„So seid nun geduldig“

“ So seid nun geduldig, lieben Brüder, bis auf die Zukunft des Herrn. Siehe, ein Ackermann wartet auf die köstliche Frucht der Erde und ist geduldig darüber, bis er empfahe den Morgenregen und Abendregen“

und dann ist er da, der leichte und erfrischende Regen und senkt sich in das wartende Erdreich –

wer das und noch viel mehr hören will, kann das am 16.März 2025 um 17 Uhr in der Bonifatius-Kirche Lörrach tun!

Letzter Sonntag nach Epiphanias

„Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt! Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“

(Heute der sog. dritte Text im Herrnhuter Losungsbüchlein; von Klaus Peter Hertzsch,1930-2015)

Gehörbildung

studiert im Masterstudiengang die junge Frau, die am Mittag des heutigen Chorprobentags den Staffelstab des Dirigats übernimmt. Passend dazu findet sich im Netz ihr Portrait mit einem Stethoskop. Das hat sie nicht dabei, wohl aber ihre ausgebildete Stimme, ihr klares und freundliches Wesen, ihr pädagogisches Geschick, ihre Klavierspielkunst, ihre Präzision und ihre Musikalität. Hören kann sie auch ohne Stethoskop alle Feinheiten und sie versteht es, den Choristen das Hinein- und Aufeinanderhören zu vermitteln. Was die Choristen schon wissen, was aber immer aufs Neue der Übung bedarf: ein gut klingender, ausdrucksstarker Gesang erfordert geduldige Vorbereitung auch durch Sprechübungen. Man mag nicht glauben, wie oft das Wort „Kraft“ zu wiederholen ist, bis es im Zusammenwirken aller Sänger und Sängerinnen perfekt sitzt und auch die Konsonanten klingen. Dazu lässt uns die junge Frau „Kirschkerne spucken“, nicht einfach in die Gegend, sondern auf ein genaues Ziel hin, und siehe da, das „t“ der Kraft hört sich gleich ganz anders an. Jetzt noch das „f“ davor, es platziert sich wie eine Fläche vor das gespuckte „t“. Dann gibt es auch noch Rutschen im Gaumen, auf denen das Gleiten nicht durch ein „b“  unterbrochen wird, allerdings ist, wenn man dabei vom „Zeba“ kommend beim „oth“ landet, dieses auf einem Tablett zu servieren. Das „w“ von „würdig“ ist bitte lang und überhaupt loben wir doch mit „Herr, du bist würdig…“ Gott, dann sollte das nicht klingen, als würden wir eine Bedienungsanleitung lesen.

Alles klar?

Was singen wir? Das Deutsche Requiem von Johannes Brahms.

(„Herr, du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft…“ ist der 11.Vers aus dem 4.Kapitel der Offenbarung des Johannes)

O Mensch

Dieser einem Nietzsche-Gedicht entlehnte Anruf war der Titel einer Ausstellung, die ich vergangenes Wochenende im Düsseldorfer K21 noch kurz vor ihrem Ende ‚erwischt‘ habe. Der den meisten als Theater- und Filmschauspieler bekannte, aber u.a. auch als DJ tätige, 1976 geborene Lars Eidinger erhielt im K21 die Gelegenheit, in erster monografischer Museumsausstellung seine Fotografien und Videos zu präsentieren.

