Fühlen-Denken-Erinnern-Schreiben

Dann und wann erhalte ich schöne Geschenke. Zum Beispiel Mitte Dezember diesen Band, der eine Vorlesung und eine Rede von Siri Hustvedt (geb.1955) anlässlich des 20jährigen Jubiläums der Tübinger Poetik-Dozentur 2016 enthält, ergänzt u.a. durch ein Gespräch, das Siri Hustvedt mit dem Neurophysiologen Vittorio Gallese (geb.1959; bekannt für Mitentdeckung der Spiegelneurone) über Neurowissenschaften und Literatur führte.

Heute habe ich begonnen, dahinein zu lesen und zum Beispiel etwas über die vom „Philosophen der Narration“ Paul Ricoeur (1913-2005) so genannte „dritte Zeit“ erfahren, den „Beginn einer speziellen Zeit des Geschichtenerzählens“ (zwischen phänomenologischer und kosmologischer Zeit, S.9 u.15)

Weiter geht es auch um die (nicht unidirektionalen) Verknüpfungen von Erinnerung und Imagination und deren Bedeutung für das Schreiben von Geschichten. Auf Seite 21 heißt es: „Jeder in einer Familie weiß, dass manche Erinnerungen der Imagination entsprungen sein müssen. Wie könnten zwei Schwestern dasselbe Ereignis sonst ganz unterschiedlich in Erinnerung haben?“

Gut, da muss ich doch noch herausfinden, ob jemand außer mir sich noch daran erinnert, dass wir vor vielen, vielen Jahren einmal Wernher von Braun (gest.1977) begegnet sind, nur kurz, in einem Aufzug. Es war in einem Hotel, bei einem Familientreffen, in der Landeshauptstadt. Oder???

(übrigens war Emmanuel Macron von 1999 bis 2001 Ricoeurs wissenschaftlicher Assistent und hat ihn in seiner Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse 2017 erwähnt)

(das abgebildete Buch zur Tübinger Poetik-Dozentur 2016 ist im Swiridoff-Verlag, Künzelsau 2017 in 1.Aufl. erschienen; Stiftung Würth)

Matisse 2

(Text vom 11.Dezember 2024)

Endlich! Endlich ist sie in Collioure. Fast hatte sie nicht mehr daran geglaubt. Wie oft hatte sie das Autobahnschild gesehen, schwarze Buchstaben auf weißem Grund, Collioure, da hätte man abfahren müssen, aber nie wurde die Ausfahrt genommen, weder auf der Hinfahrt, auf der das Ziel bald erreicht war, noch auf der Rückfahrt, auf der es noch weit war bis zum Ziel. Und so las sie nur immer wieder das Schild, Jahr um Jahr, mehrmals im Jahr, Collioure, unzählige Male Collioure. Es war ihr immer aufgefallen, sie konnte gar nicht genau sagen, warum. Collioure, der dunkle Klang mit dem klaren, kräftigen Beginn, das weiche Gleiten in der Mitte, das eher offene, aushauchende Ende. Auch auf der Landstraße war man einmal daran vorbei gefahren und sie hatte an den kleinen Hafen gedacht, an die dicken, rundlichen Festungsmauern und an den Felsen, der sich ins Meer vorschob. Nie war sie den Chemin de Fauvisme gegangen und nie in der Brasserie des Templiers eingekehrt, wo Matisse, Derain, Braque, Picasso und andere sich zu einem auf die roten Lederbänke gesellten oder gerade an den Wänden freien Platz suchten für neue Gemälde.

