Kanaldeckel

Endlich kümmert sich die Badische Zeitung einmal um Kanaldeckel, unter „Fünferpack“ listet sie fünf kurze Informationen zu den Runden auf. Abgebildet ist ein Freiburger Deckel mit zipfelbemützten Turmbläsern. Sie stehen auf dem Freiburger Wasserschlössle, einem Wasserhochbehälter mit Tarnfassade, der im Sternwald oberhalb des Stadtteils Wiehre liegt (hab‘ ich den überhaupt schon einmal in natura gesehen?) Der Sternwald erklärt auch die Sterne auf dem Kanaldeckel. Und was ist mit der Lilie? Tatsächlich findet sich im Netz unter welt-der-wappen.de ein Eintrag zu „Heraldik zu unseren Füßen“ auf Kanalschachtabdeckungen, sogar auch zu Kanalabdeckungen in Freiburg, wobei fälschlicherweise das Wasserschlösschen als dreitürmige Stadtmauer interpretiert wird, die Lilie wird als Symbol für Gerichtshoheit, Gerechtigkeit und Landfrieden angesehen. Oder handelt es sich gar nicht um eine Lilie, sondern um eine Gleve (oder auch Glefe – ein vollkommen neues Wort für mich), also eine Stangenwaffe? Manchmal erhalten die Kanaldeckel auch Pflaster, so geschehen beim Besuch von Benedikt XVI. im September 2011, als er mit dem Papamobil durch die Freiburger Innenstadt fuhr und die Kanaldeckel mit weißen Siegeln versehen wurden, den sogenannten Papstpflastern. Die Freiburger Kanaldeckel kenne ich ganz gut, auch die Weiler sind mir (im wahrsten Wortsinn) geläufig mit dem Wellenband des Rheins und den darüber schwebenden prallen Trauben, bald besuche ich aber auch einmal wieder die schönen Deckel mit den Radschlägern: in Düsseldorf gilt das Radschlagen der Kinder als älteste Tradition der Stadt, um deren Entstehung sich mehrere unterschiedliche Geschichten ranken. Die älteste Variante erzählt, dass die Einwohner vor Freude auf die Straße liefen und die Kinder Räder schlugen, als in der Schlacht von Worringen 1288 Graf Adolf den Kölner Erzbischof besiegte und Düsseldorf die Stadtrechte erhielt.

Es empfiehlt sich, Kanaldeckel nicht nur mit Füßen zu treten, sondern ihnen Augenmerk zu schenken – oft sind sie eine Augenweide! (Ich sammle sie – fotografisch, versteht sich)

Bei den Augustinern

Endlich war ich einmal wieder bei den Augustinern. Oder vielmehr war ich in der Normandie. Bei den Augustinern in der Normandie, in Begleitung der Impressionisten. Licht und Landschaft, Impressionisten in der Normandie heißt die Ausstellung im Augustinermuseum Freiburg, die noch bis zum 30.November zu sehen ist und die mit über 70 Werken die Bedeutung der Normandie für den Impressionismus beleuchtet. Die meisten Exponate entstammen der in den 1990er Jahren in Caen gegründeten Sammlung „Peindre en Normandie“, aber es findet sich auch ein Monet von 1881 aus der Fondation Beyeler (dort Dauerleihgabe der Rudolf Staechelin Collection): Ölfarbe auf Leinwand hält den Eindruck „Ruhiges Wetter“ der Küstenansicht von Fécamp fest, steil abfallende Klippen, helles Türkis des Meeres, das mit flachen sanften Wellen den spärlichen Strand erreicht, ein ruhiger, eher hellgrauer Himmel. Jean-Baptiste Camille Corot (1796-1875) malt um 1863 einen „Meeresblick mit Kuhherde“, Berthe Morisot (1841-1895) stellt 1883 ihre Schwester samt deren Tochter in den Hafen von Cherbourg.  Eingangs der Ausstellung das „Vorspiel zum Impressionismus“ mit Gemälden verschiedener Künstler, die das Landgut Saint-Simeon und dessen Gäste zum Motiv haben, zum Beispiel „Frauen im Obstgarten von Saint-Simeon“ (um 1868) von Louis-Alexandre Dubourg (1821-1891). Rund 30 MalerInnen hielten sich immer wieder auf dem Gut auf, tauschten sich dort über Skizzen und Techniken aus, Boudin, Jongkind, Courbet, Monet, Corot u.a. Nicht nur die KünstlerInnen entdeckten die Normandie, großformatig auf Zwischenwänden wiedergegebene alte Fotografien zeigen durchaus „Massentourismus“ ab der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Menschenbevölkert sind die Fotografien – auf den Gemälden hingegen viel Wolken, viel Wasser, viel Wellenbewegung, kaum Menschen, und wenn, dann klein im Angesicht der Naturphänomene. Die Impressionisten suchten die Küste als Rückzugsort, „Stille statt Trubel“,  Claude Monet schrieb am 19.Januar 1888:  „Alle Leute hier (die Maler), die mir die am wenigsten guten Orte gezeigt haben, sind Idioten. Und siehe da, heute Morgen, indem ich nur meinem Instinkt folgte, habe ich wundervolle Dinge gefunden.“ 

