Eine meiner derzeitigen Lektüren, die ich gestern Abend gerade noch rechtzeitig beendet hatte, ließ auch die Erinnerung an ein Märchen der Gebrüder Grimm auftauchen: Schneeweißchen und Rosenrot. Ich muss es als Kind beim Hören einer Märchenschallplatte kennengelernt haben oder vielleicht hat es mir auch jemand vorgelesen. Wie lange habe ich daran nicht gedacht? Sehr lange. Ich laufe zum Bücherregal und suche die Ausgabe der von den Brüdern Grimm gesammelten Kindermärchen, die ich im Februar 2022 einmal in einem Antiquariat entdeckt und mitgenommen habe, ah da ist er ja, der schöne kleine alte Band – aber leider enthält diese Volksausgabe von 1863 (achtundfünfzigste, mit dem Originaltext verglichene Auflage; Loewes Verlag Ferdinand Carl in Stuttgart) nicht Schneeweißchen und Rosenrot, also suche ich nach dem Text im Netz und werde fündig auf www.grimmstories.com . Man kann das (und weitere) Märchen dort auch als pdf-Datei herunterladen, in anderen Sprachen lesen oder sogar sich vorlesen lassen, zum Beispiel von einer Frauenstimme in Italienisch. In meinem Band fehlt auch der Froschkönig, ein Lieblingsmärchen auf der Kinderschallplatte. Ich erinnere noch, wie mir zumute war beim Hören von Hänsel und Gretel, von Rotkäppchen, Aschenputtel, Frau Holle und Die Sterntaler. Das Inhaltsverzeichnis meines Bandes weist diese Märchen aus und dazu weitere dreiunddreißig, beginnend mit Daumerlings Wanderschaft über Brüderchen und Schwesterchen, Hans im Glück, Fundevogel, endend mit Doktor Allwissend. Und mit welchem Satz enden die Bremer Stadtmusikanten? Hm? Na gut, ich verrate den Satz, der in meinem Büchlein dem, der auf grimmstories den Schluss bildet, angehängt ist: „Und der das zuletzt erzählt hat, dem ist der Mund noch warm.“
mit dieser deutschen Wortbildung bezeichnete vor vielen Jahren der italienische Familienfreund E. das, was der September uns derzeit bietet. Kannte E. das Gedicht Die kleine Passion von Gottfried Keller (1819-1890), das in der ersten Zeile das Wort verwendet: „Der sonnige Duft, Septemberluft/sie wehten ein Mücklein mir aufs Buch…“ ? – möglich, ich weiß es nicht; ich kannte es nicht, die Suchmaschine hat es mir präsentiert. Das Wort aber hat sich in mir festgesetzt und es steigt immer auf im September, wenn wie heute die Morgen frisch und klar sind, die Himmel wie blankgefegt, wenn sich auf meinem Höhenweg die Schatten der Rebreihen lang ziehen, die Reihen selbst aber dicht stehen mit Traubenbehang und noch üppigem Grün, das sich an den Rändern zu verfärben beginnt, wenn die Strahlen der tiefstehenden Sonne so gebrochen werden, dass sie durchs Dickicht der Rebreihen und Bäume flackern und ich beim Radeln auf die Irritationen des Gegenlichts achten muss. Wenn die Traktoren der Herbstlese zu tuckern beginnen am Hügel und den Wegrand schon prallvolle Behälter säumen. Wenn der Wiesentalbach funkelt, als habe man kistenweise wohlgeschliffene Diamanten hinein geschüttet und wenn es mittags so warm wird, dass ich die oberen Lagen der Kleidung ablegen kann. Wenn es gut ist, einen Fahrradhelm auf dem Kopf zu haben, damit herabstürzende Kastanien abgefangen werden und ich aber geneigt bin, sofort anzuhalten und ihren verlockenden braunen Glanz einzuheimsen.
