Passionen

Als ich im Oktober 2024 der „Nun-wieder-Italienisch-Lehrerin“ eine WDR 3-Doku über die Dichterin Alda Merini (21.März 1931, Mailand- 1.November 2009, Mailand) und das Buch „Die schönsten Gedichte schreibt man auf Steine“ empfahl, schrieb sie mir in einem messenger-Dienst „Grazie! La conosciamo tutti in Italia.“ Ja, das bestätigte, was ich gelesen hatte zu ihrer herausgehobenen Bekanntheit in Italien. Ich hingegen hatte sie vor 2024 nicht gekannt, vielleicht aber hatte ich auch Jahre zuvor schon einmal ihre Texte gehört, ohne mir bewusst zu sein, dass es sich um Gedichte von Alda Merini handelt, als nämlich Milva sie sang (Milva canta Merini).

Am 2.April hat nun der Deutschlandfunk eine knapp 20-minütige Sendung über die Dichterin Alda Merini gebracht (von Burkhard Reinartz), in der auch die Verbindung ihres poetischen Schaffens mit ihrer Leidensgeschichte, mit ihrer lebendigen und eigenwilligen Beziehung zu Gott und ihren Gottesbildern beleuchtet wird.

(Buchempfehlung: Alda Merini: Die schönsten Gedichte schreibt man auf Steine. Lyrik 1947-2009. Dieterich´sche Verlagsbuchhandlung Mainz 2024)

https://www.deutschlandfunk.de/ich-kann-keine-heilige-werden-die-italienische-dichterin-alda-merini-100.html

„Das halbe Brot der Vögel“

ist der Titel eines Buchs der 1957 geborenen Autorin Angelika Overath. „Portraits und Passagen“ lautet der Untertitel und das Cover bietet folgenden Klappentext:

„Wie weit muss Wirklichkeit in der Kunst neu erfunden werden, um darstellbar zu sein? Wie sehr bedarf gerade das nichtfiktionale Schreiben der `Phantasie für die Wahrheit des Realen´ (Goethe)? Angelika Overath folgt der Spur großer Reporter, die im Gewohnten das Ungeheure entdecken, und sie begleitet scheinbar unauffällige Menschen, die ihren Eigensinn traumwandlerisch ernst nehmen und dabei zu verblüffenden Lebensentwürfen kommen. `Das halbe Brot der Vögel´ ist das Buch einer Reporterin, die bereit ist, fremden Alltag so genau zu lesen wie ein hermetisches Gedicht, und eine Reportage zu komponieren wie ein Stillleben.“

Von Angelika Overath habe ich inzwischen etliche Werke gelesen oder sie „studiert“, sehr schön (von Idee, Inhalt und Gestaltung) ist zum Beispiel auch „Krautwelten“ (Insel-Bücherei  Nr.1504, Insel-Verlag, Berlin 2021). Am 11.Juni 2024 habe ich mir das Buch anlässlich einer Lesung im Literaturhaus Basel von Angelika Overath signieren lassen. Kurz darauf habe ich die Autorin noch einmal erlebt und gesprochen bei einer vom Hebelbund organisierten Lesung im Dreiländermuseum Lörrach.

„Das halbe Brot der Vögel“ (Wallstein-Verlag, Göttingen 2004) gestehe ich, gebraucht erworben zu haben, und als ich es im Januar 2023 aufschlug, fand ich darin eine handschriftliche Widmung der Autorin aus dem Februar 2004, natürlich gerichtet an jemanden anderen als an mich. Es kam mir dennoch wie ein persönlicher Gruß vor, durch die Zeiten. Und nun habe ich bald die Freude einer intensiveren Begegnung, auch vielleicht mit allen Farben des Schnees („Alle Farben des Schnees. Senter Tagebuch“ ist ein weiteres wunderbares Werk von Angelika Overath; btb genehmigte TB-Ausgabe Okt.2012), denn ich darf lernen bei einem Schreibkurs im Unterengadin und ich hoffe, ich kann da hineinwachsen – „ as laschar increscher“  heißt wohl wörtlich im Rätoromanischen „sich hineinwachsen lassen“ , aber es bedeutet auch „Heimweh haben“. (s.S.83 der genannten Ausgabe von „Alle Farben des Schnees“).

