Das Stundenbuch

Mit dem Livro de Horas de la Condessa de Bertiandos empfängt mich der Büroaufsteller heute und da bin ich doch sehr erfreut über die fantastische Versammlung der dargestellten Szenerie! Kaum habe ich das Büro verlassen, fange ich an zu recherchieren, was es mit diesem besonderen Stundenbuch auf sich hat, stoße dabei zwar auf eine Differenz in der Zeitangabe, erfahre aber lauter Köstlichkeiten: Antonio de Holanda (1480-1557), ein führender Miniaturist Portugals hat die 236 Seiten der um 1515-1530 in lateinischer Sprache verfassten Handschrift mit sage und schreibe 2066 Illuminationen bebildert und dabei „neue Techniken zur Beleuchtung einer Szene“ eingeführt, so dass sich die Handlung „vor den Augen des Betrachters entfaltet“. Nicht nur finden sich neben den für ein Stundenbuch charakteristischen Szenen aus den Evangelien viele weltliche Motive aus Flora, Fauna und aus Fantasiewelten, sondern die mit ausgesprochener Detail-Liebe gestalteten Darstellungen liefern auch allerlei Informationen über die Gepflogenheiten des Alltagslebens auf der iberischen Halbinsel im 16.Jahrhundert. Der Text des für den Infanten Duarte (Sohn Manuels I. von Portugal) anlässlich seiner Hochzeit mit Isabel de Bragança gefertigten Livro de Horas ist zweispaltig in gotischer Schrift geschrieben. Ana de Bragança, Gräfin von Bertiandos, die zur Namenspatin des Werkes wurde, schenkte es 1933 der Academia das Ciências de Lisboa, die ich leider bei einem kurzen Lissabon-Aufenthalt vor Jahren nicht gesehen habe.

Ein Stundenbuch, Livre d’heures, Horologion oder Horarium enthält als liturgisches Buch die Texte des Stundengebets (Officium divinum), das als Antwort gilt auf die im ersten Thessalonicherbrief geschriebene Aufforderung „Betet ohne Unterlass“ und auf die aus den Versen 62 und 164 des 119. Psalms zusammengesetzte Aussage „Siebenmal am Tag singe ich dein Lob und nachts stehe ich auf, um dich zu preisen.“  Im dreistündigen Rhythmus der Horen, beginnend meist ab 6 Uhr morgens, werden sowohl die zyklische wie die lineare Zeiterfahrung des Menschen in eine Glaubenspraxis eingebracht (römisches Stundengebet: Lesehore, Laudes, Terz, Sext, Non, Vesper, Komplet). 

Und dann fällt mir noch ein anderes, herausragendes Stundenbuch ein, Rainer Maria Rilke schrieb den Gedichtzyklus in den Jahren 1899 bis 1903, nachdem ihn zwei Reisen durch Russland und die heutige Ukraine, zusammen mit Lou Andreas- Salomé, entscheidend spirituell geprägt und inspiriert hatten. Ich stehe auf und ziehe den hellgrünen Insel- Taschenbuch -Band mit der Nummer 2 aus dem Regal, ich habe ihn aus dem Bestand meiner Mutter übernommen, die ihren Namen 1988 hinein schrieb. Auf dem Cover befindet sich die Zeichnung eines Brunnens, dessen Wasserzuflüsse nicht Rohren entspringen, sondern drei Ästen eines Baumstammes, den beblätterte Zweige krönen, und das Erste Buch, das „Buch vom mönchischen Leben“ beginnt auf Seite 11 so:

„Da neigt sich die Stunde und rührt mich an/ mit klarem metallenem Schlag:/ mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann – / und ich fasse den plastischen Tag.