Wenn ich beim Ausflug zum Büroaufsteller ins Ruderboot springen und mit Henri Lebasque (1865-1937) (oder wem auch immer) unter Blattwerk auf der funkelnden Marne im Septemberlicht entlanggleiten kann.
Um sie herum unbewohnte Häuser. Spinnweben hinter der Scheibe im Giebel, wo früher die mürrische Alte stand und jede Regung gegenüber mit genauen Augen aufzeichnete, solange die Augen ihr folgten. Als die Augen keine Regungen mehr herein ließen, herrschte die Alte ihren Mann an, der Mund gehorchte ihr noch, und der Mann brachte alles ans Bett, aus dem die Alte nicht mehr aufstand. Der Mann war selber alt, die Haare wirr und weiß, die Hose voller Löcher, ausgeleierte Hosenträger hielten sie gerade noch über einem Hemd, dessen Farbe unbestimmt war. Der Mann sagte nie ein böses Wort zur mürrischen Frau. Irgendwann erübrigte sich sein Gang zum Bett im ersten Stock, er stand vor dem Haus und beschnitt die Hecke, sein linker Arm war dick, man hatte ihm eine Geschwulst aus der Achselhöhle entfernt. Die Gartenschere führte er mit rechts, links griff er ins Grün, ein Kompressionsverband erschien aus dem Ärmel des Hemds, dessen Farbe sich nicht geändert hatte. Mit beiden Händen sammelte der Mann das Schnittgut geduldig in einen Behälter, die Hecke war lang.
Einmal schaute sie nachts aus dem Badfenster im zweiten Stock, ein Polizeiwagen hielt an der Kreuzung, die Beamten halfen dem alten Mann heraus, unsicher tastete er mit Augen und Füßen. Im Nachthemd und barfuß eilte sie hinunter, da aber hatte der alte Mann bereits die Erinnerung und den Hauseingang gefunden.
Irgendwann sah sie ihn lange nicht bei der Hecke, eine fremde Stimme bat am Telefon, sie solle das Haus gegenüber im Auge behalten, es gäbe so viele Einbrüche. Später ließ die fremde Tochter ein Video-Auge anbringen und eine Kette vor die Einfahrt spannen, in der niemand mehr aus dem alten weißen Kombi stieg. Nur das Unkraut erhob sich aus den Ritzen und die Hecke streckte sich in die Höhe, im Sommer garniert vom Weiß der Winden. Eine Katze schlich unter der Kette in die Einfahrt, sonst regte sich nichts.
Auf der anderen Seite der Gasse fehlte das Kinderlachen, das hier aufgewachsen war, sie hatte gehört, wie es sich veränderte und wie sich Laute und Wörter zu ihm gesellten, immer mehr. Im Sommer plantschte es im Gartenpool, der hinter der Buchenhecke stand, und ab und an vermischte es sich mit anderem Lachen und Rufen und ein Ball flog durch die Luft und blieb auf einem Vordach liegen. Manchmal kamen Stimmen Erwachsener hinzu, auch italienische waren darunter, ein Geruch von Grillfeuer zog zu ihr herüber und die Sprachfetzen flogen herbei und wieder davon wie kleine Vögel. Dann zogen Stimmen und Lachen weiter, der Grillplatz lag verwaist, dem Schornstein entwich kein Rauch mehr und nie wieder erhellte Licht das Wohnzimmerfenster, das nun kaum noch auszumachen war hinter dem ungebremsten Wuchs des Holunders.