An einem ersten April

Dann kam der Schreiner. Im Dorf war es der Schreiner, der auch die Särge bereithielt und die Totenwaschung machte. Der Schreiner war gut bekannt mit dem Bürgermeister.

Im darauffolgenden Jahr und an einem zweiten April starb Karol Wojtyla, zum Zeitpunkt seines Todes Johannes Paul II. genannt, der 264.Bischof von Rom.

Persischer Ehrenpreis – Spaziergang 4

Es zieht mich hinauf zum Ottilienkirchlein und weil das Wetter sich schon dem April zuwendet und neben allerhand Wolken und nicht zu schwachem Wind auch sonnige Abschnitte und einen frühlingsblauen Himmel zulässt, beschließe ich, einen Spaziergang zu machen. Weil ich zuerst aber noch zu einem Briefkasten muss und dieser sich am Fuße des Hügels und nicht hocherhaben befindet, wähle ich einen anderen als den üblichen Weg. Eine Vorgartenpalme wird von der Sonne gefilmt, die Tonspur liefert der Wind, und ich denke einmal mehr, dass nicht viel fehlt und ich bin im Tessin. Das bestätigt mir später eine zweite Palme, die so hoch wie der benachbarte Fahnenmast gewachsen ist und ihre Wedel flattern nun mit der Schweizer Flagge um die Wette. Dem Briefkasten vertraue ich allerlei Bürokratisches an und glaube ihm, dass er um 16 Uhr geleert wird, dann fühle ich mich frei, einen schmalen Pfad zwischen den Gärten hinauf zu steigen und weiß nicht genau, ob ich mich nun auf deutschem oder auf eidgenössischem Boden befinde. Den weißen Schmetterling, der eine Weile vor mir tanzt, interessiert das ohnehin nicht, sonst ist hier niemand, auch nicht im Garten, den ich gerade passiere, da plätschert und gurgelt nur ein Wasser, das ich in einem gefassten Erdloch erahnen kann. Unter die kräftig gelben Strahlen des Löwenzahns duckt sich eine Vielzahl winziger hellblauer Blüten mit gelbweißem Schlund und feinen Streifen in dunklerem Blau, und ich bitte wieder einmal Google Lens um Hilfe, weil ich so wenig weiß und das Netz mich auch unterwegs belehren und meinem Wissensdurst abhelfen kann. Ich bekomme unverzüglich Persischer Ehrenpreis ausgespuckt, die Fotos stimmen mit dem Original überein und ich spare mir die lange botanische Beschreibung, der Name erzählt ja schon viele Geschichten und ehrt die hübschen Blütchen recht angemessen. Auf der nächsten Wiese rechts tummeln sich so viele Gänseblümchen, dass sie wie beschneit aussieht, dann versammelt sich unter breiten Grashalmen eine bunte Schar wilder Primeln, die den umhegten Gärten entkommen sind. Jetzt ist der Pfad zu Ende und ich erreiche den Höhenweg, den ich den meinen nenne und genau in dem Moment, als mir nach einigen Schritten bewusst wird, dass ich seine amtliche Bezeichnung nicht kenne, offenbart mir ein blaues Hausnummernschild, dass er Heissensteinweg heißt. Rechts führt das Brunnstubenwegli wieder nach unten, nein, da will ich nicht hin, zumal dem Schild gegenüber die Reste eines Vogelleichnams liegen, es muss ein schöner Vogel gewesen sein, die langen Federn widersetzen sich mit weiß-braun-schwarzer Zeichnung der Verwesung und strecken sich ihrem angestammten Element entgegen. Ich gehe ein Stück weiter, nehme links den steilen Petrisweg hügelan und entdecke an der nächsten Gartenpforte einen verwitterten Tisch, auf dem verschiedenste Pflanzen in Töpfen stehen, ein laminiertes Schild lädt zum Pflanzenkauf ein, der Kaufbetrag ist frei wählbar und soll Ärzte ohne Grenzen zugutekommen. Ich will ja aber zum Ottilienkirchlein noch weiter hinauf, also beschließe ich, ein anderes Mal dem Angebot zu folgen, zumal