Habe ich mich heute vertan? Jedenfalls betrat ich heute früh einen Bühnenraum. Robert Delaunay (1885-1941) hat das Bühnenbild entworfen (seine Frau Sonia Delaunay,1885-1979, im Übrigen die Kostüme). Wer die Ballons und Girlanden aufgehängt hat, verrate ich nicht, es fügte sich aber überraschend und gut um den „Thron“. Und nun lass ich den Büroaufsteller mal Büroaufsteller sein, oder?
Ich habe die ersten Schneeglöckchen gesichtet! In einem Nachbargarten waren sie plötzlich da. Noch stehen sie ein wenig zitternd im Wind und versagen sich den Gesang, als wüssten sie nicht genau, ob er schon angebracht ist. Lieber halten sie ihre Köpfchen geschlossen und harren der Tage, die kommen. Dann werden sie Aufstellung nehmen zum Vorfrühlings-Chor und ihre hellen Stimmen finden sich wieder ein in altbekannte Melodien.
Schneeglöckchen (auch Marienkerzen genannt, botanischer Name Galanthus) sind ein beliebtes Sammlerobjekt geworden, es gibt Schneeglöckchentage mit Versteigerungen, für bestimmte Exemplare werden mehrere hundert Euro gezahlt und die Schneeglöckchen- Liebhaber nennt man galanthophil.
SWR Kultur sagt mir, dass heute vor 156 Jahren, am 11.Februar 1869, Else Lasker-Schüler in Elberfeld (Wuppertal) geboren wurde. Gestorben ist sie am 22.Januar 1945 in Jerusalem und dort am Ölberg begraben. „Das Hebräerland“ erschien 1937 in der Schweiz, 1933 war Lasker-Schüler in die Schweiz emigriert, 1939 wurde ihr nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die Wiedereinreise aus Palästina in die Schweiz verwehrt. Meine dtv-Taschenbuch- Ausgabe vom „Hebräerland“ habe ich im August 1986 gleich nach Erscheinen erworben, vor einer Reise nach Israel im Oktober 1986. Gedichte von Else Lasker-Schüler hatte ich zuvor schon gelesen. Ich erinnere mich, dass ich fasziniert davon war, wie sie sich mit ihrer Figur „Jussuf, Prinz von Theben“ ein Alter Ego geschaffen hatte in Worten und Bildern.
Eines Tages fragte Dorothea sich, wie oft sie im Einkaufsgewühl Gedanken verlegt hatte. Die Gedanken waren durch das Gitter des Einkaufswagens gerutscht auf den grauen Fliesenboden des Supermarkts, abhandengekommen zwischen den Waren, die Dorothea aus den Regalen gezogen und in den Wagen gelegt hatte. Was benötigt wurde, hatte Dorothea im Kopf notiert, keinen Einkaufszettel geschrieben, nie hatte sie etwas vergessen. Sie ließ sich gern inspirieren vom jahreszeitlich wechselnden Angebot, einen festen Wochenplan für die Gerichte gab es nicht. Stand sie dann in der Küche, versuchte Dorothea oft, im Kochdunst flüchtige Fantastereien einzufangen, aber die Abzugshaube nahm fast alles mit, übrig blieb eine Freude an den frischen Farben der Gemüse, die sie geputzt hatte, und zudem fand Dorothea hübsch, wie sich die bunten Schälreste im Spülbecken zu neuen Ensembles zusammenfanden. Es gefiel ihr auch, dass sie in der Küche allein war, allein mit den Speisen, die sie gerne kreierte, und ab und an blieb sogar ein ferner Gedanke, heftete sich an den Pfannenwender oder fungierte als Soßenbinder.
Meist aber gingen die Worte verloren und Dorothea suchte sie auch zwischen Wäschebergen vergeblich. Da fragte sie sich eines Tages, wo all die verschwundenen Worte jetzt waren, sie dachte an all die Gedanken, die die Putzmaschine des Supermarkts von den Bodenfliesen gewischt hatte und beschloss, Stift und Papier zu kaufen.
„Und er sprach zu mir: Menschensohn, alle meine Worte, die ich zu dir reden werde, nimm in dein Herz auf, und höre sie mit deinen Ohren!“
„Bei dem aber auf die gute Erde gesät ist, dieser ist es, der das Wort hört und versteht, der wirklich Frucht bringt; und der eine trägt hundert-, der andere sechzig-, der andere dreißigfach.“
(Hesekiel 3,10 und Matthäus 13,23 nach der Elberfelder Übersetzung; Herrnhuter Tageslosung und Lehrtext)
In den Seiten des Wimmelbuchs verstecken sich viele Geschichten, der freudige Fratz geht auf Entdeckungsreise und nimmt dabei seinen inzwischen ordentlich gefüllten Wortrucksack mit. Hier und da macht er halt und holt ein oder zwei Wörter heraus, „Boot“ zum Beispiel darf beim Rhein bleiben, das „Tü-Tata“ bei den Feuerwehrautos, „Sch-aaf“ bei den Gärten, die „Katze“ ist beliebt und kommt gleich mehrfach rasch aus dem Sack. Schließlich landet der freudige Fratz mit André und Amelie, die durch das Buch radeln, beim Bläserfestival und mischt sich unter das musizierende und tanzende Volk. Dass die glücklich ausgepackte „Ööte“ keine Flöte ist, sondern eine Trompete, nimmt der freudige Fratz zum Anlass, das neue Wort vorsichtig in seinen Rucksack zu legen – bestimmt holt er es beim nächsten Ausflug heraus!