Jetzt aber, jetzt ist sie da! Aus ihrem kühlen Zimmer schaut sie aus dem weit offenen Fenster auf die Reihe der Segelboote, die sanft im Hafen schaukeln. Das flirrende Licht zerlegt die Luft in einzelne Punkte, das Meer schickt einen Hauch von Salz- und Fischgeruch, eine warme Brise erlaubt sich einzutreten und ihre Haut anzufassen. Sie geht näher ans Fenster, will dem Geheimnis der Horizontlinie begegnen und den wenigen Wolken folgen. Sie lehnt sich hinaus, ein Blatt aus den Blumentöpfen berührt ihren Unterarm, es kitzelt ein bißchen. Sie schaut nach rechts und nach links, wo taucht die Wehrkirche auf, wo die alte Ringmauer und wo das Felsinselchen St.Vincent mit der kleinen Kapelle? Ja, später wird sie da und dort gehen, durch Collioure, sie wird sich Zeit lassen und die Farben inhalieren. Erst aber will sie noch ein wenig ruhen in der Kühle des Zimmers, die Fensterflügel schließt sie nicht, es ist schön, im Drinnen die versprengten Partikel des Draußen zu spüren.

(Henri Matisse „La fenêtre ouverte“, Collioure 1905, Öl auf Leinwand; derzeit zu sehen in der Fondation Beyeler, Riehen „Matisse-Einladung zur Reise“, noch bis 26.01.2025; sonst in der National Gallery of Art, Washington D.C.)

Ein blauer Koffer

Ein blauer Koffer reist allein. Irgendwo in einem Regionalzug sitzt er und fährt durchs Rheintal. Genießt er die Reise oder fühlt er sich verloren? Vielleicht hat er ja schon nette andere Koffer kennengelernt und unterhält sich gut. Koffer in Rot, in Schwarz oder gar in Türkis? Andere Stoffkoffer jedenfalls, wahrscheinlich fremdelt er ein bisschen mit denen aus Aluminium. Vielleicht sitzt der blaue Koffer aber auch ruhig und erkundet sein Innenleben. Endlich hat er Zeit dafür. Und das Hin- und Herfahren des Zuges hilft ihm dabei, erst geht es in diese Richtung, dann kommt der Wendepunkt und es geht in jene.

Hallo, Koffer! Zu gerne wüsste ich, wie es dir geht! Hast du schon herausgefunden, welcher Teil deines Innenlebens dir am besten gefällt? Ist es das weiße Hemd? Oder der graue Pullover? Gar ein Rasierapparat oder etwa ein edler Schlafanzug, der mit den Knöpfen blinzelt – ach nein- blinkt? Wolltest du vielleicht ein Abenteuer erleben, lieber Koffer, oder einfach noch einmal jung sein, zumindest im Geiste? Obwohl du schon alt bist und auch ein wenig verschlissen, dein Meeresblau etwas verblasst ist und die graue Paspelierung abgewetzt, erfüllst du doch deine Bestimmung blendend. Die Krampen deiner Reißverschlüsse greifen ineinander wie die Sprachen des Rheintals (vielleicht redet ein roter Koffer ja gerade französisch mit dir? Oder du unterhältst dich in alemannisch oder baseldytsch?) Beweglich bleibst du auch, blauer Koffer, mit deinen Rollen, obwohl es nicht vier sind, sondern zwei. Beweglich ist wichtig, finde ich. Flexibilität ist gefragt in unserer volatilen Welt, das weißt du. Bei aller Standhaftigkeit, die du ja auch hast. Zum guten Glück hast du die, die Standhaftigkeit meine ich. Und die Flexibilität, die natürlich ohnehin. Mitnehmen lässt du dich auch, lieber Koffer, an einem versenk- oder ausziehbaren Griff. Je nachdem, wie man es sieht. Ach schau mal, da kommt es doch sogar auf die Perspektive an. Perspektive ist wichtig, finde ich. Auch dass man sie mal wechselt. Aber natürlich nicht wie ein Hemd. Es sei denn, man wechselt das Hemd mit Bedacht. Bedacht ist immer gut, finde ich. In dieser und in jener Bedeutung. Da fällt mir ein, sprach nicht neulich jemand von „ohne Himmel sind wir unbedacht“? Ich hoffe, lieber Koffer, du schaust nicht nur ins Innenleben, sondern auch aus dem Fenster und siehst einen Himmel! Heute hat er nämlich Bilderbuchfarben, zuerst ein Rosé und dann ein ganz helles, zartes Blau, wie gemalt. So schön.

