Cucina della nonna

ist der Titel eines (nicht nur Koch-) Buches, das C.E.F. mir einmal geschenkt hat. Am 4.Februar 2025 habe ich das Buch schon erwähnt, Domenico Gentile (der auch einen Food-Blog hat) präsentiert darin Familienrezepte aus Kalabrien und erzählt dabei ein wenig ihre Geschichten, indem er von Antipasti, contorni e zuppe  über Primi und Secondi piatti zu den Dolci wandert. (Becker Joest Volk Verlag, Hilden 2023)

Als ich heute das Buch vom Regalbrett nehme, fällt mir das eingelegte Buchzeichen entgegen und die schöne Karte, die eine Schachbrettblume (Fritillaria meleagris) zeigt.

C.E.F. hat in einer Stadt des Nordens an den Süden und an mich gedacht, und ich denke (nicht nur) heute an C.E.F. und ihren baldigen Besuch, blättere durch das Buch, tauche mit Texten und Fotos in die Aromen des Südens und erinnere mich, dass das Caffè Portofino nicht nur an der Piazza des Politikers und Volkstribuns Cola di Rienzo (1313-1354) in Rom seine Köstlichkeiten darbietet, sondern auch in der Straße des vermeintlichen Stadtgründers Bertold III. von Zähringen (um 1085-1122) in Freiburg, neben dem Theater. Zwar gibt es dort leider nicht die variantenreichen tramezzini und piatti caldi, aber die gelati sind „cremig, fruchtig, frisch“ und mit oder ohne Sahne vorhanden, und caffè bekommt man auch, also weiß ich ziemlich sicher, wohin es C.E.F. und mich ziehen wird.

Davor aber gibt es Proben, Proben, Proben und ein Konzert, beim Einsingen lockern wir nicht nur die Kiefer, sondern kauen auch die Töne und die Stadt ist ganz augen(ge)fällig mit blauen Plakaten gepflastert!

Die drey scheenschte Dääg – Rückblick

Am Dienstag sind die drey scheenschte Dääg voll in Gang, das Wetter hat sich für aufgelockerte Bewölkung mit sonnigen Abschnitten entschieden, es spricht nichts dagegen, über Frankreich am Rhein entlang in die Schweizer Nachbarstadt zu radeln. Bei St.Johann erreicht uns schon der Rhythmus der Trommeln und das Pfeifen der Piccolo-Flöten, noch ist es vereinzelt und verhalten, rasch wird es sich steigern in Lautstärke und Frequenz. Die Räder parken wir bei der christkatholischen Kirche neben dem Universitätsspital und gehen zu Fuß Richtung Mittlere Brücke. Wir schauen nach oben und sehen, dass die „Trois Rois“ an den drey scheenschte Dääg keine Könige bleiben wollen, sondern sich in Waggis verwandelt haben und aus Vogelperspektive auf das Treiben schauen. Den heute ruhig fließenden Rhein sehen sie nicht, wir aber können ihn immer einmal wieder erblicken.

Laut, sagt der groß gewordene Jemand und hält sich die Ohren zu, als das Trommeln direkt an uns vorbei und auch in unseren Bauch kommt. Und dann geht er richtig los, der Kinder- Cortège, der Fasnachts-Umzug der Binggis, bei dem auch große Menschen und Cliquen, Ainzelmasgge und Gruppen teilnehmen können – und Brücken und Gassen füllen sich mit so viel Volk, so viel Rhythmen und Räppli, dass sie fast bersten.

Wir bewundern die fantasievollen Kostüme und Sujets, lassen uns vom hypnotischen Pfeifen und Trommeln einlullen und wärde au mol gstopft (später werden wir Mühe haben, die knallbunten Räppli wieder loszuwerden). Der groß gewordene Jemand und der freudige Fratz haben sich inzwischen an das Treiben gewöhnt und sammeln eine Menge Dääfeli und Plüschtierchen, die an Buntheit den Räppli in Nichts nachstehen. So große Schuhe wie die herzigen Clowns haben wir nicht, aber wir wollen ja auch nicht die lange Strecke mitlaufen, sondern nur den Rheinsprung hinauf, um auf dem Münsterplatz die Laternen – Gehäuse zu bestaunen. Dass das und erst recht danach der Weg zurück zu den Rädern zu einem Schneckenrennen gerät, weil kaum noch ein Durchkommen ist und aus allen Winkeln, Ecken, Straßen und Gassen immer neue Formationen trommelnd und pfeifend marschieren, lässt uns bedauern, dass wir uns nicht mit einem der zem Siirpfle angebotenen Wässerli gestärkt haben.

