(Text vom 2.September 2024)
Sind Sie interessiert? fragte der edle Schlafanzug den Herrn. Der Herr, nennen wir ihn Christian, wusste nicht so recht. Er schaute den schwarzen Anzug mit den weißen Paspeln und den vier weißen Knöpfen nachdenklich und ein wenig unentschlossen an. Solch einen Schlafanzug hatte er noch nie besessen. Schwarze Seide. Christian stellte sich vor, wie der Stoff auf der Haut liegen würde, leicht und kühl im Sommer, temperierend im Winter. Na, fragte der Schlafanzug, der in der Auslage eines feinen Herrengeschäftes lag, wäre ich nicht etwas für Sie? Christian zögerte noch immer, er war irritiert, noch nie hatte ein Schlafanzug mit ihm gesprochen. Er ging ein paar Schritte zurück, weg von dem Schaufenster. Das konnte doch nicht sein, was war nur in ihn gefahren? Er schluckte, sein Mund war trocken, er wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, der Tag war schwül. Er musste sich beruhigen, unbedingt. Wahrscheinlich war er zu lange alleine gewesen, und nun hörte er sogar schon Schlafanzüge sprechen. So ein Blödsinn. Er musste unbedingt wieder unter Leute. Christian schob die Brille hoch, linste mit einem Auge zum Schaufenster. Jaja, sagte der Schlafanzug, Sie können es nicht lassen, nicht wahr? Erschrocken sprang Christian zur Seite, heftete seine Augen auf einen überquellenden Mülleimer, der am Straßenrand stand. Nicht, dass der nun auch noch zu sprechen anfing! Christian wurde mulmig zumute. Nein, der Mülleimer blieb ruhig, Gott sei Dank. Raschelnde Seide, lockte der Schlafanzug, kühl auf der Haut und nur der Hauch einer Berührung. Christian bekam Herzrasen. Der Schlafanzug schimmerte schwarz und die weißen Knöpfe blinzelten, nein, blinkten, korrigierte Christian sich. China, dachte er, Maulbeerbaum, Seidenraupe, Seidenspinner. Sein Denken funktionierte also noch, stellte er fest, das war gut, sehr gut war das. Hallo, Schlafanzug, probierte Christian vorsichtig und machte ein paar tastende Schritte Richtung Schaufenster. Der Schlafanzug nickte, na siehst du, geht doch. Oh, dachte Christian, war man jetzt schon per Du? Er hielt inne, schaute nach links und nach rechts, bemerkten andere Passanten, was da vor sich ging? Hoffentlich nicht, aber was sollten sie auch bemerken, dachte Christian, schließlich war er nur ein unauffälliger Mittvierziger mit leicht angegrautem Haar, der vor der Auslage eines Herrengeschäftes stand. Das war doch ganz normal, ganz normal war das. Christian dachte daran, dass er einmal davon gelesen hatte, wie trickreich die Eier der Seidenspinnerraupe nach Europa gebracht worden waren. Und dass in Lucca – wann war er nochmal in Lucca gewesen, der von einem Wall gehaltenen Stadt, Jahre war das her, Jahre – dass also in Lucca die Seidenherstellung florierte, bis sie von dort fliehen musste und nach Venedig kam, hm, ja – Venedig, auch das war Jahre her, Jahre. Bist du noch da, fragte der schwarze Schlafanzug und brachte seine Paspeln in Position. Christian zuckte zusammen, klar, sagte er, klar bin ich noch da, und wie ich da bin, ganz und gar da. Stimmt, dachte er und spürte, wie plötzlich ein Windhauch seine Stirn kühlte. Das war angenehm, Christian fing an, sich wohl zu fühlen, öffnete die Augen weit, die Augendeckel hoben sich jetzt leichter, ging einen weiteren Schritt Richtung Schaufenster, und sagte, nun mit kräftigerer Stimme, ja hallo, guten Tag, seidener Schlafanzug, ich grüße dich. Jetzt wunderte sich der Schlafanzug ein wenig, schon eine Weile lag er nämlich in der Auslage, schimmerte vor sich hin und warb vergeblich um Interesse. Die meisten gingen rasch vorüber, schauten kurz und oberflächlich, wandten sich wieder ab und ihren Geschäften zu. Dabei wusste der Schlafanzug um seinen Wert. Gut also, sagte Christian und nickte dem weißgepaspelten Schwarzen zu, du hast zu mir gesprochen, wie lange niemand mehr hast du gesprochen, ich fange an, dich zu verstehen, warte, ich komme und nehme dich mit nach Hause. Sprach’s, beschleunigte die letzten Schritte und nahm die Türklinke zum feinen Herrengeschäft in die Hand. Der Schlafanzug zwinkerte, mit allen vier Knöpfen.