die angeschraubte Kasse mir ein freundliches Gesicht zuwendet, obwohl sie nicht zu wenig Rost angesetzt hat. Die Wildtulpen sind auch schon da und halten ihr strahlendes Gelb nicht zurück, dass sie auch Weinberg-Tulpen genannt werden, versteht sich am Hügel von selbst. Ich muss jetzt nach links, gleich die Fahrstraße überqueren, zuvor aber sehe ich noch Bambus neben einer Gartenmauer, die Steinhaufen um ihn herum halten vielleicht sein Wuchern in Schach, die kräftigen Stängel lassen sich aber am Höhenwachstum nicht hindern und der heute deutliche Wind spielt mit den Blättern, so dass es ein wenig klingt wie das Knistern von Seidenpapier. Auf der anderen Seite der Straße empfängt mich das Schild Nr.33 des Weiler Weinweges und berichtet, dass die Große Kreisstadt im Dreiländereck Deutschland/Frankreich/Schweiz zum ersten Mal am 27.Februar 786 in einer Urkunde des Klosters St.Gallen (Schweiz) unter dem Namen „Willa“ erwähnt wurde und also eine römische Siedlung sei, auf dem historischen Weg zwischen Rom, Mainz und Köln – mit allen klimatischen Vorzügen. Das und noch mehr steht geschrieben Weiß auf Burgunderrot. Jetzt wende ich mich nach rechts und bin nun auf dem üblichen Weg, der hier durch wildes Wiesengelände führt, auf dem Obstbäume ihre weißen Blüten zur Schau stellen, und als ich auf den Pfad einbiege, raschelt es in trockenen Haufen braunen Herbstlaubs und ich vermute, dass Eidechsen mein Kommen bemerkt und rasch ihren Sonnenplatz aufgegeben haben. Schließlich erreiche ich die vielen Steinstufen, die zum Kirchenvorplatz führen, gezählt habe ich sie noch nie, aber ich weiß, dass sie Dreiergruppen bilden, also beginnt man mit dem rechten Fuß und endet auch wieder mit diesem, dazwischen hebt man den linken oder man macht das umgekehrt, links, rechts, links. Wählt man auf den Zwischenstücken die Schrittlänge groß genug, kann man in diesem Rhythmus bleiben, wird aber dann aus dem Takt gebracht, weil unvermutet zwischendurch Gruppen von Zweierstufen auftreten. Zum Ende des Anstieges löst sich auch das auf, die Längen der Zwischenstücke variieren und die Stufen können auch Einzelgänger sein. Nun stehe ich auf dem Kirchenvorplatz, ich lehne mich an die Mauer, die ihn abschließt und betrachte das Schattenbild, das den noch kahlen alten Baum auf das Weiß der Kirchenwand doppelt, dann setze ich mich auf eine der drei Holzbänke, auf denen sich vor mir schon Flechten niedergelassen haben, lasse den Blick über Schwarzwald- und Jurahöhen gleiten und grüße hinüber zur Heiligen Chrischona, die nach der Legenda aurea eine Gefährtin der Ursula von Köln war, aber sich bei der Rückkehr des Pilgerzugs aus Rom zusammen mit Margaretha und Odilia geweigert haben soll, das verkündete Martyrium zu erleiden, woraufhin die drei verjagt wurden und sich als Einsiedlerinnen niederließen, was aber nur eine Variante der Legendenbildungen um die drei Jungfrauen ist. Ich ziehe ein schmales Büchlein aus der Tasche, das ich vor wenigen Tagen in der Buchhandlung einer Stadt erworben habe, die weder eine Groß- noch eine Kleinstadt ist, Franz Hohler: 113 einseitige Geschichten, ich schlage es mittendrin auf und die Geschichte beginnt mit dem Satz „Liebe Truurgemeinde, mir näme hüt Abschied vo dere Gummisandale“ , um wenig später zu enden mit „Gott het üs die Chraft gschänkt. Amen“ und da freue ich mich, dass ich nun ausgerechnet in der eidgenössischen Sprache gelandet bin und der Titel der Geschichte ist genau wie das Ottilienkirchlein „protestantisch“.