Nichts ist mir zu klein und ich lieb es trotzdem/ und mal es auf Goldgrund und groß,/ und halte es hoch, und ich weiß nicht wem/ löst es die Seele los …

To stay or not to stay

English please, antwortet der junge Mann, der mit seiner keycard gerade die Tür öffnet und mir aufhält, so dass ich nicht den Code eingeben muss, wie ich zu ihm auf Deutsch gesagt habe. Ich wiederhole auf Englisch, der junge Mann – offenbar ein Eingeweihter – bleibt zuvorkommend und erklärt weiter, obwohl das gar nicht nötig ist, denn die Informationen zu dieser „Stayery“ prasseln von allen Seiten auf mich ein, rechtzeitig und auf allen verfügbaren Kanälen über das Handy auf Deutsch, direkt vor Ort wahlweise auf Englisch oder Deutsch, auf gelben Schildern und so explizit dezidiert, dass ich an die gelbe Buchreihe „(was auch immer) für Dummies“ erinnert bin. Ich bin das erste Mal in solch einer „Stayery“ und sinniere über das Wort, während ich auf glänzenden grauen Fliesen den langen Fluren folge, zu beiden Seiten flankiert von der Phalanx weißer Türen, die nummeriert und geschlossen paradieren. Der junge Mann wird der einzige Mensch bleiben, dem ich während des Aufenthalts begegne, wahrscheinlich sind er und ich als aussterbende Exemplare in eine cleane Zukunft der Dinge geraten. Die Dinge aber sprechen mit mir, auf Englisch, das Treppenhaus, die Türen, die Spiegel und selbst die Duschkabinen sind sehr beredt. Es gibt eine „laundry“, wo zwei chromblitzende Waschmaschinen warten, „stairs“ verkündet das Treppenhaus und der Spiegel ruft mir zu “ you still look very, very stunning“ – naja, also, ich weiß gerade nicht, antworte ich der spiegelnden Fläche. Ich wende mich lieber um und der Küchenzeile zu, die sich ebenfalls unüberhörbar um mich kümmert:  mit „stay very, very hydrated“ weist das gelbe Schild auf die gelbe „waterbox“ im Kühlschrank hin, die die Aufforderung so eindringlich wiederholt, dass ich Folge leisten muss, zumal die schwarzen Majuskeln eine hübsche Welle bilden, schließlich handelt es sich ja um Wasser, da sind selbst die Buchstaben bewegt. Auch auf der Duschkabine ist die Wellenbewegung zu spüren und ich bin versucht, mich in sie zu stürzen, werde aber durch das „no running in the pool area“ daran gehindert. Zum guten Glück hilft das Duschgel mit „stay very, very clean“ dabei, mich der Umgebung anzugleichen, da kann ich dann beruhigt „very, very tight“ sleepen, ohne den Inhalt dieses Imperativs, nämlich die „earplugs“ zu benutzen, obwohl die Lüftung meiner Meinung nach eine Art Schluckauf hat. Und bevor ich die gelbe keycard to my „very, very extaordinary room“ in den nach ihr schreienden Kasten werfe und einem (immerhin roten) länglichen Türschild mit dem untereinander gestaffelten „stay out out out out“ gehorche (war ich gemeint?), finde ich doch noch ein rheinisches Wort: an einer Glastür zur „Roof Terrace“  steht doch tatsächlich in weiß „BÜDCHEN“.

Der runde Geselle

Warum der runde Geselle versucht hat, sich selbstständig zu machen, weiß ich nicht. Es ging ihm doch gut und er hatte erst vor kurzem ein neues Zuhause gefunden. Als Beigabe zu einem schwarzen Netz mit Rahmen war er ins neue Heim eingezogen und sein neuer Besitzer empfing ihn mit Jubel und offenen Armen. Vielmehr mit offenen Beinen, die auch gleich in Bewegung gesetzt wurden, um dem runden Gesellen alle Ehre zu erweisen. Da ging es zur Sache und ordentlich hin und auch her und das schwarze Netz hatte alle Hände voll zu tun, vielmehr alle Maschen toll zusammenzuhalten. Der neue Besitzer und der runde, gelbe Geselle wurden rasch unzertrennlich und begleiteten sich gegenseitig überall hin. Ab und an durften auch andere Beine, vielmehr Füße dem treuen Gesellen Ehre erweisen, natürlich konnten sie das keineswegs so gut wie die Beine, vielmehr Füße des jungen Besitzers. Die wurden schließlich in ihrer Güte übermütig und kümmerten sich derart rasant um den gelben Runden, dass der leicht verdutzt die Treppe hinunter hüpfte. Und dann, einmal in Fahrt geraten, nicht mehr Halt, sondern sich selbstständig machte. Und gar nicht mehr an die ebenso rührigen wie rührenden Füße seines Besitzers dachte. Die kamen ihm nicht hinterher, als er weitere Hürden mit Leichtigkeit nahm, um Hindernisse herum hopste und immer noch weiter kollerte, schneller und noch einmal schneller, als habe ihm das rasante Kümmern einen solchen Energiestoß versetzt, dass er in alle Ewigkeit hüpfen und rollen und kollern könnte, ein rundum gelungenes Perpetuum mobile.