Schließlich befreien wir aber die Räder aus der Kohorte derer, die sich zu ihnen gesellt haben, erreichen über St.Johann den Dreylanddichterweg am Rhein, entfernen uns von Rhythmen, Räppli und Menschenmengen und denken daran, dass der mit weißer Hose, blauem Hemd und rotem Foulard gekleidete Waggis ursprünglich ein elsässischer Tagelöhner war.

(Und wer nicht weiß, was Binggis sind, der darf unter dem Link nachschauen)

https://www.dwds.de/wb/Binggis

Der Schlüssel der Träume

heißt eine Ausstellung, die noch bis zum 4.Mai 2025 zu sehen ist und in der die  Fondation Beyeler zum ersten Mal eine Auswahl surrealistischer Meisterwerke der Collection Hersaint zeigt, etwa 50 der rund 150 Werke umfassenden Sammlung des Claude Hersaint (1904-1993) sind ausgestellt und befinden sich zum Teil im Dialog mit korrespondierenden weiteren zentralen Werken der Fondation. Ein 1948 von Balthus (1908-2001) geschaffenes  Portrait zeigt im Saal 9 den Sammler in der rechten Profilansicht, im Sessel sitzend, das Kinn in die rechte Hand gestützt, auf die von links oben Licht fällt, genau wie auf die Glatze über dem erhaltenen Haarkranz. Claude Hersaint sowie seine Frau Françoise und seine Tochter Evangéline verband eine lange Freundschaft mit Ernst und Hildy Beyeler, so dass auch Balthus‘ Passage du Commerce Saint-André nicht nur in der aktuellen Ausstellung, sondern als Dauerleihgabe seit vielen Jahren in der Fondation zu sehen ist.

Ich bin vor einigen Tagen durch die Ausstellung gegangen, da die meisten Besucher die gleichzeitig stattfindende zweite Ausstellung Nordlichter bevorzugten, ging es in den zehn Sälen der Surrealisten entspannt und luftig zu, es gab viel Raum und Zeit zum Schauen. „Schwergewichte“ wie Max Ernst, Joan Miró, Pablo Picasso, Jean Dubuffet, René Magritte, Man Ray und auch ein Dalì sind vertreten, aber auch eher selten zu sehende Werke, zum Beispiel von Max Ernsts vierter Ehefrau, der Malerin, Bildhauerin und Schriftstellerin Dorothea Tanning (1910-2012).

Bevor man den ersten Saal betritt, befindet sich an der Wand des Foyers neben dem einleitenden Text das Bild, mit dem Claude Hersaint im Alter von erst 17 Jahren seine Sammlung begründete, Max Ernst schuf es etwa 1920, Hersaint erwarb es im Jahr 1921. Ich stelle fest, dass die meisten der Museumsgäste es kaum beachten, zum Teil wirken sie schon müde vom Besuch der Nordlichterausstellung auf der anderen Seite, zum Teil lesen sie gerade noch den Text und wollen dann rasch weiter in die Säle, das Bild ist eher klein und man bringt es nicht unbedingt mit dem Surrealismus in Zusammenhang : Cage et oiseau / Käfig und Vogel ist sein Titel (Öl auf Karton mit Originalrahmen) und im ersten quadratischen Rahmen aus dunklem Holz hält sich ein grün- weiß gestreifter Vogel vor oder hinter (?) sieben weißen vertikalen Streifen auf, und zwar so, dass seine weißen Streifen die Zwischenräume der drei mittleren vertikalen Streifen füllen, wobei Konturen einen dickeren oder dünneren schwarzen Rand erhalten, den Rest dieses inneren Bildes nimmt ein angenehm warmes Rot ein, die Farbe erhebt sich in regelmäßigen Abständen zu weiteren Gitterstäben. Sie bildet zudem um das Bild herum ein Gitternetz aus leicht unregelmäßig verlaufenden Quadratlinien auf weißem Grund bis zum zweiten äußeren Rahmen aus dunklem Holz. Max Ernst (1891-1976) hat mit schwarzen Majuskeln, die leicht goldfarben hinterlegt sind, auf dem unteren Teil des inneren Rahmens signiert.

