheinebene schweifen, dann schaue ich ins mitgeführte Buch und gerade als ich mit spitzem Bleistift schön! neben einen Satz schreibe, setzt sich eine dicke schwarze Fliege auf die Stelle und rastet dort kurz.  Ich gehe weiter, hügelabwärts, das Dorf taucht auf, noch liegt der Kirchturm unter mir, bald aber ist er wieder der über mir Ragende, das Gasthaus Ochsen daneben hat Ruhetag, aber seine einfachen Stühle und Tische auf der Sonnenterrasse belassen und so sitzen hier diejenigen, die sich mit dem Genuss der noch einmal auftrumpfenden Sonne begnügen und die sich satt trinken an der Herbstfarbe der Rebreihen, die unter ihnen den Hügel überziehen. „On se répose cinque minutes“ lädt eine ältere Französin die begleitende Freundin mit weißer Schirmkappe ein und als die Kirchturmuhr schlägt, erzählt sie vom schönen Ineinanderklingen der „cloches“ mehrerer Kirchen einer französischen Stadt. Ich habe mich an einen runden Tisch gesetzt ganz vorne am Geländer, schaue in mein Buch oder über es hinweg bis zu den Dreieckstürmen, die sich in der Ferne vor den Jurahöhen aufbauen und bleibe nicht nur fünf Minuten, sondern so lange, bis unvermittelt ein kühler Hauch ans frühe Sinken der Sonne gemahnt. Da trete ich den Rückweg an und vollende die Schleife zwischen den Reben auf halber Höhe des Hügels, ein asiatisches Paar kommt mir entgegen, ganz in schwarz, noch laufen sie der im Westen tief stehenden Sonne entgegen, wir nicken uns zu und grüßen freundlich.

 

Erster Sonntag nach Weihnachten

„Auch der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für sich, wo sie ihre Jungen hingelegt hat – deine Altäre, HERR der Heerscharen, mein König und mein Gott.“ (Ps.84,4)

„Und Jesus spricht zu ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er sein Haupt hinlege.“ (Mt.8,20)

(Tageslosung und Lehrtext der Herrnhuter nach der Elberfelder Übersetzung – ein Spannungsbogen des Behaustseins)