„Fant“- asia

„Fant“ verlautbart der freudige Fratz, kaum dass er zur Tür herein gekommen ist, und steuert schon schnurstracks auf die Schublade zu, wo er die kleine Elefantenherde versammelt weiß und mit ihr einen Löwen samt Mähne, eine große und eine kleine Giraffe, ein Zebra mit geringelten Beinen, ein Nashorn samt Nashorn-Baby. Und kaum ist die blaue Tasche aus der Schublade gezogen, marschieren die freigelassenen Tiere schon auf dem kleinen Teppich, vielmehr durchs große Afrika, und der Löwe brüllt laut, die Giraffe streckt ihren langen Hals noch länger, der Elefantenbulle trötet fröhlich sein Törööö, das Nashorn stillt seinen Durst an der Teppichwasserstelle und der „Fant“-asia sind keine Grenzen gesetzt.

(Foto: Ursula Nuber, Hrsg.: „Wenn ich schreibe, habe ich niemals Angst“, Beltz-V., Weinheim u.Basel 2013; Ilse Helbich „Wie das Leben so spielt“, Literaturverlag Droschl, Graz-Wien, 2.Aufl.2023)

Matisse 3

(Text vom 28.Dezember 2024)

Nur einen kurzen Blick habe ich auf Collioure geworfen, länger dafür in Nizza verweilt, in Begleitung eines jungen Mannes, dessen erster Name der eines Psalmdichters ist, der zweite dem nachgebildet, den wir an Weihnachten im „Veni, Veni“ angerufen haben.

In Nizza ist kein Weihnachten, Sommer aber kann es auch nicht sein, sonst säße die Frau nicht im langärmligen Kleid auf dem Balkon und sie würde auch keine langen schwarzen Strümpfe zu ihren schwarzen Pumps tragen. Kalt jedoch ist es auch nicht, denn das Zimmerfenster steht weit offen und die Frau auf dem Balkon hat keine Jacke an und braucht auch keine Decke. Es geht kein Wind, der dunkle Pagenkopf der Frau sitzt fest, die langen Vorhänge zu beiden Seiten des Fensters sind nicht gebauscht, das Meer landet nur mit einer einzigen weißen Gischtwelle an, ansonsten dehnt es sein tiefes Blau ruhig bis zum Horizont, auch bleibt die schwarze Vase mit ein paar roten Blüten ungerührt auf dem Tisch links im Zimmer stehen und die weiße Tischdecke fällt unbewegt fast bis zum Boden. Der Himmel hat keine Wolken, leiht aber sein helles Graublau dem hohen Fensterflügel rechts, links ist der türkisgrüne Schlagladen nach außen gewendet und im oberen Teil verbirgt der helle, durchsichtige Vorhang dessen Ritzen, nicht aber seine Farbe. Ein bisschen Sonnenlicht fällt von links herein, der rechte Vorhang fängt es im oberen, ausgebreiteten Teil ein, so dass er im Weiß der Welle erstrahlt, nach unten wird er von einem schrägen Band gefasst, wie auch der linke.

Saß die Frau eben noch im Stuhl mit der ovalen, gepolsterten Rückenlehne, der hinter dem Tisch vor der Wand steht, und ist sie es, die das an der Wand hängende Gemälde abbildet? Das Kleid jedenfalls hat denselben Schnitt und die gleiche beige Farbe. Oder saß die Frau im Halbrund des Sessels vor dem Tisch? Gut hätte sie sich dort farblich eingefügt. Das Buch, das mit dunklem Rücken nach oben links neben der Vase auf dem Tisch liegt, verrät nicht, ob die Frau von Stuhl oder Sessel aufstand, um den Platz auf dem Balkon einzunehmen. Aber steht nicht der Sessel etwas vom Tisch weg und nach rechts in den Raum geschoben, so dass doch er es ist, auf dem eben noch jemand saß? Vielleicht ja gar nicht die Frau, sondern ein Gegenüber, jemand, der sich nun weiter ins Innere zurückgezogen hat und von erhöhter Position auf die Szenerie schaut? Auf den zartroten diagonal gekachelten Boden, das kleine Beistellmöbel aus dunklem Holz rechts, auf das sanfte Muster der Wände, die jetzt wie entfernt wirkende Frau auf dem Balkon? Jemand in einer Höhe mit dem blauen Horizont, jemand, der nun sieht, dass – obwohl in Nizza rar – der Sand es ist, der den Wänden, dem Sessel, dem Kleid der Frau und dem Balkon die Farbe übertragen hat.