(Franz Hohler, Hrsg., 113 Einseitige Geschichten, btb Taschenbuch-Sonderausgabe November 2019, S.96 )

Vierter Sonntag der Passionszeit – Laetare

Nach dem Introitus der Liturgie ist der vierte Fastensonntag benannt, an dem die Mitte der Fastenzeit überschritten und das Osterfest nähergerückt ist:

„Laetare Ierusalem : et conventum facite omnes qui diligitis eam : gaudete cum laetitia….“

„Freut euch mit Jerusalem und jubelt über sie, alle, die ihr sie liebt! Jauchzt mit Freude, alle, die ihr über sie getrauert habt! Damit ihr saugt und euch sättigt an der Brust der Tröstungen, damit ihr schlürft und euch labt an der Fülle ihrer Herrlichkeit. Denn so spricht der HERR: Siehe, ich wende ihr Frieden zu wie einen Strom und die Herrlichkeit der Nationen wie einen überflutenden Bach. Und ihr werdet saugen. Auf den Armen werdet ihr getragen und auf den Knien liebkost werden. Wie einen, den seine Mutter tröstet, so will ich euch trösten.“ (Jesaja 66, 10-13a  nach der Elberfelder Übersetzung)

Das sind starke Bilder. Ein starker Kontrast zu denen, die wir derzeit in und um Jerusalem sehen.

Bruchstücke

I

„Du bist wundervoll, vergiss das nie!“  –  der runde Aufkleber nimmt die Hälfte des Spiegelrechtecks ein, groß und schwungvoll oben das „Du bist“ , kleiner, aber mit dem gleichen Schwung  unten „vergiss das nie“ , dahinter ein Ausrufungszeichen. Pink leuchtet in der Mitte das „wundervoll“ in großen, unruhigen Druckbuchstaben mit schwarzen Punkten. Buchstaben mit Sommersprossen, denkt die Frau. Sie schaut auf die floralen Ornamente, die die Schrift umranken. Sie fügt ihr Gesicht nicht in das Rund der Vignette, sondern ins freie Feld des Spiegels. Sie lächelt sich zu. Der beschwerliche Weg zur Toilette liegt hinter ihr, sie hatte die Treppe mit Mühe bewältigt und an einer Krücke. Ein antikisiertes Schild mit der Aufschrift „Toilet Women“ hatte sie unten empfangen und die Frau hatte lachen müssen, ein einzelner abstrahierter Damenschuh befand sich über dem Schriftzug, unverkennbar `High Heel`. Die Frau trägt auch nur einen einzelnen Schuh. Mattes Gold, ein zarter Riemen über dem Spann, kein High Heel, nur wenig Absatz. In High Heels kann die Frau nicht gehen, das konnte sie nie und nun erst recht nicht. Den Schuh trägt die Frau links, rechts hat sie einen Elefantenfuß, so will sie ihn bezeichnen. Helles Grau, breite Klettverschlüsse, plumpe Schienen bis zum Knie. Die Frau liebt Elefanten. Jetzt arbeitet sie sich die Treppe wieder hoch. Sie weiß nicht wohin mit der Krücke, bis zum Ellenbogen reicht der weiße Gips, der auch die rechte Hand umschließt. Am Buffet in der Gaststube wählt die Frau die Speisen aus, sie schaut um sich, sie kann den Teller nicht allein zum Tisch tragen.