Wie gut, wenn man Leseplätze wechseln kann! Heute wähle ich einmal den echten Sylter Strandkorb, der – wie auch immer – vor einigen Jahren hierher gefunden hat. Meist ist er nun ein Häuschen für einen groß gewordenen Jemand und den, den ich gerade Purzel nenne, weil mit einem Mal ein Wort nach dem anderen munter aus ihm heraus und er nicht minder munter in allerlei Gegenden mit allerlei Beschäftigungen herum purzelt. Auch hat wohl mindestens eine herbei gelaufene Katze den Strandkorb zum Ruheplatz erkoren, wie ich an den vielen, vielen Härchen sehe, die die Sitzfläche – naja – zieren. Ich werde wohl also erst etwas säubern müssen, bevor ich im Strandkorb zu meiner Lektüre greifen kann, in der zum Beispiel (die am 11.Februar 1869 in Elberfeld geborene und am 22.Januar 1945 in Jerusalem gestorbene) Else Lasker-Schüler den ganzen Winter über ans Meer denkt. Weit breite ich die Flügel aus und weiß nichts mehr als dies: Schweben – Vogelsein! – das Zitat ist dem Kapitel vorangestellt, das von Lasker-Schülers Liebe zum pommerschen Ostseebad Kolberg erzählt.
Der Name Pommern leitet sich offenbar von einem slawischen Ausdruck ab, der „am Meer“ bedeutet, im Polnischen po morzu : am Meer, entlang des Meeres – oder po morze: bis zum Meer; das sagt jedenfalls Wikipedia.
Leider kann ich die Menschen, die auf den alten Familienfotos in eher steifer oder aber in sommerlich- lockerer Kleidung am Meer stehen, nicht mehr fragen, an welchem Ort genau sie aufs Meer oder in die Kamera blicken, aus früheren Familienerzählungen der Mutter und der Großeltern erinnere ich aber, dass es Ferienaufenthalte an der Ostsee waren.
Gedichte und auch Prosa-Texte von Else Lasker-Schüler habe ich in jungen Jahren gerne gelesen. Heute lese ich weiter in „Schreiben am Meer – Wo der Himmel größer ist“ (Kristine von Soden, Transit-Verlag, Berlin 2024; die Autorin hat das Buch ihrer Mutter gewidmet).
Am vorletzten Tag der Sommeröffnung bringt der Nachmittag eine ausreichende Wärme zustande, so dass ich nach kurzer Strecke mein Rad an einen der vielen Metallständer schließe, die in Reihe und fast völlig verwaist auf ihre Bestimmung warten, ich kann nur einen erlösen. Im Eingangsbereich des Naturbades erreicht mich sofort der Duft des Lärchenholzes, keine anderen Gerüche verfälschen ihn, heute ist es wirklich einzig mein Gartenbad, die Wasserfläche liegt unberührt, es ist ganz still, nur die kleine Fontäne im Kinderbecken singt ihr rauschendes Lied. Auf den Holzbohlenstegen rennen keine nackten Füße, nur Ameisen folgen den ihnen eigenen inneren Befehlen. Keine neongelben Westen stören die Braun- und Grüntöne, die eine changierende Himmelsfarbe überdacht. Die Sonnenschirme eifern den schmalen, hohen Zedern am Wiesentalbach nach, sie haben ihre Streben und das darüber gespannte Segeltuch eng an den Stamm geschmiegt und wachsen aufrecht in die Höhe. Die Anzeigetafel vor den Garderoben leuchtet mit roten Ziffern, Luft 25,1 Grad, Wasser 19,3 Grad, Uhrzeit 15:36 Uhr, ich wage ein Zerteilen der Wasserfläche, außer mir schwimmen nur die Seerosen, die ihre pastellgelbe Blütenfülle geöffnet halten. Die Bewegungen meiner Hände rufen lauter kleine Blasen auf der Wasseroberfläche hervor, halte ich aber inne, beruhigt sich das Bild und ich