„Das ist wohl dein Thema“ meint mein junger Begleiter, nachdem ich auf meine Lieblingsexponate der Ausstellung hingewiesen habe, die sämtlich -meist offene- Fenster ins Bild rücken. Auf jeden Fall war es ein zentrales Thema von Henri Matisse, wie der Text zu „Grand intérieur, Nice“ (Öl auf Leinwand, Nizza 1919) im Begleitheft weiß: „Das Motiv des offenen Fensters als Schnittstelle zwischen innen und außen hat Matisse immer wieder fasziniert, insbesondere in Zeiten der künstlerischen Krise.“

(Matisse-Einladung zur Reise, Fondation Beyeler noch bis zum 26.Januar 2025; das Bild „Grand intérieur, Nice“, Nizza 1919, hängt sonst in The Art Institute of Chicago)

Epiphanias – Dreikönig – Trois Rois

In Baden-Württemberg ist heute Feiertag, „Heilige Drei Könige“ steht in meinem Kalender. In den benachbarten Schweizer Kantonen gilt der Tag als „Ereignistag“, aber nicht als Feiertag. Und wer weiß noch, dass Epiphanias ist – Fest der Erscheinung des HERRN? Die orthodoxen Kirchen feiern das Hochfest der Theophanie des HERRN, in den Westkirchen ist der Tag den Weisen aus dem Morgenland und ihrer Anbetung des Kindes zugeordnet. „Die Magier aus dem Osten“ ist in der Elberfelder Bibel das Kapitel im Matthäusevangelium überschrieben und nur von diesem Evangelisten werden die „Magoi“, die Weisen oder Sterndeuter, erwähnt (Mt.2). Auch ist nicht genannt, wie viele dieser Magoi es waren, die im Morgenland den Stern sahen, ihm dann folgten und sich mit sehr großer Freude freuten, als sie ihn über der Stelle sahen, wo das Kind war. Drei wertvolle und bedeutungsreiche Gaben bringen sie, dies ist eine von mehreren Erklärungen, warum später drei Könige aus ihnen wurden.

In unserer Regio Trirhena sind die drei Könige auch angekommen. In Lörrach residieren sie am Marktplatz, das „Drei König“ wechselt zwar des Öfteren den Besitzer und das Konzept, nicht aber den Namen. In Basel existiert als eines der ältesten Hotels der Schweiz das „Les Trois Rois“, 1681 wurde es erstmals als „Herrenherberge und Gasthof zu den drei Königen“ erwähnt. Es liegt direkt am Rhein und an der Mittleren Rheinbrücke, und schaut man an seiner Straßenfront hinauf, sieht man die Drei Könige hoch über dem Eingang auf ihren Podesten stehend thronen. Das „Les Trois Rois“ (bis 2006 „Hotel Drei Könige“)  gehört als 5-Sterne-Luxushotel heute zu den „Leading Hotels of the World“ . Eine im Netz zu findende Publikation des Hotels titelt „Grosses Hotel – Grosse Geschichte“ und liefert mir eine Erklärung auf meine Frage, warum Hotels den Namen Drei Könige tragen: offenbar war dieser Name beliebt für Gast- und Wirtshäuser in der Nähe von Handelswegen. Das Basler Hotel hat bereits viele prominente Menschen beherbergt, zum Beispiel Königin Elisabeth II., Kaiserin Michiko von Japan, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Liszt, Robert und Clara Schumann, Gustav Mahler, Ella Fitzgerald, Bob Dylan, die Rolling Stones, Katia und Thomas Mann, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Valéry Giscard d´Estaing, den Dalai Lama, Pablo Picasso, Marc Chagall, Jean Tinguely, Niki de Saint-Phalle- und auch Napoléon Bonaparte war dort schon Gast. Während des fünften Zionistenkongresses entstand 1901 das bekannteste Foto Theodor Herzls: Herzl steht mit gefalteten Händen, die Ellenbogen aufs Geländer der Terrasse des Trois Rois gelehnt, und schaut – wohin? Nicht auf den unter ihm fließenden Rhein.

