Das Basler Konzil im Haus zur Mücke

“Oder man spaziert direkt durch die Stadt und bindet die Kinder aktiv ins Geschehen ein“ – heißt es auf dem Cover von „Basel, die verzauberte Stadt“ (Ein spielerischer Spaziergang für Kinder. Von Helen Liebendörfer. Friedrich Reinhardt-Verlag, Basel 2006)  und weiter „Am Ziel angekommen, hat man einen Teil der schönen Altstadt entdeckt und Basel ein wenig besser kennengelernt.“

Die Noch-Mai-Sonne scheint, luftige Kleidung genügt, also spricht nichts dagegen, dass wir uns aufmachen, ein groß gewordener Jemand mit der nonna im Schlepptau (so herum oder andersherum?) und wir beginnen bei der Helvetia, die vom Zweifrankenstück heruntergesprungen ist und mit Koffer, Schild und Lanze bei der Mittleren Brücke sitzt, den Kopf in die rechte Hand stützt und in Strömungsrichtung auf den heute in mattem Grün ruhig und breit dahinziehenden Rhein schaut. Wie der groß gewordene Jemand ein paar Stationen weiter sofort und sehr richtig bemerkt, ist die Helvetia dennoch auch auf dem Zweifrankenstück geblieben, mit dem wir den Fährimaa bezahlen, der in dem Fall eine Fährifrau ist. Allerhand Getier gilt es auf der Pfalz am und im Münster zu entdecken und den Flüsterbogen zu erproben, bevor am Schlüsselberg außer einem Wilden Mann ein Elefant, ein goldener Löwe und ein Falke darauf warten, gefunden zu werden.

Da geschieht es: bevor der gemeinte goldene Löwe beim Haus Zum Venedig auftaucht und der groß gewordene Jemand (der sich an den Flügeln stört) ausruft: das ist gar kein richtiger Löwe!, findet er andere Löwen in Gold (die aber auch ein wenig Affen gleichen), sie halten den Basler Krummstab am Haus Zur Mücke und da kommt die nonna in großes Staunen, als sie liest, was es mit diesem Haus auf sich hat. 1545 erbaut, beherbergte es von 1671 bis 1849 nicht nur die Universitätsbibliothek, sondern auch das erste öffentliche Museum Basels. Im Vorgängerbau gleichen Namens tagte das Basler Konzil (Concilium Basiliense), das von 1431 bis 1449 dauerte und ab 1437 selbstständig weitergeführt wurde nach einer Spaltung (gleichzeitig Konzile in Ferrara und Florenz). Und: während dieses Konzils fand im Haus Zur Mücke ein Konklave statt, eine Woche verging ohne Ergebnis und die Stadt wurde unruhig, am 5.November 1439 zog dann gegen 10 Uhr morgens eine Prozession vorm Haus Zur Mücke auf und betete um göttliche Eingebung. Da kam es zum letzten Wahlgang, in dem mit 26 von 33 gültigen Stimmen Herzog Amadeus von Savoyen zum Papst gewählt wurde. Kein weißer Rauch aus einem Schornstein verkündete das Gelingen der Wahl, sondern man hielt ein silbernes Kruzifix als Zeichen aus dem Fenster über dem Eingang. Und wo wurde schließlich am 24.Juli 1440 dieser (Gegen-) Papst Felix V. zum Papst gekrönt? Unter freiem Himmel auf dem Münsterplatz zu Basel! Das Volk rief ihm ein vielfaches „Vivat papa!“ zu. Es waren übrigens harte Zeiten: 1439 gab es eine Pestepidemie in Basel, daneben herrschte eine ungewöhnliche Dürre und Missernten der Vorjahre hatten zu einer Teuerung geführt.