kann mit dem Atem konzentrische Ringe ins Wasser pusten, als hätte ich einen der kleinen Kieselsteine geworfen, die im Nichtschwimmerbecken die Fußsohlen traktieren und zwischen den Zehen hängen bleiben. Der bronzene Pelikan bewacht ganz alleine die Stufen, auf denen heute keine Kinderfüßchen ins Wasser tasten, zwei Blässhühner genießen die Stille und probieren ein Versteck im Schilf. Als die Sonne plötzlich kräftig durchs Grau der Wolken bricht, züngelt ein grünes Lichtband an der Unterseite des Einmeterbretts und belebt das Ensemble des Sprungbeckens, dem heute das Platschen fehlt, im Schwimmerbecken ziehe ich ausdauernd meine Bahnen und sehe den glatten Grund, über den nun ein fluoreszierendes Gitternetz wabert. Die Helligkeit entzündet auch das Metall der Wasserrutsche zu silbrigem Strahlen, einzig ein dünner Wasserfilm hält die korrekte Position und folgt dem Silberglanz flüssig hinab. Als die roten Ziffern auf 23,0 Grad Luft- und 19,1 Grad Wassertemperatur sinken, die Uhrzeit aber dem Abend entgegensteigt, habe ich das Becken verlassen, in das nun doch noch eine Handvoll Unentwegte gestiegen sind. Wie durch ein Megaphon dringen Laute an mein Ohr, das Eintauchen kraulender Arme, das Luftholen auftauchender Köpfe, ein paar übers Wasser geworfene Worte. Dann überzieht den Himmel wieder geschlossenes Grau, die Kassiererin hat bereits eine Kette vor den Zugang zur Dachterrasse gespannt, und während ich den Ausgang passiere, schlüpfe ich in eine Strickjacke, es ist kühl.
Der heutige Tagesvers gemäß Herrnhuter Losungsbüchlein ist der Vers 18 aus dem dritten Kapitel des kurzen Habakuk-Buches. Überschrieben ist das Kapitel mit „Psalmgebet des Propheten“ und es ist nach der Weise schigjonoth zu singen oder zu beten.
In meiner Wuppertaler Studienbibel (Brockhaus-Verlag 1980) heißt es, dass der hebräische Text der vorangehenden Verse 6 bis 15 den am schwersten zu übersetzenden Wortlaut des gesamten Alten Testamentes darstellt, viele hebräische Begriffe tauchen nur hier auf. Es mag aber auch an den Inhalten liegen, mit denen Habakuk sich befassen muss. So heißt es z.B. im Vers 6: Er (Gott) tritt auf und erschüttert die Erde, er schaut hin und lässt Nationen auffahren. Es bersten die ewigen Berge, es senken sich die ewigen Hügel. In Vers 17 sieht der Prophet Folgendes: Denn der Feigenbaum blüht nicht und an den Reben ist kein Ertrag. Der Ölbaum versagt seine Leistung, und die Terrassengärten bringen keine Nahrung hervor. Die Schafe sind aus der Hürde verschwunden, und kein Rind ist in den Ställen.
Zum Ende des Kapitels und Buches kommt der Schwenk auf eine andere Fokussierung:
Ich aber, ich will dem HERRN jubeln, will jauchzen über den Gott meines Heils. Der HERR, der Herr, ist meine Kraft. Den Hirschen gleich macht er meine Füße, und über meine Höhen lässt er mich einherschreiten.
( Verse 18 und 19 zitiert nach der Elberfelder Übersetzung 2006)
– habe ich‘s doch gewusst! Die Bestätigung erteilt mir mit Ausrufezeichen das Hafenmuseum, das mich herzlich willkommen heißt und mir gleich mitteilt, dass die Basler Häfen am Güterverkehrskorridor Rotterdam-Basel-Genua und somit am Meer (!) liegen (den einschränkenden Teil des Satzes mit „im übertragenen Sinn“ und „sozusagen“ brauchen wir hier nicht).