(„Wimmelspass in Weil am Rhein“, hrsg. von Weil am Rhein Wirtschaft & Tourismus GmbH 2012)
Kann ich einmal nicht den Höhenweg radeln, weil ich Glätte befürchte an den steilen Stellen, vermisse ich ihn sofort.
Ich vermisse rechts das Schild mit der Aufschrift Landesgrenze und darunter dem Karee mit dem weißen Kreuz im kräftigen Rot neben dem Rechteck in Schwarz-Rot-Gelb .
Ich vermisse links den einfachen Brunnen aus rötlichem Stein, der da seit dem Jahr 1996 steht, „uff Aareegig vo Pro Schlipf“, wie die Gravur sagt, und die Holzpflöcke, die die für ihn geschaffene Lücke im Hügel rahmen, vermisse ich auch.
Ich vermisse rechts das Grasstück vor einer Hütte, auf dem im Frühjahr Krokusse sich empor wagen und später Narzissen üppig blühen und im Herbst Herbstzeitlose ihr Violett gegen das Braun des Herbstlaubs verteidigen.
Ich vermisse den Rosmarinbusch, der dort auch steht und ganzjährig sein kräftiges Grün bewahrt und den alten Baum, der das Grasstück auf der anderen Seite abschließt, den vermisse ich auch.
Ich vermisse den Blick auf den Chrischona-Hügel mit dem hoch in den Himmel ragenden Sendeturm darauf und der Kirchturmspitze, die man rechts daneben auch ausmachen kann. Und das Morgenlicht, das frei oder verborgen hinter dem Hügel aufsteigt, das vermisse ich auch.
Ich vermisse den Blick ins Tal, wo der Wiesentalbach eine gerade Straße bildet und wo eine Rauchfahne sich erhebt, immer weiß, manchmal wie festgefroren.
Ich vermisse die alten Holzlattenzäune, auf denen sich Moose und Flechten niedergelassen haben, und die Obstbäume dahinter, die jetzt kahl sind, bald aber ihre Säfte aktivieren werden.
Ich vermisse die Reihen der Stäbe und Drähte, an denen die Reben hinaufwachsen, rechts hügelab und links hügelan, und die Stapel des Rückschnitts, die zwischen den Reihen liegen, die vermisse ich auch.
Ich vermisse den Gedanken an die neuen Triebe, die kommen werden und an die Massen gelber Löwenzahnsterne, die dann zwischen den Reihen leuchten werden.
Ich vermisse die einfachen Holzhütten und die ausgebauten Chalets mit den umgebenden Gärten, die bald wieder zum Leben erwachen werden.
Ich vermisse die Glöckchen, die man Schafen umgebunden hat, die zu einem Grundstück rechts gehören, und den roten Traktor mit den gelben Felgen, der jetzt unter einer mattgrünen Plane verborgen ist, den vermisse ich auch.
Ich vermisse den tönernen Kopf, der seit Jahr und Tag an derselben Stelle liegt und den Blick immer gen Himmel richtet, nie zu mir.
Ich vermisse die ausgediente Schubkarre rechts, deren Bepflanzung nun in der Winterruhe ist, und die kleinen gelben Winterblüher links vermisse ich auch.
Ich vermisse die Ruhe auf dem Weg, bevor er sich ganz hinuntersenkt ins Wiesental und die Brücke hinüberführt in eine andere Welt.
Als Reiselied bezeichnet eine der beiden Interpretinnen dieses Lied, das sie gleich verjazzt am Keyboard und mit Gesang vortragen wird, zusammen mit der zweiten Interpretin, die ihr Tenorsaxophon im wahrsten Wortsinn dazu konzertieren lässt, nicht ohne zuvor zu erzählen, auf welch wundersame Weise das Tenorsaxophon zu ihr kam: als Geschenk wurde es ihr angeboten, ihr innerer Bedenkenträger verlor sich aber zunächst in Schreckensszenarien, da die Güte eines solchen Geschenks doch nicht sein konnte, bis ihr zartes inneres Ja- Stimmchen sich durchsetzte und sie das unglaubliche Geschenk in Händen hielt, mit Metallmundstück und Bambusplättchen perfekt zu ihrer Traumvorstellung passend. Und nun gibt die Musikerin durch den satten, bewegten Klang ihres goldschimmernden Instruments das Geschenk weiter an die Gäste des Abends, an dem auch die ehemalige, langjährige Oberbürgermeisterin der Stadt zu ihrem Leben und Wirken befragt wird von einem Interviewer, dem es nicht nur auf das „Gerippe“ der Lebensdaten ankommt, sondern vor allem auf die „Zwischenräume“, auf den „Blick in die Weite“, womit er den Bogen schlägt zur Ausrichtung, die die Gastgeberin diesen Abenden mit dem Titel „Salon mit Weitblick“ gegeben hat. Und so erfährt man zum Beispiel, auf welche Weise Kommunalpolitik mit Ornithologie verknüpft sein kann, wenn ästhetisches Potenzial der Vogelbeobachtung auch gesehen wird in der Gestaltung politischer Maßnahmen zum Natur- und Umweltschutz.