II

Auf das Fest hatte die Frau sich gefreut, eine Hochzeit, die Braut in langem kobaltblauem Kleid. Die Frau liebt Feste. „La vie est belle“ heißt das Parfum, das sie trägt. Sie steht unter alten Bäumen auf dem feinen Kies des Kirchenvorplatzes, in der Septembersonne schimmert ihr ärmelloses Cocktailkleid in der Farbe von Elfenbein. Alte ruhen sich auf Bänken aus, Junge reden lebhaft miteinander, Jüngste rennen hin und her, auf der Brüstung der Sandsteinmauer sind Namen in ein Herz graviert, Sektgläser stehen darauf. Die Blätter der Bäume bewegen sich kaum, die Frau lehnt die Krücke an die Brüstung, weit unten weiß sie einen grobkörnigen Asphalt, auf dem sie lag und die veränderte Form ihres Handgelenks betrachtete, `Fourchette-Stellung´ hatte sie gedacht. Jetzt hebt sie den Blick und schaut in die Ferne bis zu den Jurahöhen. Sie lächelt.

III

Das warme Nachsommerwetter kommt der Frau entgegen, sie sitzt auf der Terrasse in leichter Kleidung. Solange sie sitzt, legt sie den Elefantenfuß ab, spürt die Luft an der Narbe. Die Frau liest. Es ist ein Buch über Paris. Der Anfang eines Rilke-Gedichts taucht auf, sie kennt es , sie hört die Zeile „und dann und wann ein weißer Elefant“. Warum ist der Elefant weiß? Die Frau liebt Elefanten. Sie fragt sich, seit wann. Die Frau kramt in Erinnerungen. Andere Rilke-Gedichte kommen ihr in den Sinn. Eine ganze Werkausgabe im Koffer in einem Nachtzug. Als erstes aufgestellt auf einem breiten Fensterbrett vor dem grauen Schlagladen, durch dessen Ritzen das römische Licht fiel. Die Frau sitzt auf der Terrasse in der Sonne. Besucher kommen und gehen, Eidechsen, Schmetterlinge, Freundinnen, Freunde, „…und dann und wann ein weißer Elefant“.

IV

Die Frau fährt aus, nein, sie wird gefahren, im Auto und im Rollstuhl eines Toten, entlang des Rheins, auch in die Vogesen. Die Frau liebt den Rhein, das stetige Fließen des Wassers, immer anders, immer gleich. Das Floß auf dem Fluss trägt einen roten Schriftzug „Go Your Own Way“, davor ein Hashtag. Buvetten reihen sich am Ufer, noch nie hat die Frau dort verweilt, etwas getrunken. „Nimm´s leicht“ appelliert das Schild eines Kioskes in schwungvollem Pink. Ohne Ausrufungszeichen. Die Frau liebt die Vogesen, die Höhen mit ihrer Weitsicht, die gewundenen Straßen hinauf durch Wälder, die Täler, die verschlafenen Orte in den Senken. Eine frühere Fahrt fällt ihr ein, strahlend weiß standen Bäume in Blüte um das Geviert eines Platzes. Jetzt ist es Herbst und die Frau spürt jede Bodenunebenheit. „…Und dann und wann ein weißer Elefant“.

V

Die Frau schaut auf eine kleine Plastiktüte, bunte Schmuckstücke glänzen metallisch darin: eine an einem Ende breite, mit vielen Löchern versehene gebogene Platte, eine zweite kleinere Lochplatte in Form eines T , zwölf Gewindeschrauben verschiedener Längen in Gold, Pink und Grün. Elefanten sind bekannt für ihre Gedächtnisleistungen, denkt die Frau, auch an Traumata erinnern sie sich lange. Jetzt sitzt die Frau am Tisch und schaut auf ein Notizbuch. Auf dem Cover springt ein grüner Elefant in die Höhe, um Blattwerk zu erreichen, das vom Querbalken eines großen Buchstabens rankt. Es ist die schwarze Initiale ihres Vornamens. Da ahnt die Frau plötzlich, warum der Elefant weiß ist im Rilke-Gedicht.