Mehr Leute verweilen im Saal 1 vor dem von René Magritte (1898-1967) gemalten und sehr bekannten Werk  La Clef des songes /Der Schlüssel der Träume (1930, Öl auf Leinwand), das seinen Titel der gesamten Ausstellung geliehen hat. In einem illusionistischen Fenster sind hier bestimmte Worte ganz anderen Gegenständen zugeordnet, zum Beispiel la Neige einem schwarzen Hut und l’Orage einem leeren Wasserglas, so dass Beziehungen zwischen und Vorstellungen von Wort, Bild und Objekt hinterfragt werden.

Im großen Saal 9 scheinen sich gerade, als ich ihn betrete, Besucherinnen in Balthus‘ stillstehende Szene Passage du Commerce Saint-André (1952-1954, Öl auf Leinwand) einzufügen: links vor dem Kind mit Puppe eine dunkelhaarige, dunkel gekleidete, auf einem Rollator sitzende Dame, rechts vor dem auf dem Bürgersteig kauernden Mann eine noch in Bewegung befindliche große schlanke Frau in blauer Jeans und beigem Jackett.

https://www.fondationbeyeler.ch/ausstellungen/der-schluessel-der-traeume

Ankunft

Sie ist angekommen, gelandet im Hybridflughafen, der schon neue Größe propagiert, aber die Reisenden noch durch gedrängte Gänge führt. Die Fahrt vom Rollfeld bis zum alten Flughafengebäude kommt ihr lang vor, in der Ferne sieht sie die Glasfronten des neuen Gebäudes im Morgenlicht. Bis zum Beginn der Tagung ist noch Zeit, sie muss sich nicht beeilen, nur orientieren und ohnehin erst zur Toilette. Sie folgt der Markierung auf dem Boden, die um viele Ecken zum Ausgang weist, sie geht nicht rasch, auch nicht langsam, den Trolley zieht sie hinter sich her, die kleine Handtasche hat sie umgehängt. Hinter einer weiteren Biegung verpasst sie nicht das Toilettensymbol, sie betritt den engen Raum, dann die Kabine, sie mag nicht, dass man in dieser Jahreszeit so viel ablegen muss, oft gibt es nicht einmal einen Haken, an den sie Jacke und Tasche hängen kann, und Dokumente, die sie in der Hand hält, finden nur auf dem Gehäuse der Klopapierrollen oder dem Mülleimerdeckel einen Platz.

Sie zieht die Jacke wieder an und den Reißverschluss nach oben, hängt die Handtasche quer über Schulter und Brustkorb, nimmt den Griff des Trolleys in die eine und die Dokumente in die andere Hand. Bei den Waschbecken ist sie plötzlich ganz allein und schaut erstaunt auf das weiße Rechteck, das sich quer über den Spiegel breitet und mit roten Großbuchstaben den neuen Namen des Flughafens beschwört, zwei Reihen rechteckiger Kacheln passen sich über den drei Waschbecken dem Rot an. Sie stellt den Trolley neben sich, legt die Dokumente ab, wäscht die Hände und hält sie in den Strom des Trockners, das Geräusch zerreißt mit der Stille ihre Gedanken, sie ist froh, als es endet.

Sie holt das Handy aus der Tasche, der neue Name will festgehalten werden, dann macht sie einen Schritt zur Seite und versucht, das Smartphone so ihrem Spiegelbild gegenüber zu positionieren, dass sie ein Ganzkörperfoto machen kann. Es gelingt, sie fängt sich ein, spiegelverkehrt, dann steckt sie das Handy wieder in die Tasche. Noch immer ist niemand im Toilettenraum, sie schiebt den linken Unterarm durch den Griff des Trolleys, nimmt die Dokumente in die linke Hand und öffnet die Tür mit rechts. Auf dem Gang eilen Einige vorbei, sie wechselt die Dokumente in die rechte Hand und zieht den Trolley wieder bequem mit der linken.

Sie freut sich auf die Tagung, sie muss nichts tun, nur zuhören und mitschreiben, am See entlang und zu den Mahlzeiten gehen. Jetzt hat sie den Ausgang des Flughafengebäudes erreicht, auf dem Vorplatz herrscht hektische Bewegung, Autos, Busse und Menschen geraten in alle Richtungen durcheinander. Sie sucht den Weg zum Bahnhof und findet ihn rasch, sie passiert die Unterführung und entlockt einem der Automaten eine Fahrkarte, dann steht sie auf dem Bahnsteig, atmet die Luft, die nicht nach Stadt riecht und lauscht dem kennzeichnenden Klang, in dem zwei Bahnangestellte sich unterhalten, die wie sie auf die Regionalbahn warten. Sie ist froh, die beiden zu hören, der Bahnsteig wirkt heruntergekommen und verlassen, sie zweifelt plötzlich daran, am richtigen Ort zu sein. Der Zug fährt ein, die Destination stimmt, eine Stunde fährt sie und betrachtet die flache Landschaft. Es ist bald Mittag und noch immer Zeit, der Tag hat eine Herbstwärme angenommen, sie setzt sich draußen in eines der Cafés der alten Garnisonstadt.

