Die Königin der Berge

Zu einer der 52 Wanderungen begleitet man Franz Hohler auf den „Mons rigidus“, also den Rigiberg. Die Römer hätten ihn so genannt, weil er „stotzig“ sei, also steil. Eigentlich meint „rigidus“ ja steif und die Namensherkunft der „Regina montium“, wie der Dekan des Klosters Einsiedeln, Albrecht von Bonstetten, die Rigi in seiner Landesbeschreibung des eidgenössischen Gebiets 1479 taufte, ist wohl am ehesten dem schweizerdeutschen Gattungswort „Rigi“ zuzuschreiben, das eine horizontal laufende Schichtung bezeichnet. Darauf deutet die im 14. und 15. Jahrhundert gebräuchliche Verwendung der Pluralform „Rigenen“ hin, die 1439 durch die Verwendung des Singulars ersetzt wurde, wobei das sprachgeschichtlich richtige weibliche Geschlecht zwar nun meist, aber insgesamt nicht durchgehend verwendet wird. Die/der Rigi ist also ein Zwitterwesen.

Franz Hohler ist an einem Märzsonntag auf dem Rigi und sieht vor sich das „Inselreich der Alpengipfel“, das von „einem atlantischen Nebelmeer umspült“ wird, was ihn über allerlei dort herumschwimmende Steinzeittiere fantasieren lässt.

Das kann ich nachvollziehen, denn auch ich fahre an einem Tag im März mit dem Kursschiff „vo Luzärn uf Wäggis zue“, wie es im Rigilied heißt, das Johann Lüthi 1832 komponierte, allerdings begegnen mir im Schiff nicht die „schönen Maidli“ der zweiten Strophe, sondern eine Gruppe junger Männer, jeder mit Gebetsriemen und Kippa angetan. Das Schiff gleitet durch dichten Nebel, nur ab und an sehe ich an den Ufern Boote in ihren hölzernen Häusern hängen. Ich steige nicht in Weggis aus, sondern erst in Vitznau, wo mich die Schifflände um 10:09 Uhr mit ihren Jugendstilbuchstaben empfängt. Wenige Schritte sind es nur bis zur Zahnradbahn, die mich auf die Königin der Berge befördern soll. Dann geht es los, der Aufstieg beginnt, „liebi Gäscht“ sagt eine freundliche Stimme und „wir freuet üüs“, ich freue mich auch, zumal ich bald dem Nebelmeer enthoben bin, eine Märzensonne den Himmel erhellt und sich auf den Bergwiesen Unmengen von Schlüsselblumen tummeln. Dann bleibt mir das Himmelsblau, als ich in Kaltbad auf 1423 Meter über Normalnull aussteige, die Sonne spielt nun aber nicht mehr mit den gelben Blüten, sondern mit dem Schneeweiß, das ihr gerne ein Funkeln zurückwirft. Ich mache mich auf den ebenen Weg Richtung Känzeli und verpasse nicht die Waldkirche, die mich hinter einem hohen Felsbrocken überrascht, das Dach ihres mit Holzschindeln versehenen Vorbaus trägt eine Schneekappe und in ihrem Innern erwartet mich neben der Stille ein warmes Leuchten. Beim Weitergehen entdecke ich 900 Meter unter mir die Hohlerschen Seeungeheuer, die aufgetaucht sind, aber keinen Schrecken verbreiten, weil sie inmitten weißer Wattebäuschchen, in die der Nebel sich verwandelt hat, friedlich  lagern. Bis ich beim Känzeli angelangt bin, hat die Sonne auch die Wattebäuschchen auseinandergerupft und ich habe einen wahrhaft königlichen Blick auf Luzern, auf die Wasserläufe des Vierwaldstättersees und auf die Firnis der Alpengipfel gegenüber.

(Franz Hohler „52 Wanderungen“, Luchterhand Literaturverlag München, 4.Aufl.2005)

Erster Sonntag nach Epiphanias

Für Sonntage schlagen die Herrnhuter Losungen immer einen Psalm zu lesen vor, heute ist es der vierte. Manche Psalmen enthalten in Vers 1 die Angabe des Verfassers und dessen Anweisungen, wie der Psalm zu singen ist, hier sagt David „mit Saitenspiel“:

„Wenn ich rufe, antworte mir, Gott meiner Gerechtigkeit! In Bedrängnis hast du mir Raum gemacht…Der HERR hört, wenn ich zu ihm rufe. …Denkt nach in eurem Herzen auf eurem Lager, aber seid still!….Viele sagen, wer wird uns Gutes schauen lassen? Erhebe, HERR, über uns das Licht deines Angesichts! Du hast Freude in mein Herz gegeben, mehr als jenen zu der Zeit, da sie viel Korn und Most haben.“

(aus den Versen 2,4,5,7,8 nach der Elberfelder Übersetzung)

Paula Rego

Weder das Ausstellungsplakat („Angel“, 1998) noch der Titel der Ausstellung „Machtspiele“ hatten mich besonders angesprochen. Dann aber bin ich im Kunstmuseum und entschließe mich, sie doch kennenzulernen: Paula Rego (1935-2022), die in ihrem Geburtsland Portugal und in ihrer Wahlheimat Großbritannien als sehr bekannt gilt; in ihrem Todesjahr wurde eine Auswahl ihrer Werke im zentralen Pavillon der 59.Biennale gezeigt .