Lieber Monsieur Monet, ich folge Ihnen, denn auch ich fand wundervolle Dinge bei den Augustinern, die mich in Licht und Landschaft der Normandie entführten, so dass ich unter Wolken, in Wellen und bei Klippen weilen konnte, auch wenn ich zunächst und noch immer den Eingang zwischen Bauzäunen und Fassadenschutznetzen suchen musste. Der ehemalige Konventsbau wird nämlich als dritter Bauabschnitt saniert und restauriert, am 27.Februar 2026 soll eröffnet werden. Begonnen wurde die Umwandlung in ein modernes Museum und Restaurierung des gesamten Klosterkomplexes mit gotischem Kreuzgang im Jahr 2004, die ehemalige Klosterkirche ist seit März 2010 wieder zugänglich, ein Teil der Museumssammlung wird dort gezeigt. 500 Jahre lang, von 1278 bis 1783, fand das mönchische Leben der Augustinereremiten im Komplex statt. Seit 1923 beherbergen die Gebäude das Augustinermuseum.

Welttag des Briefeschreibens

Der erste September wurde vom australischen Autor, Künstler und Fotografen Richard Simpkin im Jahr 2014 erstmals zum Tag des Briefeschreibens erklärt und soll weltweit Menschen ermutigen, in der digitalisierten Welt einmal innezuhalten und Briefe zu schreiben, am Besten mit einem Stift auf Papier, also handschriftliche Briefe. Simpkin liebt handgeschriebene Briefe und hält auch Briefschreib-Workshops in Schulen ab, ein von ihm im Jahr 2005 veröffentlichtes Buch würdigt wohl die Kunst des Briefeschreibens. Man findet seinen Instagram-Account unter richardandfamous, dort nennt er folgende Kurzcharakteristika: Photographer who was lucky to have met some incredible people. Author of 10 books. Dad. Artist. Founded World Letter Writing Day. Creating memories.