Und dann?

War der runde Geselle schwuppdiwupp weg.

Wie jetzt und wo?

Er hat einen Schlund übersehen, der hat ihn geschluckt. Ehe er sich’s versah.

Und nun?

Geht’s ihm unterirdisch. Nehme ich mal an. Oder wie sonst geht es einem verwaisten Gesellen in der Kanalisation?

Esercizi di Fantastica

Graue Herren wie bei Momo, auch wenn sie knielange, also kurze Hosen anhaben, dazu Kniestrümpfe und hohe Pelzmützen, die an diejenigen der britischen Palastgarde erinnern. Genau genommen zwei Herren und eine Dame. Eine Dame in einem grauen kurzen Rock. Mit Kniestrümpfen in Grau. Ein eintöniges Zimmer mit geschlossenem Fenster und geschlossener Tür. Die drei eilen um den Tisch, halten in den Händen die Handys und die Köpfe darüber gebeugt. Das ist der Kontakt, den sie haben, der einzige Kontakt, dem sie sich beugen. Der auch den Takt vorgibt. Einen schnellen Takt.

Dann flattert plötzlich etwas herein, das sie nicht (mehr) kennen, ein Schmetterling, ein großer und roter Schmetterling. Was ist das? Sie müssen erst einmal ihre Handys befragen. Aha :“butterfly“. Butterfly? Butterfly! Mit dem Flattern erreicht eine luftige Musik das bleierne Stummsein und zögerlich, aber unaufhaltsam beginnt die Verwandlung. Noch unbeholfen zunächst, dann zunehmend gelenkiger entfalten sich andere Bewegungen außer scrollen, wischen und tippen. Erstaunt schauen zwei sich an, geraten sich versehentlich in die Arme beim Haschen nach dem Schmetterling. Der dritte (ver)weigert sich : no butterfly, butterfly no. No! Aber die Butterfly-Wirkung hält an, das zugeschlagene Fenster wird immer wieder geöffnet, schließlich der Raum verlassen, Bewegungen und Bewegtheit nehmen zu, tanzen, springen, purzeln, klettern, alles ist möglich und wird probiert. Hören können die Grauen plötzlich auch, hören und fühlen, den Sturm, das Gewitter, das Flattern des Schmetterlings, auch der öde Raum gerät in Bewegung, ist eine Bretterbude, ein Klettergerüst, ein Zelt, und endlich ist auch der dritte Graue dem Butterfly verfallen und alle drei fliegen mit bunten Schwingen, die sie von der Außenhaut des Raums gelöst haben, Schwingen in Blau, in Gelb und in Rot, wie der groß gewordene Jemand richtig bemerkt.

Der groß gewordene Jemand, der seit Kurzem Gemaltes mit den Buchstaben seines Namens signiert, ist gerade groß genug geworden für das Bühnenerlebnis, und er und die nonna lachen so richtig laut um die Wette. Als schließlich in der letzten Szene der ganze Saal in tanzende Lichtreflexe getaucht und die Musik mitreißend rhythmisch wird, die öden Wände des Raums kunterbunt und die ehemals Grauen frühlingshaft verwandelt sind, fragt ein groß gewordener Jemand : „Und was kommt jetzt?“

(Burghof Lörrach)

Zweiter Sonntag nach Epiphanias

Wegen des Herzens der Barmherzigkeit unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, um hinzulenken unsere Füße auf den Weg des Friedens.

(Lukas 1,78-79; aus dem Lobgesang des Zacharias; heutiger Lehrtext der Herrnhuter Losungen, nach der Interlinearübersetzung Griechisch-Deutsch und der Einheitsübersetzung)