Genieß mal deine Reise, blauer Koffer, ich wünsche dir nur Gutes dafür! Passt doch, passt zum Neuen Jahr, dass du dich aufgemacht hast!

(Übrigens: der Herr des Koffers ist für Hinweise zu seinem Verbleib dankbar. Also, falls jemand im Rheintal einem blauen Ziehkoffer mit grauen Paspeln begegnet: macht Meldung!)

Der edle Schlafanzug

(Text vom 2.September 2024)

Sind Sie interessiert? fragte der edle Schlafanzug den Herrn. Der Herr, nennen wir ihn Christian, wusste nicht so recht. Er schaute den schwarzen Anzug mit den weißen Paspeln und den vier weißen Knöpfen nachdenklich und ein wenig unentschlossen an. Solch einen Schlafanzug hatte er noch nie besessen. Schwarze Seide. Christian stellte sich vor, wie der Stoff auf der Haut liegen würde, leicht und kühl im Sommer, temperierend im Winter. Na, fragte der Schlafanzug, der in der Auslage eines feinen Herrengeschäftes lag, wäre ich nicht etwas für Sie? Christian zögerte noch immer, er war irritiert, noch nie hatte ein Schlafanzug mit ihm gesprochen. Er ging ein paar Schritte zurück, weg von dem Schaufenster. Das konnte doch nicht sein, was war nur in ihn gefahren? Er schluckte, sein Mund war trocken, er wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, der Tag war schwül. Er musste sich beruhigen, unbedingt. Wahrscheinlich war er zu lange alleine gewesen, und nun hörte er sogar schon Schlafanzüge sprechen. So ein Blödsinn. Er musste unbedingt wieder unter Leute. Christian schob die Brille hoch, linste mit einem Auge zum Schaufenster. Jaja, sagte der Schlafanzug, Sie können es nicht lassen, nicht wahr? Erschrocken sprang Christian zur Seite, heftete seine Augen auf einen überquellenden Mülleimer, der am Straßenrand stand. Nicht, dass der nun auch noch zu sprechen anfing! Christian wurde mulmig zumute. Nein, der Mülleimer blieb ruhig, Gott sei Dank. Raschelnde Seide, lockte der Schlafanzug, kühl auf der Haut und nur der Hauch einer Berührung. Christian bekam Herzrasen. Der Schlafanzug schimmerte schwarz und die weißen Knöpfe blinzelten, nein, blinkten, korrigierte Christian sich. China, dachte er, Maulbeerbaum, Seidenraupe, Seidenspinner. Sein Denken funktionierte also noch, stellte er fest, das war gut, sehr gut war das. Hallo, Schlafanzug, probierte Christian vorsichtig und machte ein paar tastende Schritte Richtung Schaufenster. Der Schlafanzug nickte, na siehst du, geht doch. Oh, dachte Christian, war man jetzt schon per Du? Er hielt inne, schaute nach links und nach rechts, bemerkten andere Passanten, was da vor sich ging? Hoffentlich nicht, aber was sollten sie auch bemerken, dachte Christian,  schließlich war er nur ein unauffälliger Mittvierziger mit leicht angegrautem Haar, der vor der Auslage eines Herrengeschäftes stand. Das war doch ganz normal, ganz normal war das. Christian dachte daran, dass er einmal davon gelesen hatte, wie trickreich die Eier der Seidenspinnerraupe nach Europa gebracht worden waren. Und dass in Lucca – wann war er nochmal in Lucca gewesen, der von einem Wall gehaltenen Stadt, Jahre war das her, Jahre – dass also in Lucca  die Seidenherstellung florierte, bis sie von dort fliehen musste und nach Venedig kam, hm, ja –  Venedig, auch das war Jahre her, Jahre. Bist du noch da, fragte der schwarze Schlafanzug und brachte seine Paspeln in Position. Christian zuckte zusammen, klar, sagte er, klar bin ich noch da, und wie ich da bin, ganz und gar da. Stimmt, dachte er und spürte, wie plötzlich ein Windhauch seine Stirn kühlte. Das war angenehm, Christian fing an, sich wohl zu fühlen, öffnete die Augen weit, die Augendeckel hoben sich jetzt leichter, ging einen weiteren Schritt Richtung Schaufenster, und sagte, nun mit kräftigerer Stimme, ja hallo, guten Tag, seidener Schlafanzug, ich grüße dich. Jetzt wunderte sich der Schlafanzug ein wenig, schon eine Weile lag er nämlich in der Auslage, schimmerte vor sich hin und warb vergeblich um Interesse. Die meisten gingen rasch vorüber, schauten kurz und oberflächlich, wandten sich wieder ab und ihren Geschäften zu. Dabei wusste der Schlafanzug um seinen Wert. Gut also, sagte Christian und nickte dem weißgepaspelten Schwarzen zu, du hast zu mir gesprochen, wie lange niemand mehr hast du gesprochen, ich fange an, dich zu verstehen, warte, ich komme und nehme dich mit nach Hause. Sprach’s, beschleunigte die letzten Schritte und nahm die Türklinke zum feinen Herrengeschäft in die Hand. Der Schlafanzug zwinkerte, mit allen vier Knöpfen.
 