Nach diesem unerwarteten Geschichts- und Geschichten-Exkurs verlassen der groß gewordene Jemand und die nonna sämtliche Löwen des Schlüsselbergs, schließlich müssen sie weiteres Getier (einen Papagei zum Beispiel) und einen römischen Feldherrn (mit roten Hosen unterm kurzen Rock) finden im Hof des prachtvollen Basler Rathauses, bevor sie sich eine Stärkung gönnen und dann der bronzenen Helvetia ein Uf Wiiderluege wünschen.

https://altbasel.ch/fussnoten/konklave.html#:~:text=Herzog%20Amadeus%20von%20Savoyen%20kam,vielfachen%20%22Vivat%20papa!%22

Himmelglück

Am 15.Mai schlendere ich nicht nur durch die Eurovision-Song-Contest-Atmosphären und entlang der Lightning-Symphony von Claudia Comte, sondern komme am Spalenberg auch bei einem Antiquariat vorbei und natürlich mal wieder nicht umhin, dort etwas mitzunehmen, diesmal ist es „Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch“ von Jean Paul, und zwar ein Reprint der im Insel-Verlag 1912 erschienenen Ausgabe mit 16 Zeichnungen in zweiter Farbe von Emil Preetorius aus Anlass des 75.Bestehens der Insel-Bücherei (Insel-Bücherei Nr.1073). Offenbar hatte trotz des Gedenkjahres zum 200.Todestag von Jean Paul (1763-1825) niemand das Buch haben wollen, denn es liegt mit anderen aussortierten vor dem Ladenlokal an der frischen Luft auf dem Tisch, von dem man alles für einen Fünfliber (gelegentlich auch Schnägg genannt) erwerben kann. 

Vierzehn fantasiereiche Beobachtungs-Flüge über Deutschland und die Schweiz macht der Giannozzo Genannte und schreibt sie ins Luftschiff-Journal unter dem Titel „Almanach für Matrosen, wie sie sein sollen“, adressiert an seinen Freund Graul, der am Rheinfall von Schaffhausen die Leiche des abgestürzten Luftschiffers findet und das Reisetagebuch bearbeiten und veröffentlichen soll. Zuvor schreibt der Aeronaut  „Ich bin geschieden von der Welt – die unendliche Wetterwolke überdeckt die Schweiz und alles…“ , aber er schreibt und schreibt „bis auf die letzte Schlagminute“ :  „vielleicht wird mein Tagebuch nicht zerschmettert“. Die Leser seines Reise-Almanachs spricht Giannozzo im Kapitel „Erste Fahrt“ mit „ihr Brüder meines Herzens“ an.

Ich habe den Fünfliber und freue mich, dass das Buch mich gefunden hat, meine erste Begegnung mit ihm hatte ich nämlich im September 2023  an einem Luftschiffhafen (den gab es von 1911 bis 1919 tatsächlich in Potsdam), dort stand es in der Flurbibliothek eines Hotels in einer anderen Inselbücherei-Ausgabe (Nr.434), flankiert zur Rechten von  Nr:632 Scholochow: Aljoschkas Herz und Nr. 654 Honoré de Balzac: Das Mädchen mit den Goldaugen sowie zur Linken von Nr.616 Michelangelo: Sibyllen und Propheten, Nr.970 Cranach: Zeichnungen und Nr.369 Gogol: Der Revisor).

Ist das nun alles erzählenswert? Ich habe so meine Zweifel. Peter Bichsel beruhigt mich ein wenig mit seinen wunderbaren Ausführungen zum Lesen, zum Erzählen und Schreiben in Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen (Sammlung Luchterhand, Oktober 1982).

Christi Himmelfahrt

Im ersten Kapitel der Apostelgeschichte schreibt der Arzt Lukas an Theophilus über Christi Himmelfahrt : „Und als er dies gesagt hatte, wurde er vor ihren Blicken emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen weg. Und als sie gespannt zum Himmel aufschauten, wie er auffuhr, siehe, da standen zwei Männer in weißen Kleidern bei ihnen, die auch sprachen ….“ (Vers 9 und 10 nach der Elberfelder Übersetzung)

In seinem Buch Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen zitiert der Anglist, Literaturwissenschaftler, Autor und Übersetzer Klaus Reichert (geb.1938) aus der mehrbändigen Schrift „Modern painters“ des Malers John Ruskin (1819-1900) zu Cumulus – Wolken: „Die wahre Cumulus, die majestätischste aller Wolken, ist großenteils windlos. Die Bewegung ihrer Massen ist feierlich, bedächtig, unerklärlich, ein stetes Vorwärts oder Zurück, als wären sie von einer unsichtbaren Macht dazu gezwungen. …“