Das Hafenmuseum direkt im Hafenareal an der Westquaistrasse, neben hochgestapelten Containern, mit Fensterblicken zum Rhein und ins Geschehen ist anschaulich und sehr beredt. Es führt einen durch die Jahrhunderte, ich erfahre, dass die Kelten vom Stamm der Rauriker um 120 v.Chr. beim heutigen Novartis-Areal und früheren St.Johann-Hafen einen Umschlaghafen gründen und nicht nur aus dem Mittelmeergebiet Wein in Amphoren importieren, sondern auch Bernstein aus dem Baltikum und Keramik aus Böhmen; außerhalb schiffbarer Gewässer übernehmen Esel, Maultiere und Pferde den Transport. Dann natürlich befahren die Römer den Rhein, um 20 v.Chr. beginnen sie damit, zu Handels- und militärischen Zwecken, die Ufer des Rheins unterteilen sie dabei in einzelne Zollregionen. Die römischen Rheinschiffe werden nach standardisierten Bauformen als Flösse oder Kähne aus ausgehöhlten Eichenstämmen hergestellt, teils mit Tierfellen überzogen, Ruder und Segel treiben an, außerdem wird getreidelt. Später ist – wie die Wände detailreich erzählen – die Geschichte der Rheinschifffahrt ein Auf und Ab, gegen ungerechtfertigte Zölle und Raubrittertum schließt Basel 1254 mit den Städten Mainz, Köln, Worms, Speyer und Straßburg den Rheinischen Städtebund, eine Kriegsflotte auf dem Rhein soll die Schifffahrt schützen, zwischen Mosel und Basel werden einhundert und unterhalb der Mosel fünfhundert Schiffe mit Bogenschützen bereitgestellt. Gesellschaftliche und religiöse Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Rheinschifffahrt, so führt z.B. das Basler Kirchenkonzil 1431-1448 zu Auftrieb wie auch die Zeit der Glaubensflüchtlinge aufgrund der Gegenreformation in Frankreich und Italien (kapitalkräftige Kaufleute siedeln sich an, betätigen sich als Großhändler und Spediteure, Basel ist internationales Zentrum der Seidenbandindustrie).
Stopp – unmöglich kann ich mir beim ersten Besuch alles einverleiben, sonst bekomme ich noch Verdauungsschwierigkeiten. Lassen wir lieber entspannt die Augen schweifen auf Schiffs- und Hafenmodelle, auf Knotenvariationen, Fotografien und Landkarten. Und auf das erste Rheinschifferpatent vom 3.Dezember 1924, das nicht nur die „Schiffsgattung, deren Führung hiermit gestattet wird und die Rheinstrecke, auf welcher der Besitzer des Patents zu fahren befugt ist“, sondern auch diesen Besitzer unverwechselbar beschreibt: Geburtsdatum 26.Januar 1880, Gestalt: schlang, Grösse: 177cm, Haare: braunmeliert, Stirne: mittelhoch, Augenbrauen: braun, Augen: braun, Mund: mittelgross, Gesicht: rund, besondere Kennzeichen: Warze an der rechten Wange, Narbe an der linken Halsseite.
Will ich jetzt mit dem fahren? Oder such‘ ich mir einen anderen Rheinschiffer aus? Mit dem ich ans nahe Meer fahre, wo gerade Sonnenglimmer mit Wellen spielt, die der Wiesentalbach in den Strom schickt und wo sich von einer Sandoase noch Sommerklänge in den frischen Wind fädeln?