Zweiter Sonntag nach Weihnachten

In manchen Kirchengemeinden ist es Usus, im Gottesdienst zum Jahresausklang Losungskärtchen zu ziehen für das neu beginnende Jahr. Nicht im Sinne eines Orakels, sondern als eine Begleitung durch das Jahr. Ich habe am 31.Dezember die Karte „Ewigkeit“ gezogen und war doch etwas erstaunt über die Dimensionen einer solchen „Begleitung“. Keine lineare Dimension der Zeit in der Art, wie wir oft Zeit verstehen. Im angegebenen Vers 1.Petrus 1,25 heißt es „Aber das Wort des HERRN bleibt in (die) Ewigkeit (hinein).“ Im griechischen Text steht hier für „Wort“ rhema, nicht logos.

Das Bild des Baumes auf dem Kärtchen dazu gefällt mir, der Baum ist mit den Wurzeln in der Erde verankert und wächst mit den Ästen in die Unermesslichkeit des Universums hinein. Das Gesagte, die Kunde ist bleibend in die Ewigkeit hinein.

Fühlen-Denken-Erinnern-Schreiben

Dann und wann erhalte ich schöne Geschenke. Zum Beispiel Mitte Dezember diesen Band, der eine Vorlesung und eine Rede von Siri Hustvedt (geb.1955) anlässlich des 20jährigen Jubiläums der Tübinger Poetik-Dozentur 2016 enthält, ergänzt u.a. durch ein Gespräch, das Siri Hustvedt mit dem Neurophysiologen Vittorio Gallese (geb.1959; bekannt für Mitentdeckung der Spiegelneurone) über Neurowissenschaften und Literatur führte.

Heute habe ich begonnen, dahinein zu lesen und zum Beispiel etwas über die vom „Philosophen der Narration“ Paul Ricoeur (1913-2005) so genannte „dritte Zeit“ erfahren, den „Beginn einer speziellen Zeit des Geschichtenerzählens“ (zwischen phänomenologischer und kosmologischer Zeit, S.9 u.15)

Weiter geht es auch um die (nicht unidirektionalen) Verknüpfungen von Erinnerung und Imagination und deren Bedeutung für das Schreiben von Geschichten. Auf Seite 21 heißt es: „Jeder in einer Familie weiß, dass manche Erinnerungen der Imagination entsprungen sein müssen. Wie könnten zwei Schwestern dasselbe Ereignis sonst ganz unterschiedlich in Erinnerung haben?“

Gut, da muss ich doch noch herausfinden, ob jemand außer mir sich noch daran erinnert, dass wir vor vielen, vielen Jahren einmal Wernher von Braun (gest.1977) begegnet sind, nur kurz, in einem Aufzug. Es war in einem Hotel, bei einem Familientreffen, in der Landeshauptstadt. Oder???

(übrigens war Emmanuel Macron von 1999 bis 2001 Ricoeurs wissenschaftlicher Assistent und hat ihn in seiner Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse 2017 erwähnt)

(das abgebildete Buch zur Tübinger Poetik-Dozentur 2016 ist im Swiridoff-Verlag, Künzelsau 2017 in 1.Aufl. erschienen; Stiftung Würth)

Matisse 2

(Text vom 11.Dezember 2024)

Endlich! Endlich ist sie in Collioure. Fast hatte sie nicht mehr daran geglaubt. Wie oft hatte sie das Autobahnschild gesehen, schwarze Buchstaben auf weißem Grund, Collioure, da hätte man abfahren müssen, aber nie wurde die Ausfahrt genommen, weder auf der Hinfahrt, auf der das Ziel bald erreicht war, noch auf der Rückfahrt, auf der es noch weit war bis zum Ziel. Und so las sie nur immer wieder das Schild, Jahr um Jahr, mehrmals im Jahr, Collioure, unzählige Male Collioure. Es war ihr immer aufgefallen, sie konnte gar nicht genau sagen, warum. Collioure, der dunkle Klang mit dem klaren, kräftigen Beginn, das weiche Gleiten in der Mitte, das eher offene, aushauchende Ende. Auch auf der Landstraße war man einmal daran vorbei gefahren und sie hatte an den kleinen Hafen gedacht, an die dicken, rundlichen Festungsmauern und an den Felsen, der sich ins Meer vorschob. Nie war sie den Chemin de Fauvisme gegangen und nie in der Brasserie des Templiers eingekehrt, wo Matisse, Derain, Braque, Picasso und andere sich zu einem auf die roten Lederbänke gesellten oder gerade an den Wänden freien Platz suchten für neue Gemälde.