Die Saxophonistin hat zwei weitere Saxophone dabei, auf einem davon spielt sie, kongenial ergänzt von der Keyboard- Musikerin, eine mitreißende Eigenkomposition, vor deren Ohrwurmpotential sie zuvor warnt, genannt hat sie sie „unstuck“ – „gelöst“. Großer Beifall für alle.
(Der Text des im evangelischen Kirchengesangbuch mit 12 Strophen unter der Nummer 361 zu findenden Lieds wurde 1653 von Paul Gerhardt verfasst, die Melodie 1730 von Georg Philipp Telemann neu bearbeitet)
Ein wenig muss ich noch meinem Büroaufsteller folgen, denn bald, bald, bald hat er (zumindest vorerst) ausgedient. Er zeigt mir heute eine mit Deckfarben auf Pergament gemalte italienische Buchmalerei aus dem 15.Jahrhundert: „Der Heilige Bernhard zeigt Dante die Heilige Jungfrau“ aus der „Divina Commedia“. Da nehme ich später den umschlaglosen Manesse-Band aus dem Bücherregal, den ich am 15.August 2015 in einem Basler Antiquariat für fünf Schweizer Franken erworben habe, wahrscheinlich war er ein Ladenhüter (da alle `Bildungsbürger´ eine besser erhaltene Ausgabe bereits zuhause haben, nehme ich an): Dante Alighieri „Die Göttliche Komödie“, ins Deutsche übertragen von Ida und Walther von Wartburg (Manesse-V., Zürich 1963). Die Ausgabe beginnt mit einem Text über Dantes Leben und Werk , enthält Kommentare von Walther von Wartburg und 48 Illustrationen nach Holzschnitten von Gustave Doré. Ich muss gestehen, dass ich das Buch keineswegs durchgelesen habe, nur hineingeschaut habe ich, vor allem die Verse des fünften Gesanges im ersten Teil „Inferno“ gelesen über Francesca da Rimini, deren Geschichte mich im Alter von 12 Jahren tief beeindruckte, als ich in Italien-Urlauben mit meiner Herkunftsfamilie von ihr erfuhr. Jetzt schaue ich nach der Geschichte, die mein Büroaufsteller-Gemälde erzählt, sie findet sich ganz am Ende der literarisch-mystischen Reise des Dante Alighieri (1265-1321), im 33.Gesang des dritten Teils „Paradiso“: Bernhard von Clairvaux (1090/91-1153), der u.a. auch „doctor marianus“ genannt wird, richtet seine Bitte an Maria, sie möge Dante die höchste und letzte Schau Gottes zuteilwerden lassen und schließlich und endlich schauen „Die Augen, die von Gott geehrt und ihm so teuer“ das, was kaum in Worte zu fassen ist, das höchste, das reinste, das ewige Licht.
Bei Internet-Recherchen finde ich noch einen interessanten Artikel aus „Christ in der Gegenwart“ vom 01.10.2017, in dem Lorenz Wachinger über Dantes Leben und die Divina Commedia schreibt, zum Beispiel über die prägenden Kindheitsbilder im Baptisterium von Florenz, die Schulbildung bei Dominikanern und Franziskanern, den Anschluss an die damals modernen Dichterkreise, die Begegnung mit dem römischen Amphitheater in Verona, die politische Laufbahn und Verbannung etc. Aus allem speisen sich auch die 100 Canti (Zahl der Vollständigkeit) der Divina Commedia, die Dante in den Jahren 1304 bis 1315 schrieb und in der er für die innere Reise starke äußere Bilder und Bezüge findet, zum Beispiel das uralte Bild einer Bergbesteigung (geduldiges Aufsteigen; wie schön, dass es für Dante und seinen Begleiter Vergil immer leichter wird, je höher sie kommen!). Das Geführtwerden ist ein zentrales Motiv, zuweilen sind aber auch Erschütterungen hilfreich (Dante hört ein Krachen). Während der Reise kommt es zu einer gewaltigen Steigerung der „Sehkraft“, „kein kaltes, unbeteiligtes Sehen, sondern ein Entbrennen von innen her, stärkstes Gepacktsein übers Auge, unnennbar schön und erregend“.
Oh, lieber Büroaufsteller, wohin hast du mich da gebracht mit der italienischen Buchmalerei auf kobaltblauem Grund, von dem sich das Gold der Heiligenscheine so schön abhebt, mit der im umhegten blühenden Garten weiß-, rosé- oder blaugewandeten Gesellschaft samt dem Hereinschwebenden, der noch eine Anbetende hinzuführt?
Dantes „Göttliche Komödie“: Krachend kommt die Seele frei | CHRIST IN DER GEGENWART