(Klaus Reichert: Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen. S.Fischer-Verlag,Frankfurt 2016)

Das weinrote Samtkleid

Vor ziemlich genau zwei Jahren: die Beerdigung einer früheren Nachbarin auf dem Friedhof, auf dem sich auch das Elterngrab befindet. Anschließendes Beisammensein im Café des Kurparks im Nachbarort, wo ich oft mit der Großmutter spazieren ging. Der kleine Höhenluftkurort ist eine Herrnhuter Gründung und bis heute durch die Herrnhuter Brüdergemeine geprägt. Tischgespräche mit den sonst geographisch verstreuten Familienmitgliedern der Nachbarin, zu denen die Kindheitsfreundin gehört. Ein Wiedersehen mit der Familie, die fast zwanzig Jahre zuvor das Elternhaus erwarb. Als bereits alle im Aufbruch sind, kommt eine betagte Dame auf mich zu, ich erkenne das Gesicht, ich erinnere den Namen, langjährig war sie Gemeinderätin in unserem Dorf. Sie habe noch immer ein Kleid von mir, das meine Mutter ihr einmal gegeben habe, sagt mir die Dame beim Verabschieden, ein langes weinrotes Samtkleid. Das trifft mich vollkommen unerwartet –  ein tiefer, freudiger Schreck – ich hatte nicht gewusst, dass das Kleid noch existiert und nicht gewusst, dass meine Mutter es weitergab. Ich trug das Kleid am Tag meiner Konfirmation oder Einsegnung, wie es in der Methodistenkirche hieß, das war der 26.März 1972, ich war also 13 Jahre alt, ich hatte nicht noch ein Jahr warten wollen. Das Kleid hatte ich selbst ausgesucht, ich wollte kein schwarzes und auch kein kurzes. Außer dem Pastor der Gemeinde durfte mein Großvater, ein Methodistenprediger im Ruhestand, mit die Einsegnung vornehmen, was mir wertvoll war. Den Moment, in dem ich dort kniete und die Hände aufgelegt bekam, erinnere ich genau. Am 1.April 1972 schrieb die 13-Jährige in ihr Tagebuch über eine gewisse Anwesenheit, die sie in sich wahrnahm und die dadurch hervorgerufene Sensation: „ich hab gemeint, ich müsste zerspringen“. Gleich der nächste Satz im Tagebuch klingt allerdings recht profan: „Alle haben gefunden, dass ich eine liebe (und schöne) Konfirmandin war“.

Das lange weinrote Samtkleid habe ich kurz darauf noch einmal getragen, am Abend des Ostersonntages, wie ich im sporadisch geführten Tagebuch notierte: „Am Abend dieses Tages machten wir uns alle schick (ich durfte mein langes Kleid anziehen) und fuhren nach Freiburg in ‚Aida‘. Papa hatte uns allen das zu Ostern geschenkt. Das Theater dort ist sehr groß und schön. Wir waren sehr früh dort und nachdem Papa die Karten geholt hatte, gingen wir zuerst noch ins Theaterrestaurant und tranken was. Wir bekamen Cola, Mama und Papa tranken Sekt. Dann suchten wir unsere Plätze und setzten uns. Das Stück war sagenhaft und die Darsteller sangen wundervoll. Es ist ein sehr trauriges Stück gewesen, aber einfach herrlich. In der Pause tranken wir nochmal was und konnten herrlich die Leute beobachten.“

Im Museum

Sie hatte keine Ahnung, was die knappe Frage „kann ich helfen?“ nach sich ziehen würde.

Sie saß auf der rechten Seite der mit hellem Leinenstoff bezogenen Couch im schmalen Gang, der die Räume des Museums säumte, und ließ ihren Blick vom Monitor, auf dem ein Künstler über sein Werk sprach, hinübergleiten in die Durchlässigkeit der hohen Fensterfront, die hinter dem Bildschirm das Maigrün der Wiesen und des Hügels hereinließ.

Ein schwarzer Rollator stand vor der Frau, die sich anschickte, die linke Ecke des filigranen Sofas zu verlassen, ihr beleibter Körper hinderte sie daran.