Jetzt aber, jetzt ist sie da! Aus ihrem kühlen Zimmer schaut sie aus dem weit offenen Fenster auf die Reihe der Segelboote, die sanft im Hafen schaukeln. Das flirrende Licht zerlegt die Luft in einzelne Punkte, das Meer schickt einen Hauch von Salz- und Fischgeruch, eine warme Brise erlaubt sich einzutreten und ihre Haut anzufassen. Sie geht näher ans Fenster, will dem Geheimnis der Horizontlinie begegnen und den wenigen Wolken folgen. Sie lehnt sich hinaus, ein Blatt aus den Blumentöpfen berührt ihren Unterarm, es kitzelt ein bißchen. Sie schaut nach rechts und nach links, wo taucht die Wehrkirche auf, wo die alte Ringmauer und wo das Felsinselchen St.Vincent mit der kleinen Kapelle? Ja, später wird sie da und dort gehen, durch Collioure, sie wird sich Zeit lassen und die Farben inhalieren. Erst aber will sie noch ein wenig ruhen in der Kühle des Zimmers, die Fensterflügel schließt sie nicht, es ist schön, im Drinnen die versprengten Partikel des Draußen zu spüren.

(Henri Matisse „La fenêtre ouverte“, Collioure 1905, Öl auf Leinwand; derzeit zu sehen in der Fondation Beyeler, Riehen „Matisse-Einladung zur Reise“, noch bis 26.01.2025; sonst in der National Gallery of Art, Washington D.C.)

Ein blauer Koffer

Ein blauer Koffer reist allein. Irgendwo in einem Regionalzug sitzt er und fährt durchs Rheintal. Genießt er die Reise oder fühlt er sich verloren? Vielleicht hat er ja schon nette andere Koffer kennengelernt und unterhält sich gut. Koffer in Rot, in Schwarz oder gar in Türkis? Andere Stoffkoffer jedenfalls, wahrscheinlich fremdelt er ein bisschen mit denen aus Aluminium. Vielleicht sitzt der blaue Koffer aber auch ruhig und erkundet sein Innenleben. Endlich hat er Zeit dafür. Und das Hin- und Herfahren des Zuges hilft ihm dabei, erst geht es in diese Richtung, dann kommt der Wendepunkt und es geht in jene.

Hallo, Koffer! Zu gerne wüsste ich, wie es dir geht! Hast du schon herausgefunden, welcher Teil deines Innenlebens dir am besten gefällt? Ist es das weiße Hemd? Oder der graue Pullover? Gar ein Rasierapparat oder etwa ein edler Schlafanzug, der mit den Knöpfen blinzelt – ach nein- blinkt? Wolltest du vielleicht ein Abenteuer erleben, lieber Koffer, oder einfach noch einmal jung sein, zumindest im Geiste? Obwohl du schon alt bist und auch ein wenig verschlissen, dein Meeresblau etwas verblasst ist und die graue Paspelierung abgewetzt, erfüllst du doch deine Bestimmung blendend. Die Krampen deiner Reißverschlüsse greifen ineinander wie die Sprachen des Rheintals (vielleicht redet ein roter Koffer ja gerade französisch mit dir? Oder du unterhältst dich in alemannisch oder baseldytsch?) Beweglich bleibst du auch, blauer Koffer, mit deinen Rollen, obwohl es nicht vier sind, sondern zwei. Beweglich ist wichtig, finde ich. Flexibilität ist gefragt in unserer volatilen Welt, das weißt du. Bei aller Standhaftigkeit, die du ja auch hast. Zum guten Glück hast du die, die Standhaftigkeit meine ich. Und die Flexibilität, die natürlich ohnehin. Mitnehmen lässt du dich auch, lieber Koffer, an einem versenk- oder ausziehbaren Griff. Je nachdem, wie man es sieht. Ach schau mal, da kommt es doch sogar auf die Perspektive an. Perspektive ist wichtig, finde ich. Auch dass man sie mal wechselt. Aber natürlich nicht wie ein Hemd. Es sei denn, man wechselt das Hemd mit Bedacht. Bedacht ist immer gut, finde ich. In dieser und in jener Bedeutung. Da fällt mir ein, sprach nicht neulich jemand von „ohne Himmel sind wir unbedacht“? Ich hoffe, lieber Koffer, du schaust nicht nur ins Innenleben, sondern auch aus dem Fenster und siehst einen Himmel! Heute hat er nämlich Bilderbuchfarben, zuerst ein Rosé und dann ein ganz helles, zartes Blau, wie gemalt. So schön.