Da weiß sie noch nicht, dass sie sich wundern wird über fremde Worte, die das ‚Selbstporträt mit Trolley‘ charakterisieren. Treffende Worte. Worte, die sitzen. Worte, wie sie sie lange nicht gehört hat.

Michelangelo-Suite

Ich habe den 550. Geburtstag von Michelangelo Buonarroti (1475-1564) verpasst am 6.März. Na sowas. Heute hat mein Autoradio mich daran erinnert. Ich meine natürlich eine Sendung, die ich auf einer meiner seltenen Autofahrten hörte. Treffpunkt Klassik hat den Geburtstag nämlich genau so wenig vergessen wie der Bariton Matthias Goerne, der mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France eine aktuelle CD der Michelangelo-Suite eingespielt hat, die Dmitri Schostakovitsch (1906-1975) ein Jahr vor seinem Tod komponierte; ich höre, während ich die A5 entlanggleite, eine spezielle Kost. Da bin ich dann doch froh, dass ich auf der Rückfahrt links und rechts ersten grünen Flaum sehe und die Folien, die über Spargelfelder gezogen werden, auch wenn noch Schneereste auf den Schwarzwaldhöhen verweilen und dicke Wolken auf den Vogesen Platz genommen haben. Das Autoradio bringt dazu Jazziges und Folkiges aus aller Herren (oder soll ich schreiben ‚aller Frauen‘) Länder, ich höre das erste Mal von der jungen isländischen Sängerin Arny Margret oder Árný Margrét Saevarsdóttir, die 2022 mit ihrem Debütalbum ´They only talk about the weather´ offenbar sofort reüssierte und nun ein neues Album veröffentlicht hat.


Matthias Goerne mit der Michelangelo-Suite von Schostakowitsch – SWR Kultur

https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/matthias-goerne-mit-der-michelangelo-suite-von-dmitri-schostakowitsch-100.html

Hörbar: Musik ohne Grenzen – SWR Kultur

https://www.swr.de/swrkultur/programm/swr-kultur-hoerbar-sendung-uebersicht-100.html

Erster Sonntag der Passionszeit – Invocavit

„Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und allem Frieden im Glauben, damit ihr überreich seid in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes!“ (Römer 15,13; heutiger Lehrtext der Herrnhuter Losung nach der Elberfelder Übersetzung)

„Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte. Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so, still und froh deine Strahlen fassen und dich wirken lassen.“ (heutiger sog. dritter Text der Herrnhuter Losungen. Es ist die sechste Strophe des von Gerhard Teerstegen 1729 verfassten Liedes „Gott ist gegenwärtig“, Nummer 165 im Evang.Gesangbuch. Und während ich den Text abtippe, singe ich ihn still auf die Melodie von Lied Nr.327 „Wunderbarer König“)

(Am Höhenweg zeigen sich heute schon die Knospen der Japanischen Zierquitte, auch Nordische Zitrone genannt. Berührt man sie vorsichtig mit den Kuppen von Daumen und Zeigefinger, meint man, Babyhaut zu spüren)

„Ein bunt gefederter Teil“

Wer das gemalt hat, fragt der groß gewordene Jemand, als ich die Tür zu einer Abstellkammer öffne und er die bunte Szene mit der am Seeufer sitzenden Frau sieht. Der freudige Fratz will es natürlich auch sehen, muss hochgehoben werden und staunt es dann mit leuchtenden Strolch-Augen an. Mein Papa hat das gemalt, erkläre ich, als er schon alt war. Die Beiden nicken. Was ein „Papa“ ist, können sie gut nachvollziehen.

95 würde er heute werden, feiern konnte er aber nur noch den 75.Geburtstag.