Niemand hilft ihr, also geht es auch hier allein, die Worte kommen aus dem Mund der Frau in der Ecke, ohnehin war sie Leistungssportlerin früher, hat Medaillen gewonnen, den schwierigen Wanderpfad auf Korsika ganz allein bewältigt, aber jetzt geht das nicht mehr, 120 kg wiegt sie und ist Jahrgang 1951, sechs Sprachen spricht sie und der Sohn ist ihr größtes Glück, sie hat ihn erst mit 41 bekommen, aber sie ist allein in der Wohnung, aus der muss sie jetzt raus, erzählt sie der Fensterfront, und die wenig Jüngere von der rechten Seite betrachtet die schütteren weißen Zöpfe, geflochten wie die einer alten Indianerin, und die offenen Enden locken sich bis zu den losen Brüsten unterm schwarzen T-Shirt, sie sitzt wieder fest in der linken Ecke, ein grasgrüner Pullover ist um die breiten Hüften geschlungen und sie hebt den Blick hinter die Fenster hinauf zum Himmel und die schwabbeligen Arme hoch von den Griffen des Rollators, sie hat früher die Vögel gefragt, warum sie nicht Federn haben kann wie sie, die Mutter ist früh gestorben und sie kam woanders hin und jetzt bewegt sie die faltigen Schwingen mit der Ruhe und Anmut eines Raubvogels, sie schaut zu den Wolkengebilden und die Natur draußen an, wie sie es immer getan hat, mit den Blumen gesprochen und im Elsass im Wald geschlafen und am Morgen zieht sie sich die Gräser aus dem weißen Haar mit den Schwingen, die wieder Finger haben, und die französischen Satzfetzen sind akzentfrei und der Sohn ist eine Elfe und auch ein Gnom wie im Mittelalter, und wenn er der Gnom ist, schlägt er die Mutter, die er doch so liebt, und dann ist er die Elfe und entschuldigt sich und nun ist er in der Psychiatrie und sie weint allein in der Wohnung und spricht dort auch laut mit sich, berndeutsch vielleicht oder eine andere der sechs Sprachen, und die wenig Jüngere merkt, dass die Frau die Sprachen so gut flicht wie die Zöpfe, italienische Worte fallen in perfekter Melodie auf den Gang neben die dicken, schwerfälligen Füße. Mit 21 wanderte sie mutterseelenallein durch den Wald von Polen nach Russland, fünfzehn Leben hat sie gehabt, „mindestens“ sagt die Jüngere, und da wendet die Ältere den Blick weg vom Fenster und die wachen hellblauen Augen unter dem schwarzen Lidstrich hin zur Jüngeren und wieder zurück und hinaus in das Grün der Landschaft und fragt, ob die Jüngere auch Kinder habe und sie weiß genau, was wo ist über der Grenze im Nachbarort, und das Leben hat sie vom Vater des Sohnes getrennt, der ist Arzt in St.Petersburg und ihre Mamutschka war ein Modell von Matisse, die Frau mit der Gitarre im blauen Kleid, ja, von Matisse, denn die Mamutschka war eine Gräfin und sie hat blaues Blut, aber das interessiert sie nicht, nur dass die Mamutschka so früh starb und die Schwester zur älteren Halbschwester musste, ob das Restaurant im Park heute auch schon um 18 Uhr schließt, heute ist doch Freitag, vielleicht hat es länger auf und die Jüngere kann doch sicher schauen auf dem Handy, es hat nicht länger auf und das ist schade.

Und dann setzt sich ein junger Finne zwischen die Beiden und er versteht kein Italienisch, obwohl er gestern aus Milano gekommen ist und morgen nach Como fährt, und dann sprechen die Drei ein wenig englisch, mehr können sie nicht, und schauen auf den Monitor, auf dem auch einer englisch spricht, die Untertitel sind aber deutsch, und die Frau bleibt sitzen in der linken Ecke, aber die Jüngere steht auf und schaut noch einmal in den letzten Raum mit Gemälden vom nordischen Wald und über die Farben schieben sich plötzlich die südlichen vom Fenêtre ouverte von Matisse, das hier neulich noch hing.