Matisse 1

(Text vom 6.Dezember 2024)

Lieber Henri Matisse,

in Ihrem schönen Frankreich herrscht gerade ein großes Durcheinander. Wie ja überall gerade ein großes Durcheinander herrscht, wo man auch hinschaut oder hinhört oder hinliest. Es ist wirklich ganz fürchterlich. Aber das soll uns jetzt hier nicht beschäftigen. Ich wollte Ihnen vielmehr erzählen, dass ich heute zum dritten Mal in der Ausstellung Ihrer Werke war. Diesmal in Begleitung einer Freundin. Und das war nun wieder ein ganz anderes Erleben! Zum Glück war es trotz (oder wegen?) des Tages des Bischofs von Myra relativ ruhig in den Räumen, also so ruhig es halt sein kann, wenn man solch eine Retrospektive Ihres Schaffens dahinzaubert im Dreiländereck. „Da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“ – Monsieur Baudelaire bringt es auf den Punkt und wir haben die ganze Reise gemacht von Saal eins bis Saal neun und sogar im Saal zehn verweilten wir noch und schauten durch die (vom Museum) so genannten Fenster auf die Orte Ihres Schaffens und auch auf Sie selbst, lieber Henri (darf ich Sie so nennen?), sogar in Überlebensgröße sind Sie uns da begegnet und wir haben gesehen, wie Sie mit der Schere zugange waren und wie Sie mit dem langen Zeigestock bestimmt haben, wo und wie genau die ausgeschnittenen Formen platziert werden sollen, damit es eine Komposition ergibt nach Ihrem Kopf und nach Ihrer Herzenslust , „da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“. Sie träumten von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände, (…), eine Erholung für das Gehirn, sagten Sie – und wissen Sie was, ich finde, das ist Ihnen doch schon gelungen, zumindest oft, sehr oft ist Ihnen das gelungen. Und zwar von Anfang an und über die Jahrzehnte, in denen Sie sich weiterentwickelt oder ganz neu erfunden haben. „Da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss.“ Und Sie konnten genießen, was Sie gefunden haben, das Licht zum Beispiel, dem Sie gefolgt sind, Sie konnten Ihr Glück nicht fassen, sagten Sie, als Ihnen in Nizza bewusst wurde, dass Sie dieses Licht täglich würden wiedersehen können. Wie schön, lieber Henri, dass Sie sich dieses Glück so bewusst gemacht haben, ich finde so etwas toll, und toll finde ich auch, wie Sie versucht haben, dieses Licht einzufangen, einfach großartig. Vielleicht erzähle ich Ihnen ein andermal mehr zu Collioure und zu „La fenêtre ouverte“ (Collioure,1905), das mag ich nämlich besonders, für heute muss ich schließen, nur eins noch: ich frage mich, ob das Amélie ist, die da so für sich am Klavier sitzt, ganz in Ruhe mit der Musik? Ich nehme mir jetzt mal die Zitrone, die von der Schale gekollert ist, die wird mich erfrischen, danke, lieber Henri, vielleicht bis bald zu „Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“,

Ihre ….