VI

Dann und wann geht die Frau jetzt essen, mit einer Freundin. Im Restaurant fällt ihr Blick auf die Tisch-Dekoration und sie muss lachen: ein mattgolden schimmernder Elefant trägt das Teelicht. Die Frau sitzt am Tisch und genießt das Aroma der Speisen, sie bemerkt die Reihung der Flaschen über der Theke und die Ordnung der Fotografien an den Wänden. Sie nimmt das Stimmengewirr wahr und die Hintergrundmusik. Die Frau horcht genauer, sie kennt das Lied, das Cover einer Single taucht auf: Adriano Celentano singt mit rauer Stimme „Una festa sui prati, una bella compagnia, panini, vino, un sacco di risate…“

(Text vom Februar 2023, neu bearbeitet)

Lux perpetua

Im Chor haben wir mit einem neuen Projekt begonnen. Im Rahmen des 31. Lörracher Stimmenfestivals (Stimmen 2025) werden wir zusammen mit dem Asambura- Ensemble (unser Dirigent ist dessen künstlerischer Co-Leiter)  am 29.Juni im Burghof eine kompositorische Neudeutung von Mozarts Requiem (KV 626) zur Aufführung bringen :  „Lux perpetua -ein vielfältig kulturelles Requiem über Ewigkeit“. Maximilian Guth (geb. 1992 in Bielefeld; Leiter des Asambura-Ensembles) hat konzipiert und komponiert. Im einleitenden Text der Noten heißt es unter anderem: „Zwischen diesen beiden Polen ( Anm.: gemeint sind Requiem aeternam und Lux perpetua) entwickelt dieser Zyklus klangliche Perspektiven zu Ewigkeit, die als ewige statische Ruhe und gleichzeitig als kontinuierliche, zirkuläre Bewegung ausgedeutet wird, sowie glockenartige Resonanzen als nachhallende Weitenräume für ein Miteinander in Vielfalt.  …. Der Zyklus Lux perpetua denkt diese stilistische Öffnung (Anm.: gemeint ist eine stilistische Rückbesinnung Mozarts) in der Verarbeitung gregorianisch und mittelalterlicher Gesangsrezitationen weiter und entwickelt gleichzeitig Brücken zur kulturellen Vielfalt außereuropäischer Musikkulturen und jüdischen wie islamischen Traditionen: Der originalen Mozart-Besetzung begegnet nahöstliches Instrumentarium wie die armenische Duduk, die syrisch-arabische Oud und die persische Kamancheh. Zudem werden neuartige Klangfarben im Asambura-Ensemble (z.B. tiefe Flötenklänge, Bassklarinette, präpariertes Klavier und `Flöten-Percussion`) verwendet.“

Der Chor hat nicht nur im klassischen Sinne zu singen, sondern es gibt auch geflüsterte Passagen, gesummte Stimmcluster, multilinguales Stimmenwirrwarr („Babel-Parabel“). Die Erinnerung an das babylonische Stimmenwirrwarr wird aber hinterlegt mit hebräischen, lateinischen und arabischen Übersetzungen der Worte „Friede“ und „Versöhnung“.

Ich freue mich schon auf die nächste Probe!

Derweil und daneben ist unser (sehr rühriger, dabei sehr konzentrierter) Dirigent noch einmal mit dem Brahms-Requiem unterwegs, allerdings auch auf neu gedeutete Art mit dem Asambura-Ensemble: aeterneA – an interreligious Brahms Requiem (siehe Foto).