(„We are poems“ ist eine 2011 geschaffene Installation aus Neon, Plexiglas, lichtdurchlässiger Folie und Aluminium aus einer Schweizer Privatsammlung, ein Werk des 1964 geborenen Schweizer Künstlers Ugo Rondinone, zu dessen zentralen Themen die Wechselbeziehung zwischen Lyrik und Bildender Kunst, die Auseinandersetzung mit räumlichen Aspekten und die Visualisierung von Zeit und Vergänglichkeit gehören; derzeit Fondation Beyeler, Riehen)

Fünfter Sonntag nach Ostern – Rogate

Jauchzt Gott, alle Welt! Besingt die Herrlichkeit seines Namens, macht herrlich sein Lob! Preist, ihr Völker, unseren Gott, und lasst hören den Klang seines Lobes. Zu ihm rief ich mit meinem Munde, und Erhebung war unter meiner Zunge. Gott hat gehört, er hat geachtet auf die Stimme meines Gebets. Gepriesen sei der Gott, der nicht verworfen hat mein Gebet noch seine Gnade von mir zurückzieht.

(Psalm 66, Verse 1-2,8,17,19-20 nach der Elberfelder Übersetzung. Vers 20 ist im Herrnhuter Losungsbüchlein der dem Sonntag Rogate zugeordnete Vers)

Essen und Trinken in Mannheim

An einem Samstag Anfang Mai locken die Reiss-Engelhorn-Museen mit ihrem Slogan, einen unvergesslichen Tag zu erleben, zumal es um kulinarischen Genuss gehen soll. „Essen und Trinken“ ist der Titel der Ausstellung und versprochen werden Reisen durch Körper & Zeit – aber das Erste, was meinem jungen Begleiter und mir begegnet, ist der Hinweis auf die zeitliche Begrenztheit dieses Genusses (zugegebenermaßen sind wir spät dran). Also müssen wir uns entscheiden, welche Reise wir an- und welches Gebäude wir be-treten und da ich der Meinung bin, mich mit Reisen durch den Körper bereits einigermaßen auszukennen, fällt die Wahl auf Reisen durch die Zeit. Ein großer Aufzug entlässt uns ins richtige Stockwerk des Zeughauses (die zeitliche Begrenztheit wurde uns zuvor erneut freundlich und auf die Minute genau deutlich gemacht) und dann beginnen wir die kulturgeschichtliche Entdeckungstour bei der Altsteinzeit („viel Fleisch, viel Bewegung“) und sind gespannt auf die weiteren Etappen, nur etwas verwundert über den Mangel an Mitreisenden (aber dann fällt uns ein, dass sie wahrscheinlich anderer Kulinarik frönen).  Der Ausstellungsteil sei auch für Kinder in Begleitung Erwachsener geeignet, wirbt das Museum – gut, das Kind ist schon herangewachsen und die Erwachsene bereits fortgeschrittenen Alters, so dass wir Feuermachen und Melken bei den Mitmachstationen auslassen (wir wollen ja auch Zeit sparen) und darauf verzichten, uns mit der Sammlung von Rezeptkarten durch die Epochen zu kochen (obwohl es hübsch sein muss, sie – wie angeraten – am Ende der Ausstellung zu einem Kochbuch zusammenzubinden). Lieber erfahren wir etwas über Messergriffe in Form einer Spargelstange im alten Rom (die Römer mochten den Spargel wegen Geschmack und Gesundheitsförderung), über das Früchtestillleben der Malerin Rachel Ruysch (sie lebte von 1663 bis 1750 und malte das Werk 1708, als sie zur Hofmalern des Kurfürsten von der Pfalz gekürt wurde), wir laben unsere Augen an Schaugerichten wie der italienischen Fayence mit Feigen aus dem 18.Jahrhundert und bestaunen den appetitlich grünen Glanz der französischen Deckelterrine mit Unterplatte in Form eines Kohlkopfes (wobei wir lernen, dass Kraut im 18.Jh. nicht nur ein Arme-Leute-Essen war, sondern auch in höfischen Kreisen mit teuren Gewürzen versehen als Beilage, Pastete oder Salat auf den Tisch kam). Irgendwann landen wir in der Gegenwart mit Blick in die Zukunft und da wird mir doch ein wenig mulmig, denn dass Lebensmittel aus dem 3D-Drucker mit ihren neuen Strukturen und Texturen wirklich auf der Zunge zergehen und das Aromadesign voll entfalten werden, überfordert gerade meine Vorstellungsmöglichkeiten. Gut, dass just in dem Moment die Minute der Zeitgrenze beginnt! Und da spuckt der große Aufzug auch schon die Mitarbeiterin aus, die freundlich mahnt, sich auf den Weg zu machen, aber der junge Begleiter und ich haben ihn schon begonnen, wir betreten den Aufzug und lassen uns nach unten tragen (zuvor haben wir natürlich einen genüsslichen Feierabend gewünscht). Schade nur, dass wir nicht mehr die gläsernen Trinkgeschichten hören können, die Trinkgefäße von Antike bis Gegenwart erzählen in der begleitenden Ausstellung „Zum Wohl!“