(Amélie sitzt auf dem Gemälde: Pianiste et nature morte, Nizza, um 1923/24)

(Refrain aus „L’invitation au voyage“ von Charles Baudelaire, übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff)

(Ausstellung Matisse – Einladung zur Reise noch bis 26.Januar 2025, Fondation Beyeler, Riehen)

Neujahrstag – Spaziergang 3

Es ist der Neujahrstag und nach dem heftigen Feuerwerkssturm der Nacht bleibt neben der Spreu versprengter Feuerwerkskörper auf dem Hügel eine Lautlosigkeit zurück. Das Wetter ist weiterhin freundlich gestimmt und so beschließe ich, vom Haus aus loszugehen. Ohne Berührungsangst haben sich auf den kobaltblauen Stelen des Bildhauers Volker Scheurer grüne Flechten niedergelassen und bilden ein blumiges Muster. In der Röhrigasse lädt ein Schild Weinfreunde und Wanderer ein, dem ersten grenzüberschreitenden Weinweg der Region zu folgen und wie es sich gehört, tut es das auf weinrotem Grund. Eine dünne Eisschicht bedeckt noch das Pflaster der Wasserabflussrinne rechts und zeugt vom frostigen Morgen, links hat die Sonne bereits den Raureif vom braunen Herbstlaub getaut, das am Gassenrand überdauert hat. Im Gras oberhalb der Stützmauer, die einen Himmelsanstrich trägt, leuchtet herbstlaubbraun eine verwaiste Bierflasche. Ein Stück weiter oben fehlen die Schafe, die neulich hier zwischen den kahlen Rebstöcken grasten und aus dem wolligen Winterfell dunkle Gesichter erhoben, um Spaziergänger zu betrachten.

Gerade beginnen erste Sportaffine, ihre Neujahrsvorsätze zu verwirklichen und treten hügelan kräftig in die Pedale, zu Weihnachten hat man ihnen voluminöse Profi-Helme geschenkt, so dass sie fast aussehen wie Astronauten. Ich raste lieber auf einer Bank, wo die Sonne wärmt als wäre sie schon eine Märzensonne, auf den Juraausläufern und den Vogesenhöhen residieren weiße Schneefelder und ein Dunstband zeigt mir den Verlauf des Rheins. Bekannte kommen vorbei, bleiben stehen und außer dass wir uns Gutes wünschen hinein ins frische Jahr, sprechen wir über die bis in frühe Morgenstunden ausufernde Böllerei und davon, wie unbeholfen, aber keineswegs untätig uns Ausfälle des Internet- Providers hinterlassen, schließlich sind wir noch im Besitz alter Radios und Briefpapier ist auch vorhanden.

Das Ehepaar geht weiter, ich bleibe noch ein wenig und frage mich, ob diejenigen sich wirklich als „Heroes of Fire“ fühlen, die neben der Bank die Hüllen gezündeter Lichterstäbe hinterließen, und warum sie keine Helden der Müllsammlung sein wollen.

Als die Uhr der Altweiler Kirche einmal schlägt und plötzlich von unten ein Martinshorn heraufhallt, stehe ich auf und folge dem Feldweg Richtung Westen. Zur Rechten leuchtet das kräftige Rot der Hagebutten aus Brombeergestrüpp, bunte Bienenstöcke stehen verschlossen, links habe ich eine Weile noch die Sonne zur Seite, bis ich mich umwende und einen tiefer gelegenen Weg zurück nach Osten nehme. Im Gewann Sänger klärt mich das Schild Nr.29 des Weinwegs über eine uralte Sorte auf, seit dem 4.Jahrhundert ist der Anbau der dunkelblauen dichtbeerigen Trauben im Burgund belegt und im Jahr 1318 in Schloss Salem die Sorte urkundlich bezeugt, die in Deutschland auch als Spätburgunder, in Frankreich als Pinot noir und in der Schweiz als Blauburgunder bezeichnet wird. In Gedanken erhebe ich mein Glas und grüße Hügel und Dreiland mit einem kräftigen „Prosit Neujahr!“

Ein frohes Neues Jahr!