Bevor ich allerdings Eidingers „Blick auf die Welt“ folge, schaue ich erst einmal selbst auf die nahe Umgebung, von hoher Warte aus, dem Himmel näher gerückt unter der großzügigen Glaskuppel, die das alte Ständehaus überspannt. Ich verweile lange Momente, blicke nach oben und an allen vier Seiten hinaus, nehme auf einer der Sitzgelegenheiten Platz. Dann erst steige ich die ‚Himmelsleiter‘ hinunter und begebe mich in die Bel Etage, dass sie so heißt, habe ich der Unterhaltung zweier Museumsaufseher in Livree entnommen, die bei der ‚Himmelfahrt‘ die Liftkabine mit mir geteilt haben. Ein „Kaleidoskop der Gegenwart“ wären die Exponate, meint der Begleittext und attestiert Eidingers Kunst „lakonische Beiläufigkeit“. Fotos und Videos wurden zwischen 2018 und 2024 mit dem Smartphone oder der Spiegelreflexkamera aufgenommen und zeigen in den drei Ausstellungsräumen alltägliche Szenen aus Städten, in denen Eidinger beruflich unterwegs war, wie zum Beispiel Paris, Tokyo, Peking, London, Solingen, Köln, Heidelberg, Stuttgart, Basel, und ebensolche Sujets aus Eidingers Heimatstadt Berlin. In Berlin lebt auch die 1960 geborene japanische Schriftstellerin Yoko Tawada, die zu Eidingers Fotografien ihre in deutscher Sprache verfassten Haiku handschriftlich an die Wände angebracht hat. Mit seinem Kamera-Auge erfasst Eidinger scheinbar nebensächliche Details ganz alltäglicher Umgebungen und Situationen, er fokussiert sie, schneidet sie aus und vergrößert sie, so dass sie plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und einen Widerhall hervorrufen. Bei Eidingers Videos muss ich sofort an „Beobachtendes Notieren“ und  an den französischen Schriftsteller Georges Perec mit dem „Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“ denken, denn die Videos sind mit einer einzigen Einstellung aufgenommen, die Kamera steht still an einem Ort und „beobachtet“, was vor ihrem Auge geschieht, viele Minuten lang. Ich stehe mit ihr still und schaue auf den Mann, der in Berlin vorbei fahrende Autos betrachtet, oder auf die Passanten, die in Leipzig an einer beleuchteten Schaufensterfront vorübergehen, dann aber bewege ich mich, trete an eines der hohen Fenster, blicke auf den von der Düssel gespeisten Doppelteich der Parkanlage (Kaiserteich und Schwanenspiegel) und fotografiere mit dem Smartphone die 1897 enthüllte bronzene Brunnenplastik von Vater Rhein und seinen Töchtern.

(zu Georges Perec und „Beobachtendes Notieren“ s. u.a. Paul Klambauer „Schreiben lernen. Die literarische Profilbildung von Studienanfängern des Kreativen und Literarischen Schreibens an der Universität Hildesheim“, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022)

Das Stundenbuch

Mit dem Livro de Horas de la Condessa de Bertiandos empfängt mich der Büroaufsteller heute und da bin ich doch sehr erfreut über die fantastische Versammlung der dargestellten Szenerie! Kaum habe ich das Büro verlassen, fange ich an zu recherchieren, was es mit diesem besonderen Stundenbuch auf sich hat, stoße dabei zwar auf eine Differenz in der Zeitangabe, erfahre aber lauter Köstlichkeiten: Antonio de Holanda (1480-1557), ein führender Miniaturist Portugals hat die 236 Seiten der um 1515-1530 in lateinischer Sprache verfassten Handschrift mit sage und schreibe 2066 Illuminationen bebildert und dabei „neue Techniken zur Beleuchtung einer Szene“ eingeführt, so dass sich die Handlung „vor den Augen des Betrachters entfaltet“. Nicht nur finden sich neben den für ein Stundenbuch charakteristischen Szenen aus den Evangelien viele weltliche Motive aus Flora, Fauna und aus Fantasiewelten, sondern die mit ausgesprochener Detail-Liebe gestalteten Darstellungen liefern auch allerlei Informationen über die Gepflogenheiten des Alltagslebens auf der iberischen Halbinsel im 16.Jahrhundert. Der Text des für den Infanten Duarte (Sohn Manuels I. von Portugal) anlässlich seiner Hochzeit mit Isabel de Bragança gefertigten Livro de Horas ist zweispaltig in gotischer Schrift geschrieben. Ana de Bragança, Gräfin von Bertiandos, die zur Namenspatin des Werkes wurde, schenkte es 1933 der Academia das Ciências de Lisboa, die ich leider bei einem kurzen Lissabon-Aufenthalt vor Jahren nicht gesehen habe.

Ein Stundenbuch, Livre d’heures, Horologion oder Horarium enthält als liturgisches Buch die Texte des Stundengebets (Officium divinum), das als Antwort gilt auf die im ersten Thessalonicherbrief geschriebene Aufforderung „Betet ohne Unterlass“ und auf die aus den Versen 62 und 164 des 119. Psalms zusammengesetzte Aussage „Siebenmal am Tag singe ich dein Lob und nachts stehe ich auf, um dich zu preisen.“  Im dreistündigen Rhythmus der Horen, beginnend meist ab 6 Uhr morgens, werden sowohl die zyklische wie die lineare Zeiterfahrung des Menschen in eine Glaubenspraxis eingebracht (römisches Stundengebet: Lesehore, Laudes, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet). 