(Essen und Trinken. Reisen durch Körper & Zeit noch bis zum 27.07.2025, Zum Wohl! Gläserne Trinkgeschichten noch bis zum 06.07.2025, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim)

(übrigens: ich schwöre, mit dem Namensgeber der Stiftung weder verwandt noch verschwägert zu sein, jedenfalls soweit mir bekannt – er ist mir auf dem Banner am Ausstellungsgebäude erstmals begegnet)

Goethes Schweizer Reisen

Dann und wann erhalte ich schöne Geschenke. Wenn ich zum Beispiel doch noch in ausgebuchte Kurse rutsche (weil es Absagen gab), so dass Senter Lektüren (und Schreibversuche) nicht nur ein Wunsch bleiben. Und ich Goethe in die Schweiz folgen kann. Drei Reisen waren es, die ihn ins Nachbarland führten und sie markierten in den Jahren 1775, 1779 und 1797 jeweils Wendepunkte seines Lebens.

Dichtung und Wahrheit berichtet im 18. und 19. Buch von der ersten Schweizer Reise. In der Goethe -Biographie von Conrady lese ich, dass von der ersten Reise ein dünnes Heft mit handschriftlichen Notizen auf 15 Blättern überliefert ist, von der zweiten Reise existieren dokumentarische Berichte unter dem Titel Briefe aus der Schweiz 1779. Beim Googeln sehe ich, dass ich eine im Januar 1941 im Basler Holbein-Verlag erschienene Ausgabe dieser Briefe erwerben könnte.

Die Insel-Taschenbuch-Ausgaben von Dichtung und Wahrheit (1.Aufl.1975) schenkte mir zu Studienzeiten meine Mitbewohnerin und Germanistik-Studentin A. Sch. (in ihrem deutschen Dorf in Tadschikistan war sie zuvor bereits Lehrerin).

Conradys Text entnehme ich, dass Goethes Schweizer Wegen bis in jedes Detail und buchstäblich nachgegangen wurde. Da bin ich gespannt, welchen Text- und Wegspuren wir bei den Senter Lektüren folgen werden. Und vielleicht kann ich zuvor schon während einer Kursfahrt die Sonderausstellung auf dem Dampfschiff Schiller erleben: Goethe im Land am Gotthard: „Rings die Herrlichkeit der Welt“.

(Ob dann in Sent die Lärchen Goldgelb tragen? Und welche Farbe wird der Schnee haben?)

https://www.goethe-schweiz.ch

(Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk. Sonderausgabe 1987, Athenäum-V. Frankfurt a.M.)

Rom im Hochsommer

Der 2.August 2024 ist schon früh ein sehr warmer Tag und dennoch windet sich auf der Piazza San Pietro eine riesige Menschenschlange, die auf Einlass in den Petersdom wartet. Über Sommerkleidern schweben Regenschirme, die zu Schattenspendern gewandelt sind. Ich will nicht in den Petersdom, sondern zum Campo Santo Teutonico und verlasse die Piazza über die linken Kolonnaden, stehe dann vor einem bewachten Zaundurchgang. Der junge deutschsprachige Schweizer Gardist lässt mich mit freundlicher Geste ein, obwohl ihn sein gelb-rot-blaues Habit heute sicher zum Schwitzen bringt. Ich passiere eine Sicherheitskontrolle wie am Flughafen, Ende der 1970er Jahre existierten solche Kontrollen hier nicht. Bevor ich nach wenigen Schritten den Campo Santo betreten darf, überschreite ich wieder eine Grenze und muss sogar den Ausweis zeigen, denn der Campo Santo liegt – obwohl unmittelbar neben dem Petersdom – nicht im Stato della Città del Vaticano, sondern auf italienischem Staatsgebiet.