„Und nun wollen wir glauben an ein langes Jahr, das uns gegeben ist, neu, unberührt, voll nie gewesener Dinge, voll nie getaner Arbeit, voll Aufgabe, Anspruch und Zumutung; und wollen sehen, dass wirs nehmen lernen, ohne allzuviel fallen zu lassen von dem, was es zu vergeben hat.“

Zitat aus einem Brief von Rainer Maria Rilke (1875-1926) an seine Frau Clara Rilke -Westhoff (1878-1954) am 1.Januar 1907

(Foto: Detail aus Henri Matisse `Baigneuses à la tortue, Paris 1907/1908, Öl auf Leinwand, noch bis 26.Jan.2025 zu sehen in der Fondation Beyeler, Riehen, sonst Saint Louis Art Museum)

St.Ottilien – Spaziergang 2

Im Ottilienkirchlein ist eine Krippe aufgebaut, das Stallgebäude hat einen hölzernen Dachstuhl, dort sitzt mit baumelnden Beinen eine geschnitzte Putte und hält mit beiden Händen ein langes Windeltuch, wohl dem Jesuskind zugedacht, das nackt und bloß, aber mit segnend gebreiteten Ärmchen auf seinem Krippenbett im Freien vor der Stallmauer liegt. Der heilige Josef steht mit einigem Abstand, aber dem Kind zugeneigt, die Hände wie zum Gebet gefaltet, auch Maria gegenüber ist nicht nahbei, sondern kniet etwas entfernt, unter ihrem Schleier in den Anblick des Kindleins versunken. Der Esel steht ihr mit langen, aufmerksamen Ohren zur Seite, am nächsten ist dem Kindlein die gehörnte Kuh, sie ruht hinter dem Krippenbett und vier ihrer Rippen zeichnen sich deutlich unter der Rückenkuppe ab. Die Krippe steht in einer Nische unter der runden, wie frei schwebenden Kanzel, drei gefleckte Grautöne lassen aber deren Machart aus schwerem Stein erkennen, nur sind die hinaufführenden Stufen hinter einer Wand verborgen. Das Kirchlein duftet weihnachtlich, ein großer, fein geschmückter Tannenbaum nimmt den Platz vor dem Taufbecken ein und steht aufrecht links vor dem Rundbogen, der den Altarraum abgrenzt. Durch das Flachglas der beiden schmalen hohen Kirchenfenster rechts fällt das Mittagslicht und ich sehe, dass sich in einer Facette des blaugrundigen, mit Pflanzenornamenten gestalteten Fensters ein kleines Kirchengebäude findet, darunter die Jahreszahl 1975. Im zweiten, rotgrundigen Fenster wachsen gelbe Ähren in die Höhe, unter den Ähren links prangen in dem ihnen eigenen Blau drei Kornblumenblüten, und wenn man den Blick nach unten gleiten lässt, entdeckt man ein vierblättriges Kleeblatt in hellgrün , darunter so etwas wie seinen Schatten. Jetzt öffnet sich die Holztür zum Kirchlein und herein kommt ein junges Paar, es steigt die Treppe zur kleinen Empore hinauf und sitzt dort eine Weile ruhig in seiner dunklen Kleidung. Ich bleibe noch ein wenig, nachdem das Paar das Kirchlein verlassen hat, dann nehme auch ich die gusseiserne Klinke in die Hand und trete auf den Vorplatz, der sich 405 Meter über Normalnull auf dem südlichen Grat des Tüllinger Hügels ausbreitet und nach Süden und Westen die Rundsicht öffnet auf das nahe Basel und das gesamte Dreiländereck. „Ja, s’goht steil ufe“ hat mich ein älterer Herr beim Aufstieg entgegenkommend entschuldigt, als ich kurz pausieren musste. Ich habe gelesen, dass das Ottilienkirchlein im Jahr 1113 zum ersten Mal urkundlich Erwähnung fand, zusammen mit der Siedlung „Tülliken“. Daran denke ich, als ich schwach im Mittagsdunst hinter den Juraausläufern ein paar Alpengipfel erahne. Ich umrunde das Kirchlein, auf dessen Außenwänden sich die kahlen Bäume des Vorplatzes mit langgestreckten Schatten einschreiben, hinter dem Kirchlein öffnet sich noch der Blick hinunter nach Lörrach und hinüber zu den Schwarzwaldhöhen, dann geht es ein paar flache Stufen hinauf und an der Nordwand sehe ich ein Schild, das davon kündet, das dies einer der mythischen Orte am Oberrhein ist.
 