Genieß mal deine Reise, blauer Koffer, ich wünsche dir nur Gutes dafür! Passt doch, passt zum Neuen Jahr, dass du dich aufgemacht hast!

(Übrigens: der Herr des Koffers ist für Hinweise zu seinem Verbleib dankbar. Also, falls jemand im Rheintal einem blauen Ziehkoffer mit grauen Paspeln begegnet: macht Meldung!)

Der edle Schlafanzug

(Text vom 2.September 2024)

Sind Sie interessiert? fragte der edle Schlafanzug den Herrn. Der Herr, nennen wir ihn Christian, wusste nicht so recht. Er schaute den schwarzen Anzug mit den weißen Paspeln und den vier weißen Knöpfen nachdenklich und ein wenig unentschlossen an. Solch einen Schlafanzug hatte er noch nie besessen. Schwarze Seide. Christian stellte sich vor, wie der Stoff auf der Haut liegen würde, leicht und kühl im Sommer, temperierend im Winter. Na, fragte der Schlafanzug, der in der Auslage eines feinen Herrengeschäftes lag, wäre ich nicht etwas für Sie? Christian zögerte noch immer, er war irritiert, noch nie hatte ein Schlafanzug mit ihm gesprochen. Er ging ein paar Schritte zurück, weg von dem Schaufenster. Das konnte doch nicht sein, was war nur in ihn gefahren? Er schluckte, sein Mund war trocken, er wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, der Tag war schwül. Er musste sich beruhigen, unbedingt. Wahrscheinlich war er zu lange alleine gewesen, und nun hörte er sogar schon Schlafanzüge sprechen. So ein Blödsinn. Er musste unbedingt wieder unter Leute. Christian schob die Brille hoch, linste mit einem Auge zum Schaufenster. Jaja, sagte der Schlafanzug, Sie können es nicht lassen, nicht wahr? Erschrocken sprang Christian zur Seite, heftete seine Augen auf einen überquellenden Mülleimer, der am Straßenrand stand. Nicht, dass der nun auch noch zu sprechen anfing! Christian wurde mulmig zumute. Nein, der Mülleimer blieb ruhig, Gott sei Dank. Raschelnde Seide, lockte der Schlafanzug, kühl auf der Haut und nur der Hauch einer Berührung. Christian bekam Herzrasen. Der Schlafanzug schimmerte schwarz und die weißen Knöpfe blinzelten, nein, blinkten, korrigierte Christian sich. China, dachte er, Maulbeerbaum, Seidenraupe, Seidenspinner. Sein Denken funktionierte also noch, stellte er fest, das war gut, sehr gut war das. Hallo, Schlafanzug, probierte Christian vorsichtig und machte ein paar tastende Schritte Richtung Schaufenster. Der Schlafanzug nickte, na siehst du, geht doch. Oh, dachte Christian, war man jetzt schon per Du? Er hielt inne, schaute nach links und nach rechts, bemerkten andere Passanten, was da vor sich ging? Hoffentlich nicht, aber was sollten sie auch bemerken, dachte Christian,  schließlich war er nur ein unauffälliger Mittvierziger mit leicht angegrautem Haar, der vor der Auslage eines Herrengeschäftes stand. Das war doch ganz normal, ganz normal war das. Christian dachte daran, dass er einmal davon gelesen hatte, wie trickreich die Eier der Seidenspinnerraupe nach Europa gebracht worden waren. Und dass in Lucca – wann war er nochmal in Lucca gewesen, der von einem Wall gehaltenen Stadt, Jahre war das her, Jahre – dass also in Lucca  die Seidenherstellung florierte, bis sie von dort fliehen musste und nach Venedig kam, hm, ja –  Venedig, auch das war Jahre her, Jahre. Bist du noch da, fragte der schwarze Schlafanzug und brachte seine Paspeln in Position. Christian zuckte zusammen, klar, sagte er, klar bin ich noch da, und wie ich da bin, ganz und gar da. Stimmt, dachte er und spürte, wie plötzlich ein Windhauch seine Stirn kühlte. Das war angenehm, Christian fing an, sich wohl zu fühlen, öffnete die Augen weit, die Augendeckel hoben sich jetzt leichter, ging einen weiteren Schritt Richtung Schaufenster, und sagte, nun mit kräftigerer Stimme, ja hallo, guten Tag, seidener Schlafanzug, ich grüße dich. Jetzt wunderte sich der Schlafanzug ein wenig, schon eine Weile lag er nämlich in der Auslage, schimmerte vor sich hin und warb vergeblich um Interesse. Die meisten gingen rasch vorüber, schauten kurz und oberflächlich, wandten sich wieder ab und ihren Geschäften zu. Dabei wusste der Schlafanzug um seinen Wert. Gut also, sagte Christian und nickte dem weißgepaspelten Schwarzen zu, du hast zu mir gesprochen, wie lange niemand mehr hast du gesprochen, ich fange an, dich zu verstehen, warte, ich komme und nehme dich mit nach Hause. Sprach’s, beschleunigte die letzten Schritte und nahm die Türklinke zum feinen Herrengeschäft in die Hand. Der Schlafanzug zwinkerte, mit allen vier Knöpfen.
 