 „Ausblick aus meiner Wohnung“ hat er die Zeichnung betitelt, die er vom Fensterblick aus einer Joh.-Seb.-Bach-Straße fertigte, „Wohnung“ dabei in Anführungszeichen gesetzt, denn davor hatte er in einer Goethestraße gewohnt. Jahrzehnte hatte er nicht gezeichnet oder gemalt, jetzt nahm er Stifte und Farben in zittrige Hände. Gedanken zu Papier gebracht hatte er immer, in Gestalt von Reden oder auch Predigten (als Bürgermeister und Laienprediger), seltener in Briefform. Nun setzte er das fort in kleinen Artikeln für die gedruckten „Nachrichten für Bewohner, Angehörige und Mitarbeiter“ über seine Beobachtungen, zum Beispiel schrieb er über „Die gefiederten Freunde“:

„Die Vögel im …. sind bunt wie das Leben im….Sie bewegen sich ständig, um Wichtiges in Angriff zu nehmen, dem nächsten Artgenossen etwas mitzuteilen, ihm zu helfen, den nächsten Flug anzutreten, ihm zu zeigen, wo es gute Nahrung gibt. Oder aber es gilt, Annäherung auf der Basis von Sympathie zum Ausdruck zu bringen. Oder aber, man fühlt sich vom Nächsten bedrängt im eigenen Platzanspruch. Denn da ist ja die durchsichtige Begrenzung des eigenen Lebensraumes, die „Wand“, die unüberbrückbar erscheint, aber doch bei entsprechender Raumatmosphäre den Blick freigibt, für solche, die es verstehen, die Interesse daran haben durchzublicken. Und sie haben festgestellt, dass es da noch weitere Begrenzungen, Endgültigkeiten der eigenen Lebensräume gibt. Bewegliche Riesen, die zwar immer auf dem Boden sich bewegen, aber unwahrscheinlich groß sind und sich meist hektisch bewegen. Daneben soll es ganze Wände fester Materie geben, und zwar in verschiedenen Farben. Im Allgemeinen dulden diese Wände diese beweglich aufrecht daherkommenden, aber auch für immer weggehenden Existenzen. Es soll aber auch beobachtet worden sein, dass eine Figur einer anderen die Federn mit Gewalt oder mit List abgenommen hat! Unsere Wissenschaftler haben diesen Wesen den „Namen“ Mensch gegeben. Sie haben damit gleichzeitig den Kosmos, der uns umgibt, von dem wir ein Teil sind, ein bunt gefederter Teil sind, begrenzt erklärt. Was soll schon dahinter sein? Der Fantasie, während man auf einem kleinen Zweig zum Ausruhen sitzt, sind Tür und Tor geöffnet!“  (G.S. im März 2005)

„Wie lieblich sind deine Wohnungen“

Der Dirigent des Motettenchores Lörrach, Joss Reinicke, und Johannes Kempin vom Geistlichen Zentrum St.Peter unterhielten sich gestern bei einem Gesprächsvortrag über das Deutsche Requiem von Johannes Brahms (1833-1897). Für das Gespräch ausgewählt hatten sie die Sätze 3, 4 und 6, Einspielungen einer Aufnahme unter Sir Roger Norrington leiteten den jeweiligen Gesprächsblock ein.

Johannes Kempin, der 13 Jahre in Jerusalem gelebt hat, betont die Bedeutung des hebräischen Wortes, das bei der Stelle aus Psalm 84 „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ für Wohnung steht: mischkan. Es ist dasselbe Wort, das bei der Wüstenwanderung der Israeliten für das mitwandernde Zelt Gottes und somit dafür steht, dass wir in der Wüste nicht verloren gehen, dort nicht alleine sind. Auch im verheißenen Land bleibt dieses Zelt der Begegnung, es lässt sich nieder, das Vertrauen wird gefestigt. Im Johannesevangelium würde der Gedanke des gemeinsamen Wohnens Gottes mit den Menschen aufgegriffen, wenn Jesus davon spricht, dass er die Wohnungen im Haus des Vaters bereitet. Und Johannes Kempin fährt fort, dass man in der Musik an dieser Stelle genau diese mischkan, diese Wohnung, diesen Heilsraum bereits für diesen Moment betritt. Es ist im zentralen vierten Satz des Requiems die Zusage des Bleibenden. Nicht die vorangegangene Erschütterung behält das letzte Wort. Die tiefe Erschütterung, durch die sowohl der Psalmist des Psalm 39 wie Brahms im dritten Satz des Requiems gehen. Überdeutlich arbeitet Brahms die Endlichkeit heraus, um dann über die unruhige Frage nach dem Trost zur Auf- und Ausrichtung zu kommen in dem einen Satz „ich hoffe auf dich“ und danach die große Gewissheit auszubreiten in der langen Orgelpunkt-Fuge „der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand“, in welcher auch die kleinen Momente des Widerstands bei „Qual“ die Gewissheit nicht mehr erschüttern können.