Allerheiligentag – Spaziergang 1

Am Allerheiligentag will ich hinauf nach St.Ottilien. Neben dem steinernen Brunnentrog, hinter dem man von der Röhrigasse nach links abbiegen muss, belehrt mich eine Infotafel über den Aufbau von Brunnenstuben und erzählt etwas über die Quellen des Tüllinger Hügels, die bis Ende der 1960er Jahre die Altweiler Haushalte mit Wasser versorgten. Katzgass, Sonnenbrunnen, Tschuppis , Schlipf und Röhrenbrunnen – die Namen der Quellen haben Charakter. Nun bin ich abgebogen und schon auf dem Trampelpfad durch wildes Wiesengelände, heute ist er trocken, aus seitlichem Dornengestrüpp leuchten sattrot Hagebutten, leicht steigt es sich bergan. Ungepflegte Bäume stehen verstreut, an manchen hängen noch Herbstblätter und wehen tibetischen Gebetsfahnen gleich im Wind. Ein Tunnel aus verflochtenen Ästen entlässt mich zu Treppenstufen, die man ins Steilgelände eingelassen hat, langsam nehme ich eine nach der anderen, bis ich St.Ottilien aufragen sehe und den Kirchvorplatz erreiche, dessen Kiesbelag kaum noch auszumachen ist unter einem gelbbraunen Blattteppich.  Jemand hat in die Brüstung der Sandsteinmauer Herzen und den Namen Jessica eingeritzt, ich stütze meine Ellenbogen darauf und blicke hinüber zu den Jurahöhen, die Alpgipfel halten sich heute in mildem Dunst verborgen. An einem warmen Spätsommertag stand ich hier mit plumpem Fuß und gegipstem Arm, das kurze Seidenkleid hatte die Farbe von Elfenbein. Ich stand inmitten einer frohen Hochzeitsgesellschaft, die Braut trug Lang und Kobaltblau, so hatte sie im Kirchlein auch ihr Versprechen gegeben unter einem Gemälde, das von Christus nur dessen aus Gewandfalten heraus weit gebreitete Arme zeigt. Heute ist der Kirchenraum still und leer, Sonnenstrahlen nehmen die Farben des Glasfensters mit und pinseln Flecken in Gelb, Türkis und Azurblau an die Wand. Auf dem Altartisch liegt eine alte Bibel aufgeschlagen, es ist das 7.Kapitel des Propheten Hesekiel, ich lese ein paar Sätze der Frakturschrift, dann verlasse ich das Kirchlein, es zieht mich weiter, dorthin, wo ich im Westen die Kuppen der Vogesen sehe und wo mir von der aufgebrochenen Krume eines Feldes schwacher Erdgeruch entgegen weht. Obwohl Mittagszeit ist, hat sich das Nebelband über dem Rhein nicht ganz aufgelöst, hier oben aber wärmt eine kräftige Herbstsonne und neben dem unveränderlich aus seinem Steinmedaillon blickenden Hindenburg hat sich allerlei Volk gesammelt. Ein Vater hat Mühe, den rosa Schmetterlingsdrachen des Töchterleins in die Höhe zu bekommen, laut italienisch parlierend entsteigt eine Großfamilie dem Auto und bereitet sich auf eine passeggiata vor, zwei schlanke Frauen lassen Walking-Stöcke einen sehr raschen Takt schlagen, ein wuschelköpfiger Junge wird vom Hund an der Leine gezogen und stellt seinen dahinschlendernden Eltern die Frage: „was bedeutet das eigentlich in der Menschensprache?