Und dann fällt mir noch ein anderes, herausragendes Stundenbuch ein, Rainer Maria Rilke schrieb den Gedichtzyklus in den Jahren 1899 bis 1903, nachdem ihn zwei Reisen durch Russland und die heutige Ukraine, zusammen mit Lou Andreas- Salomé, entscheidend spirituell geprägt und inspiriert hatten. Ich stehe auf und ziehe den hellgrünen Insel- Taschenbuch -Band mit der Nummer 2 aus dem Regal, ich habe ihn aus dem Bestand meiner Mutter übernommen, die ihren Namen 1988 hinein schrieb. Auf dem Cover befindet sich die Zeichnung eines Brunnens, dessen Wasserzuflüsse nicht Rohren entspringen, sondern drei Ästen eines Baumstammes, den beblätterte Zweige krönen, und das Erste Buch, das „Buch vom mönchischen Leben“ beginnt auf Seite 11 so:

„Da neigt sich die Stunde und rührt mich an/ mit klarem metallenem Schlag:/ mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann – / und ich fasse den plastischen Tag.

Nichts ist mir zu klein und ich lieb es trotzdem/ und mal es auf Goldgrund und groß,/ und halte es hoch, und ich weiß nicht wem/ löst es die Seele los …

To stay or not to stay

English please, antwortet der junge Mann, der mit seiner keycard gerade die Tür öffnet und mir aufhält, so dass ich nicht den Code eingeben muss, wie ich zu ihm auf Deutsch gesagt habe. Ich wiederhole auf Englisch, der junge Mann – offenbar ein Eingeweihter – bleibt zuvorkommend und erklärt weiter, obwohl das gar nicht nötig ist, denn die Informationen zu dieser „Stayery“ prasseln von allen Seiten auf mich ein, rechtzeitig und auf allen verfügbaren Kanälen über das Handy auf Deutsch, direkt vor Ort wahlweise auf Englisch oder Deutsch, auf gelben Schildern und so explizit dezidiert, dass ich an die gelbe Buchreihe „(was auch immer) für Dummies“ erinnert bin. Ich bin das erste Mal in solch einer „Stayery“ und sinniere über das Wort, während ich auf glänzenden grauen Fliesen den langen Fluren folge, zu beiden Seiten flankiert von der Phalanx weißer Türen, die nummeriert und geschlossen paradieren. Der junge Mann wird der einzige Mensch bleiben, dem ich während des Aufenthalts begegne, wahrscheinlich sind er und ich als aussterbende Exemplare in eine cleane Zukunft der Dinge geraten. Die Dinge aber sprechen mit mir, auf Englisch, das Treppenhaus, die Türen, die Spiegel und selbst die Duschkabinen sind sehr beredt. Es gibt eine „laundry“, wo zwei chromblitzende Waschmaschinen warten, „stairs“ verkündet das Treppenhaus und der Spiegel ruft mir zu “ you still look very, very stunning“ – naja, also, ich weiß gerade nicht, antworte ich der spiegelnden Fläche. Ich wende mich lieber um und der Küchenzeile zu, die sich ebenfalls unüberhörbar um mich kümmert:  mit „stay very, very hydrated“ weist das gelbe Schild auf die gelbe „waterbox“ im Kühlschrank hin, die die Aufforderung so eindringlich wiederholt, dass ich Folge leisten muss, zumal die schwarzen Majuskeln eine hübsche Welle bilden, schließlich handelt es sich ja um Wasser, da sind selbst die Buchstaben bewegt. Auch auf der Duschkabine ist die Wellenbewegung zu spüren und ich bin versucht, mich in sie zu stürzen, werde aber durch das „no running in the pool area“ daran gehindert. Zum guten Glück hilft das Duschgel mit „stay very, very clean“ dabei, mich der Umgebung anzugleichen, da kann ich dann beruhigt „very, very tight“ sleepen, ohne den Inhalt dieses Imperativs, nämlich die „earplugs“ zu benutzen, obwohl die Lüftung meiner Meinung nach eine Art Schluckauf hat. Und bevor ich die gelbe keycard to my „very, very extaordinary room“ in den nach ihr schreienden Kasten werfe und einem (immerhin roten) länglichen Türschild mit dem untereinander gestaffelten „stay out out out out“ gehorche (war ich gemeint?), finde ich doch noch ein rheinisches Wort: an einer Glastür zur „Roof Terrace“  steht doch tatsächlich in weiß „BÜDCHEN“.