https://www.motettenchor-loerrach.de/veranstaltungen

https://maximilianguth.com

https://www.jossreinicke.com

Und wieder ein Frühling

„Meine Erinnerung an Frühlinge täuscht mich jedes Jahr“ schreibt Peter Bichsel in  der Kolumne „Und Jahr für Jahr ein Frühling“ (in „Im Hafen von Bern im Frühling“, Radius-V.2017) und ich frage mich, ob meine mich auch täuscht. Denn ich bin erstaunt, dass plötzlich alle Frühlingsblüher auf einmal da sind. Wann haben sie sich denn dazu entschlossen? Waren es nicht neulich noch nur die zitternden Schneeglöckchen? Und jetzt: zartes und kräftiges Gelb der Narzissen, das Weiß und Rosa der Obstbäume, die Flamme der Forsythien, die nicht zu zählenden Sterne der Gänseblümchen, auch der Rosmarinstrauch ist mit vielen blauen Tupfern geschmückt und die erste Pusteblume wurde bereits neben ihren gelben Schwestern gesichtet.

Die Magnolien, Angehörige der ältesten Blütenpflanzenfamilien der Erde, schmeicheln den Augen und lassen einen grauen Himmel vergessen. Aber sind sie nicht besonders früh dran dieses Jahr? Da fällt mir in die Hände, was ich am 27.März des vorigen Jahres schrieb: „Heute gibt es kein Sonnenfunkeln. Der Magnolienbaum an der Straßenkreuzung hat schon viele Blüten verloren, auf dem Asphalt bilden sie einen dichten, glitschigen Teppich, dessen Weißrosa durch ein schmutziges Braun gedämpft wird.“  Also doch nicht besonders früh dieses Jahr. Sondern besonders schön. Obwohl die Sonne auch heute nicht funkelt. „Schauen, was ist, und auf nichts warten. Schauen, einfach schauen…“ schreibt Peter Bichsel.

„Lèche-Vitrines“

Noch bis zum 11.Mai 2025 ist im Museum Tinguely in Basel die Ausstellung „Fresh Window. Kunst & Schaufenster“ zu sehen. Ich habe sie am 14.Februar besucht und dort auch den Video-Film Lèche -Vitrines der 1989  in Vaduz, Liechtenstein, geborenen Perfomance-Künstlerin Martina Morger gesehen. Martina Morger spielt darin mit dem französischen Begriff für Schaufensterbummel und leckt tatsächlich die Schaufensterscheiben. Und wo tut sie das? In Paris, im Quartier Marais. Und wann tut sie das? Im April 2020, als während der pandemiebedingten Ausgangsbeschränkungen die Geschäfte geschlossen waren. Und so sieht man sie, gekleidet in den Farben der Tricolore (nur etwas knalliger), durch die eher leeren Straßen des Viertels gehen, hier und da bleibt sie stehen und nimmt mit ihrer Zunge kurz oder lang Kontakt auf zum Glas der Fenster und zu den Dingen, die hinter der trennenden Scheibe ausharren (oder ausruhen?), die man nicht mehr in die Hand nehmen, nicht mehr berühren, nicht mehr erwerben, nicht mehr schmecken, zu denen man nicht mehr gelangen kann. Riesige Macarons zum Beispiel oder Luxusuhren, Eis, elegante Schuhe, Meeresfrüchte, das Werbeplakat für eine Reise zum Sugar Beach, Eau de Cologne. Martina Morger geht, schlendert, schaut, stoppt, leckt, geht weiter. Sprechen tut sie nicht, ab und an hört man ihren Atem, ihre Tritte oder die von Passanten. Und die (reduzierten) Geräusche des Viertels, den Bus, einen Motorroller, das Weinen eines Kleinkinds, Musik, Sprachfetzen einer Unterhaltung.

Der knapp 17-minütige Film (Kamera Lukas Zerbst und Youssef Chebbi; Editing und Sound : Lukas Zerbst und Martina Morger)  ist nicht nur in Basel (oder im Kunstmuseum St.Gallen), sondern auch im Netz zu sehen (und zu hören).

Wäre das nicht was für die nicht oder doch vorhandenen Corona- Untersuchungsausschüsse und Enquete-Kommissionen „Pandemie“ ?

https://www.martinamorger.com/project/leche-vitrines