Von neun Sälen gehe ich erst einmal nur durch vier und konzentriere mich dabei auf wenige Exponate, es ist nämlich aufwühlend, zum Teil auch widerspenstig, was die dreifache Mutter an Werken in den sieben Jahrzehnten ihres Schaffens hinterließ. Zumal Themen wie Machtdynamik in Politik und Gesellschaft, Geschlechterrollen und Geschlechterkampf uns derzeit auf teils nicht mehr für möglich gehaltene, auch alarmierende Weise einholen. Unbequemes und Verdrängtes habe Paula Rego in den Blick genommen, heißt es im Begleitheft, sich dabei Konventionen und Erwartungen widersetzt und „Werke von großer emotionaler Intensität“ geschaffen.

„Staatsgewalt“ ist Raum 3 überschrieben, Raum 4 mit „Geschlechterkampf“, in Raum 2 findet der Begriff der „Familienaufstellung“ Verwendung, „The Family“ heißt eines der Gemälde, für das ebenfalls 1988 entstandene „The Dance“ stand Paula Regos Sohn Nick im Anzug seines in diesem Jahr verstorbenen Vaters Victor Willing Modell. In „The Dance“ würde sich „der Wechsel von Beziehungen und Für-Sich-Sein als ein Rhythmus des Lebens“ zeigen, meint der Text des Begleithefts. Schön ist, dass im Raum auch vier Vorskizzen zu „The Dance“ zu sehen sind, die unterschiedliche Figurenkonstellationen probieren und entwickeln, von einem in der Gruppe getanzten Reigen hin zu anderen Konstellationen, die sich dann in der Komposition des Gemäldes erneut variiert und ausgearbeitet wiederfinden.

Saal 1 widmet sich den seltenen, weil von Rego nicht präferierten Selbstporträts („Selbstbilder“), ein Verwirrspiel seien diese oft, so gibt zum Beispiel ein Spiegelbild nicht Paula Rego, sondern ihr Modell wieder. Auf „The Artist in Her Studio“ (1993 mit Acrylfarben gemalt) inszeniert die Künstlerin sich raumgreifend und wie auf einer Bühne, im Vordergrund liegen – in diesem Ambiente unerwartet- detailliert dargestellte Kohlköpfe.

(noch bis 2.Februar 2025 im Kunstmuseum Basel; auf youtube ist ein knapp 14-minütiger Rundgang mit der Kuratorin Eva Reifert abrufbar: „Paula Rego im Kunstmuseum Basel“)

Morning Sunshine

Er macht er sich gerade etwas rar, der morning sunshine, und ich kann auch nicht, wie noch vor wenigen Tagen, das ‚Alpenglühen‘ beobachten an den basylonischen Türmen. Umso mehr halte ich mich des Morgens an meinen Lieblingskaffeebecher, der mir den morning sunshine garantiert, und zwar in leicht ungelenken schlanken Majuskeln, als habe sie soeben jemand mit einem schwarzen Filzstift auf das Porzellanweiß geschrieben.

Es ist ein ganz einfacher Becher, aus einem Billigladen, ich bekam ihn einmal geschenkt. Ich mag seine Form, er hat eine nicht ausladende, ganz gerade, nicht zu breite Ausführung. Seine Höhe beträgt 10,6 Zentimeter, sein Durchmesser 7 Zentimeter und an seinem schmalen Henkel, der geschwungen ist wie ein halbes Herz, kann ich ihn gut in die rechte Hand nehmen und zum Mund führen, meist wärme ich dabei die Linke an der gegenüberliegenden Seite. Vor allem aber ist der Rand des Bechers maximal 2 Millimeter dick (es ist im gesamten Kreisrund nicht überall exakt gleich) – ich trinke nämlich nicht gern aus dickrandigen Gefäßen!

Aus diesem Gefäß mundet der Inhalt gut, ein Inhalt, der sich der Farbe der Majuskeln angleicht, ohne jegliche Beigabe von Becherfarbe (weder in flüssiger noch in würfeliger oder sonstwie gearteter Form). Der Inhalt des Bechers verharrt also noch in der Farbe der Nacht, der Inhalt der schwarzen Aufschrift aber kündet mir von dem, wonach ich lechze: MORNING SUNSHINE .
 

Blaugrün

Sie steht und schaut aufs Wasser.

Es ist nicht ihr gewohntes Wasser, nicht das, auf das sie immer blickt im September, seit Jahren, genaugenommen seit Jahrzehnten. Sie hat auch nicht den Sand unter den Füßen, von dem sie jedes Korn zu kennen glaubt, das sich unter ihren Fußsohlen und zwischen den Zehen findet. Auch weht ihr nicht jener Wind die Haare ins Gesicht, der Luftmatratzen und Sonnenschirme fliegen lässt, wenn er auffrischt.