Matisse 1

(Text vom 6.Dezember 2024)

Lieber Henri Matisse,

in Ihrem schönen Frankreich herrscht gerade ein großes Durcheinander. Wie ja überall gerade ein großes Durcheinander herrscht, wo man auch hinschaut oder hinhört oder hinliest. Es ist wirklich ganz fürchterlich. Aber das soll uns jetzt hier nicht beschäftigen. Ich wollte Ihnen vielmehr erzählen, dass ich heute zum dritten Mal in der Ausstellung Ihrer Werke war. Diesmal in Begleitung einer Freundin. Und das war nun wieder ein ganz anderes Erleben! Zum Glück war es trotz (oder wegen?) des Tages des Bischofs von Myra relativ ruhig in den Räumen, also so ruhig es halt sein kann, wenn man solch eine Retrospektive Ihres Schaffens dahinzaubert im Dreiländereck. „Da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“ – Monsieur Baudelaire bringt es auf den Punkt und wir haben die ganze Reise gemacht von Saal eins bis Saal neun und sogar im Saal zehn verweilten wir noch und schauten durch die (vom Museum) so genannten Fenster auf die Orte Ihres Schaffens und auch auf Sie selbst, lieber Henri (darf ich Sie so nennen?), sogar in Überlebensgröße sind Sie uns da begegnet und wir haben gesehen, wie Sie mit der Schere zugange waren und wie Sie mit dem langen Zeigestock bestimmt haben, wo und wie genau die ausgeschnittenen Formen platziert werden sollen, damit es eine Komposition ergibt nach Ihrem Kopf und nach Ihrer Herzenslust , „da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“. Sie träumten von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände, (…), eine Erholung für das Gehirn, sagten Sie – und wissen Sie was, ich finde, das ist Ihnen doch schon gelungen, zumindest oft, sehr oft ist Ihnen das gelungen. Und zwar von Anfang an und über die Jahrzehnte, in denen Sie sich weiterentwickelt oder ganz neu erfunden haben. „Da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss.“ Und Sie konnten genießen, was Sie gefunden haben, das Licht zum Beispiel, dem Sie gefolgt sind, Sie konnten Ihr Glück nicht fassen, sagten Sie, als Ihnen in Nizza bewusst wurde, dass Sie dieses Licht täglich würden wiedersehen können. Wie schön, lieber Henri, dass Sie sich dieses Glück so bewusst gemacht haben, ich finde so etwas toll, und toll finde ich auch, wie Sie versucht haben, dieses Licht einzufangen, einfach großartig. Vielleicht erzähle ich Ihnen ein andermal mehr zu Collioure und zu „La fenêtre ouverte“ (Collioure,1905), das mag ich nämlich besonders, für heute muss ich schließen, nur eins noch: ich frage mich, ob das Amélie ist, die da so für sich am Klavier sitzt, ganz in Ruhe mit der Musik? Ich nehme mir jetzt mal die Zitrone, die von der Schale gekollert ist, die wird mich erfrischen, danke, lieber Henri, vielleicht bis bald zu „Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“,

Ihre ….

(Amélie sitzt auf dem Gemälde: Pianiste et nature morte, Nizza, um 1923/24)

(Refrain aus „L’invitation au voyage“ von Charles Baudelaire, übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff)

(Ausstellung Matisse – Einladung zur Reise noch bis 26.Januar 2025, Fondation Beyeler, Riehen)