lautet der Titel des neuen Buchs von Martina Clavadetscher (geb.1.Aug.1979 in Zug/CH), das ich noch nicht gelesen habe, aus dem ich aber mit Genuss die Autorin gestern Abend im Literaturhaus Basel lesen und zu dessen Hintergründen und Werden erzählen hörte, moderiert von Usama Al Shamani als Auftakt zur dreiteiligen Reihe Schreiben und Widerstand. Die Konzeption der Reihe basiert für Al Shamani darauf, dass er Schreiben nicht nur als ästhetische Form, sondern als Haltung ansehe, so dass Schreiben auch einen Widerstand gegen das kollektive Wegsehen erlaube, eine Sichtbarmachung dessen, was ausgelöscht werden soll. Texte könnten auch stützen. Martina Clavadetscher, die auch für verschiedene Theater arbeitete (Hausautorin am Luzerner Theater 2013/14) und das Drehbuch zum 2017 erschienenen Schweizer Fernsehfilm „Die Einzigen“ schrieb, habe sich gleich mit ihrem ebenfalls 2017 erschienenen ersten Roman „Knochenlieder“ in die Literaturlandschaft eingeschrieben. Ihr zweiter Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ gewann 2021 den Schweizer Buchpreis. Dass jedes ihrer Bücher sich inhaltlich und formal sehr vom vorausgegangenen unterscheide, hebt Al Shamani hervor, und auch innerhalb des neuen Romans benutze sie eine Vielfalt von Erzählweisen. Drei Schichten habe er im Roman entdeckt mit jeweils auch einer ganz unterschiedlichen Sprache: 1. den Krimi (Clavadetscher sagt Schein-Krimi), 2. Drachen-/Sagen-Erzählungen in metaphorischer, poetischer Sprache, 3. Abschnitte mit den Figuren Herr Kern und Mutter in harter „Nazi-Sprache“. Von den Figuren „Schibig“ (ein Archivar) und „Rosa“ (die Alte aus dem Wohnwagen) wünscht sich Al Shamani sozusagen eine Fortsetzungsgeschichte und Clavadetscher erzählt lächelnd, dass sie beim Schreiben selbst Freude an diesen Figuren hatte. Die Zuhörerschaft im ausverkauften Literaturhaus kann merken, dass Martina Clavadetscher sich im Gespräch mit Al Shamani wohl und verstanden fühlt, ausführlich, unprätentiös, interessant, zum Nachdenken anregend und auch herzlich lachend antwortet sie auf dessen Fragen. Das Buch zu schreiben, sei wahnsinnig anstrengend gewesen, sie habe auch körperlich reagiert, sei nun froh, dass die Wut und auch Sorge, die sie seit Langem bezüglich des Themas beschäftigte, sich in das Buch verwandelt habe. Mit dem Einstieg in den Roman als Schein-Krimi habe sie endlich die Form gefunden gehabt für ihr Thema, zu dem sie über viele Jahre in ihrem Kopf und in Zeitungen, Archiven, Literatur etc. gesammelt habe. Sie habe sich immer die Frage gestellt, wie man die öffentliche Wahrnehmung schärfen könne, ohne mühsam zu werden. Um mit der Gegenwart, der obersten Schicht klar zu kommen, müsse man die Schichten darunter kennen, wir alle stünden auf diesen (Ge-)Schichten, plattentektonisch.
Sie habe den Schluss des Romans in das Gefäß der Liebe gegossen, sagt Usama Al Shamani, ja, antwortet Martina Clavadetscher, es gehe nicht um Schuld, sondern darum, die Liebe nicht zu vergessen, die Welt zu lieben und besser zu gestalten. James Baldwin (1924-1987) habe einmal gesagt, die Aufgabe des Künstlers sei die eines Lovers.
Viele gehen mit dem eben am Büchertisch erworbenen neuen Buch zum Signieren und zum Austausch von ein paar Worten mit der Schriftstellerin. Ich habe das vorige (sehr besondere) dabei „Vor aller Augen“ und entschuldige mich, Martina Clavadetscher aber freut sich über den alten Bekannten, empfiehlt mir noch die Friederike Mayröcker- Ausstellung im Strauhof Zürich und bekräftigt Ort, Datum und Widmung mit ihrer schwungvollen Unterschrift.
(Martina Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen. C.H.Beck-V. 2025)
(Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. Unionsverlag, Zürich 2022)
(Ausstellung Strauhof Zürich: Friederike Mayröcker – ich denke in langsamen Blitzen; leider nur noch bis zum 07.09.2025)
(zu Usama Al Shamani s. Blogeintrag vom 29.August 2025)