Dann bin ich überrascht. Denn noch nie habe ich meine stille Oase so erlebt. Das kleine geschlossene Gelände ist voller Menschen, überwiegend sind es Jugendliche, Pilgergruppen, wie ich sie bereits am Abend zuvor bei der Trinità dei Monti gesehen und gehört habe. Dort redeten sie fröhlich, sangen und tanzten, hier betrachten sie ruhig die Gräber und hören auf die Erklärungen ihrer Leiter. In der Kirche Santa Maria della Pietà findet gerade eine Messfeier statt, der Priester freut sich, dass außer der angemeldeten Gruppe weitere am Gottesdienst teilnehmen, ich stimme in die auf Deutsch gesungenen Lieder ein.  Aber nicht nur die Pilgernden bevölkern den Campo Santo, es sind zudem Arbeiter und Restauratorinnen am Werk, die hohen einfriedenden Mauern erfahren eine Sanierung. Ich muss mich etwas gedulden, bis ich die schmalen Wege zu den Gräbern gehen kann, die ich wiedersehen will. In Rom verstorbene Katholiken aus dem deutschsprachigen Raum haben hier die letzte Ruhestätte gefunden, Buchhändler, Maler, Dichter wie Stefan Andres und seine Frau Dorothee (die ihn 32 Jahre überlebte), auch Carolyne zu Sayn-Wittgenstein, eine Lebensgefährtin von Franz Liszt .

Ich verlasse den Campo Santo Teutonico wieder, steige die Salita S.Onofrio hinauf und erreiche die gleichnamige, dem Anachoreten Onophrios gewidmete Kirche, in der sich das Grabmal des 1595 gestorbenen italienischen Dichters Torquato Tasso befindet. Und hier ist sie nun, die Stille, als wirke der Rückzug des heiligen Onophrios in die Wüste vom vierten nachchristlichen Jahrhundert fort bis heute, hinein in den doppelstöckigen Kreuzgang, in den wohltuend dunklen Kirchenraum mit der goldschimmernden Apsis, in die Seitenkapelle mit dem hellen Tasso-Grabmal, und hinaus zum erfrischend plätschernden Brunnen, den erstaunlich gesundes Grün umgibt. Ich raste eine Weile beim Brunnen und lausche dem „Ritornell der Stille“, das Marie Luise Kaschnitz in Sant’Onofrio hörte, bevor ich die Steintafeln an der Außenwand betrachte und ihre Inschriften zu mir sprechen lasse: eine ist Johann Wolfgang von Goethe gewidmet, der „ Sant’Onofrio am 2.Februar 1787 besucht und das ergreifende Schauspiel Torquato Tasso geschrieben hat“, die andere wurde zum 100.Todestag von François-René Chateaubriand (gest.1848) angebracht und ist ein Zitat aus seinen Mémoires d’outre- tombe: Chateaubriand ersehnt für die letzte Zeit seines Lebens eine Zuflucht im Kloster, neben dem Sterbezimmer von Torquato Tasso. In ihren Römischen Betrachtungen schreibt Marie Luise Kaschnitz: „Die Stadt Rom lag zu Tassos Füßen, und die jungen Mönche sangen – er hat nach diesem nichts anderes mehr erlebt“.

(Text vom 2.August 2024, überarbeitet)

(Marie Luise Kaschnitz: Engelsbrücke. Römische Betrachtungen; in meiner dtv-Ausgabe 2.Aufl.1976 findet sich „Ein Ritornell der Stille“ auf S.152, „Torquato Tasso“ auf S.210 und die Überschrift „Rom im Hochsommer“ habe ich einer Kapitelüberschrift dieses Buches entlehnt,S.174)