“ Die kahl gewordenen Bäume des Obertüllinger Lindenplatzes haben über den noch immer grünen Boden ein großes Schattennetz geworfen, leicht schlüpfe ich durch seine weiten Maschen hinüber auf den Weg, von dem man hinunter ins Wiesental und hinauf zu den Schwarzwaldhöhen sieht. Dann tauche ich in den Wald ein, der licht ist und keinesfalls schwarz, `Hoherweg´ ist ein Holzschild beschriftet und hoch ragen stolze Stämme zu beiden Seiten des breiten Weges, der dem Hügelkamm folgt, weit oben strecken sie einander Blattkronen entgegen und der Himmel darüber leuchtet noch einmal in frischem Blau. Ein Specht klopft laut, Radfahrer passieren in Funktionskleidung und werfen sich von Helm zu Helm englische Worte zu, vor einem Blätterhaufen hockt ein kleines Mädchen und fragt mit staunender Neugier, was das für ein Käfer sei, es betrachtet seinen Fund lange, der Vater aber hat weder Name noch Geduld dafür. Mit einem Mal endet der Wald, die letzten Stämme rahmen den Blick ins Markgräflerland, ich wende mich wieder nach links, vor der Daurhütte brennt ein Feuer und ich nehme seinen Geruch mit und den der hellen Würste, die auf dem Grillrost brutzeln. Der Weg ist nun zweispurig in die sattgrüne Grasnarbe gefurcht und senkt sich langsam einem Dorf entgegen, das noch verborgen hinter der Kuppe liegt, obwohl es doch selbst auf den Hügel geschmiegt ist. Ein wenig verweile ich auf einer Bank, lasse den Blick über die Rheinebene schweifen, dann schaue ich ins mitgeführte Buch und gerade als ich mit spitzem Bleistift schön! neben einen Satz schreibe, setzt sich eine dicke schwarze Fliege auf die Stelle und rastet dort kurz.  Ich gehe weiter, hügelabwärts, das Dorf taucht auf, noch liegt der Kirchturm unter mir, bald aber ist er wieder der über mir Ragende, das Gasthaus Ochsen daneben hat Ruhetag, aber seine einfachen Stühle und Tische auf der Sonnenterrasse belassen und so sitzen hier diejenigen, die sich mit dem Genuss der noch einmal auftrumpfenden Sonne begnügen und die sich satt trinken an der Herbstfarbe der Rebreihen, die unter ihnen den Hügel überziehen. „On se répose cinque minutes“ lädt eine ältere Französin die begleitende Freundin mit weißer Schirmkappe ein und als die Kirchturmuhr schlägt, erzählt sie vom schönen Ineinanderklingen der „cloches“ mehrerer Kirchen einer französischen Stadt. Ich habe mich an einen runden Tisch gesetzt ganz vorne am Geländer, schaue in mein Buch oder über es hinweg bis zu den Dreieckstürmen, die sich in der Ferne vor den Jurahöhen aufbauen und bleibe nicht nur fünf Minuten, sondern so lange, bis unvermittelt ein kühler Hauch ans frühe Sinken der Sonne gemahnt. Da trete ich den Rückweg an und vollende die Schleife zwischen den Reben auf halber Höhe des Hügels, ein asiatisches Paar kommt mir entgegen, ganz in schwarz, noch laufen sie der im Westen tief stehenden Sonne entgegen, wir nicken uns zu und grüßen freundlich.