In Satz 6 die Dramatik, höchste Dynamik und Ungeheuerlichkeit des Übergangs von der Verweslichkeit in die Unverweslichkeit, von Leid zu Jauchzen, ein Miterleben des Kampfes zwischen Tod und Leben, in der Schlussfuge ist man dann hindurchgegangen und angekommen.  Und Johannes Kempin erzählt hierzu noch eigenes Erleben während einer Osternacht in Jerusalem: am Ende der Nacht fing aus der Stille heraus jemand an zu lachen, das Lachen breitete sich aus, schließlich stimmte die ganze Kirche befreit in das Osterlachen ein.

https://www.geistliches-zentrum.org/personen/interviews-mit-referent-innen/detail/nachricht/id/202839-zehn-fragen-an-johannes-kempin/?cb-id=12359492

Die Losigkeit

140 Treffer zeigt OpenThesaurus für das Teilwort und Duden nennt neben der Wortart Suffix (echt jetzt?) und den Hinweisen zur Genitiv- und Pluralbildung als Beispiel einer Gesamtwortbildung die Regellosigkeit.

Da ist die von Annalena erwähnte Ruchlosigkeit ja gar nicht weit entfernt, nämlich nur drei Positionen nach hinten in der OpenThesaurus– Liste, dazwischen stehen lediglich die Religionslosigkeit und die Respektlosigkeit. Rückt man auf der Liste mit gleichem Abstand (nicht Anstand) weiter, landet man über Rückgratlosigkeit und Rücksichtslosigkeit bei Schamlosigkeit – ach nee, jetzt hab´ ich die Ruhelosigkeit übersehen, die sich direkt vor der Schamlosigkeit positioniert, es verwundert also nicht, dass unmittelbar nach der Schamlosigkeit die Schlaflosigkeit folgt.

Seltsamerweise bekommen manche Losigkeiten der Liste Erweiterungen oder Dopplungen, eine einzige Hoffnungslosigkeit reicht nicht, es muss dazu noch die große Hoffnungslosigkeit gelistet sein, und auch die Treulosigkeit ist in zwei Versionen vorhanden, zur Bedeutungslosigkeit kann man nicht nur ab- , sondern auch herab – und in sie ver -sinken. Vor der Treulosigkeit rangiert die Teilnahmslosigkeit (sic!), kein Wunder also, dass der zweiten Version der Treulosigkeit die Trostlosigkeit folgt. Ob man zur Vermeidung von Freud- und Fassungslosigkeit lieber bei der Ehelosigkeit bleiben sollte, lässt die Liste offen, die Liste will nur listen, Interesselosigkeit, Gefühllosigkeit, Gedankenlosigkeit, Herzlosigkeit. Interessanterweise fehlt die Lieblosigkeit, da ist es wohl mit der Lückenlosigkeit nicht so weit her.

Obwohl Zwecklosigkeit die Liste beendet und Ausweglosigkeit an 18.Stelle steht, sollte das doch keinesfalls das Alpha und Omega bleiben (ok – hinkt, Stelle 24 nimmt Beschäftigungslosigkeit ein) oder gar zu Sprach-, Stimm- und Tatenlosigkeit führen. Vielmehr könnten Ideen-, Humor- , Phantasie- , Mut- und Leidenschaftslosigkeit abgelegt und so der Stil-, Sinn- und Wirklosigkeit etwas entgegengesetzt werden.

Nun hat uns aber so langsam die Atemlosigkeit im Griff, da wollen wir es doch dabei bewenden lassen, damit wir nicht in die Uferlosigkeit geraten, zumal (absolute) Fehlerlosigkeit (Listenplatz 1) nicht garantiert werden kann.

Tja, da sieht man mal, wo Annalena und eine Teilworttrefferliste einen hinführen.

Eine Frage bleibt: was ist friktionelle (nicht fiktionale) Arbeitslosigkeit? (jedenfalls Listenplatz 40)

(von Samuel Beckett, 1906-1989, gibt es offenbar ein Hörspiel über die ‚Losigkeit‘)

(am 23.Februar hatte man das Wahllokal in die Städtische Galerie verlegt)