Nein, sie steht in einem kleinen Kunstraum, in den sie zufällig geriet, als sie verwinkelten Gassen folgte und über kleine Brücken stieg. Werke aus einem fremden Land füllen den Raum, manche üppig und farbenfroh, andere bedrückend und düster. Nur Wenige verweilen hier, der Eingang ist versteckt, draußen hat eine Spätsommersonne den Regen vertrieben und an den bekannteren Wassern drängen sich Menschen in luftiger Kleidung, mit großen Sonnenbrillen im Gesicht und hübschen Strohhüten auf den Köpfen.

Das Land im Kunstraum ist dreizehn Flugstunden entfernt, es ist kein kleines Land, viele leben dort. Fremdes Land, fremde Menschen. Sie erinnert sich, dort einmal eines dieser Patenkinder gehabt zu haben, sie hat nur Geld gezahlt, nicht den Briefkontakt ermöglicht, keine Zeit, andere Prioritäten.

Jetzt vertieft sie sich in die einfache Rötelzeichnung mit der Skizze einer Menschenschlange, angeführt von einem gebeugt gehenden Mann und einer müden Frau, die ein Kind trägt, ein größeres hält sich an ihr fest, auf dem Rücken schleppt die Frau die wenige Habe. Im Bildvordergrund links stehen zwei weitere Frauen, mit bedecktem Haar und weichen Zügen, die jüngere hat die Lider geschlossen, die Augen der älteren sind wach hinter großen Brillengläsern, mit beiden Händen umfasst die Frau den Kopf eines Jungen, als würde sie ihn segnen. Fremdes Land, nahe Menschen. Würde der Meeresspiegel dort einen Meter steigen, wäre der Lebensraum von Millionen vernichtet.

Im Kunstraum ist es ganz ruhig. Ein Fenster ist geöffnet. Milde Luft berührt die Exponate. Sie wendet den Blick weg von der Zeichnung durch die Gitterstäbe des offenen Fensters. Auf dem Blaugrün des Wassers, das bis ans Fenster reicht, tanzt das Sonnenlicht und die Holzpfähle gegenüber haben gelbe Enden.

(Text vom 24.November 2024, etwas überarbeitet)

Widmungen aus Licht

Ich habe ihn gewonnen! Den Ausstellungskatalog der Dan Flavin- Ausstellung „Widmungen aus Licht“, die vom 2.März bis 18.August 2024 im Kunstmuseum Basel stattfand! Gewonnen habe ich ihn im Adventskalender-Gewinnspiel des Museums (der kreativste Kommentar gewinnt) und dieser Tage dort abgeholt (ich muss sagen, dass ich diesmal den absolut besten Tag zum Gewinnen erwischt habe; und: es ist nicht schwer zu gewinnen, es machen nämlich nicht viele mit). Der Katalog widmet mir äußerlich ein Burgunderrot und innerlich reichhaltige Lichtsensationen in Bild und Text. „Neben dem Licht als Medium (die Leuchtstoffröhre) und dem Licht als ‚conditio sine qua non‘ der Kunstbetrachtung (physikalisch), hat das Licht auch andere Konnotationen, sei es, dass es ohne (natürliches) Licht kein Leben gäbe oder dass das (metaphysische) Licht in den Weltreligionen und den dazugehörigen Theologien für gewöhnlich mit dem Göttlichen in Verbindung steht“, heißt es im Vorwort des Kunsthistorikers und Kurators Josef Helfenstein.

Natürlich will ich nicht nur den Katalog in Empfang nehmen, sondern auch die Lichtflutung noch einmal erleben, dazu begebe ich mich ins Untergeschoss und in den Verbindungsgang zwischen Alt- und Neubau, da ist sie noch, die unbetitelte Blaugrüne, über die ich am 17.August 2024 schrieb: „…und nun bin ich vom Meer umgeben, ich tauche und gleite schwerelos dahin.“

(Nebenbei: wieviel Klammern () tauchen in dieser kurzen Strecke nicht unter, sondern auf?)

(Dan Flavin, 1933-1996, US-amerikanischer Künstler des Minimalismus)

Der Büroaufsteller

Ich war sehr gespannt, mit welchem Gemälde mich der Büroaufsteller heute empfangen würde nach der Weihnachtspause. Und dann wurde ich überrascht von der Delphischen Sibylle, jener inspirierten Seherin, die Michelangelo Buonarroti (1475-1564) im Jahr 1509 an die Decke der Cappella Sistina malte (unter anderem, versteht sich – von 1508 bis 1512 war er mit den Fresken der Decke beschäftigt).

Da sitzt die Sibylle, wendet den Kopf von ihrer Lektüre ab nach links, die weit offenen Augen folgen der Kopfbewegung oder der Kopf der Augenbewegung, sie sieht …

In meinem Elternhaus hing ein gerahmter Nachdruck dieses Sibyllenkopfes, nur der Kopfausschnitt mit diesen großen, bewegten Augen und dem leicht geöffneten Mund.

Und ausgerechnet jetzt, wo er bald ausgedient hat, bringt der Büroaufsteller Datum und Wochentag wieder in Einklang!!