Auch ich liebe handgeschriebene Briefe und Karten, die allermeisten habe ich von der Mutter erhalten, sie hat mich in solche regelrecht eingehüllt, wo auch immer ich war und wie lange auch immer ich mich an diesen Orten befand. Im Dänemark-Reisetagebuch zum Beispiel habe ich an mehreren Tagen notiert „Post für mich!“ Und ausgerechnet heute fällt mir tatsächlich eine Tüte voller Briefe und Karten in die Hand und ich begebe mich etwa vierzig Jahre zurück in die mit blauer, schwarzer oder brauner Tinte geschriebenen Zeilen und lese davon, dass in Stille nachdenken zu dürfen eine Gnade sei, dass es wundersam sei „wie einem, ist man innerlich geöffnet, auf akute Fragen Antworten werden, irgendwoher“; ich lese von einer „kleinen gemütlichen Klause“, die „heimelig birgt“, ich lese von dem, was der Klang einer Stimme bedeutet, ich lese im am 29.April 1984 geschriebenen Luftpostbrief, der mich nicht mehr während des vom 3. bis 5.Mai 1984 dauernden Aufenthaltes im Kibbuz Nof Ginosar, später aber zuhause erreichte: „Heute bist Du in Jerusalem aufgewacht! Ach, alles in mir jubelt. Auf der Welt gibt es ein paar Urheimaten: Jerusalem, Rom…“

Ich stecke die Blätter wieder in ihre Umschläge und alles zurück in die hellblaue Tüte einer Parfumerie. Unbedingt muss und will ich einmal diesen Briefschatz anders archivieren!

Elfter Sonntag nach Trinitatis

Die heutige Tageslosung gemäß Herrnhuter Losungsbüchlein entstammt dem Vers 12 aus dem zweiten Psalm: Wohl allen, die auf ihn trauen!

In der Elberfelder Übersetzung (2006) lautet das so: Glücklich alle, die sich bei ihm bergen!

Aber wohl allen, die auf ihn trauen, tönt es in mir nach, und der Anfang des Verses ist doch Küsset den Sohn, dass er nicht zürne und ihr umkommet auf dem Wege – in mir fängt es zu singen an, das ist doch, ja das ist Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) mit seiner Vertonung des zweiten Psalms „Warum toben die Heiden“ (op78,1). Wann habe ich das mit einem Chor gesungen? 1986 auf jeden Fall – und danach?

Sommer 1976 – Reisetagebuch Dänemark

Die Freunde sind noch immer in Dänemark und so kehren auch wir noch einmal dorthin zurück und blättern durch den Sommer 1976, in dem wir nicht nur gut das zweijährige Kind der Lehrerin, sondern auch ein wenig das Land kennengelernt haben. Wir fahren zum Beispiel am 14.Juli Richtung Tipperne, sehen dort riesige Weiden mit riesigen Kuhherden, schließlich ein Tor des Staatsreservates und Vogelschutzgebietes Tipperne, in den Monaten Juni und Juli hat es mittwochs und freitags von 13 -17 Uhr und sonntags von 04-08 Uhr für Besucher geöffnet, der Eintritt kostet für Erwachsene 5 Kr., für Kinder 2 Kr., und da der 14.Juli ein Mittwoch ist und wir zur rechten Zeit da sind, können wir um 13 Uhr durch das geöffnete Gatter zur Vogelwarte, gehen den Naturpfad, sehen freie Pferde auf weiten Wiesen, laufen auf schmalen Holzlatten durch Schilf, das größer ist als wir und hinter uns wieder zusammenschlägt und haben vom Vogelturm eine wunderbare Sicht auf den Ringkøbing Fjord und einige Vögel. Zu Mittag essen wir später Krabben, Räucherfisch und Spaghetti, gegen Abend gehen wir noch an den Strand und haben dort eine urige Stimmung mit dunklen Wolken, die sich am Horizont mit dem Meer zu vereinen scheinen. Als es zu regnen anfängt, sind wir die Einzigen, die noch da sind, „auch das ein Erlebnis: der verhangene Himmel, grau in grau mit dem Meer, der nasse, regenschwere Sand, die dicken Tropfen, der Geruch des Dünengrases.“

Am Freitag, den 16.Juli geht es auf nach Ribe, wo wir uns zuerst in die helle, großräumige St.Catharinenkirche begeben, in der zwei Schiffe von der Decke hängen, zwei Putzfrauen mit Baby tätig sind und jemand anfängt, die Orgel zu spielen. Im wunderschönen Kreuzgang sehen wir die roten Mauern aus Ziegelstein und dass der zweite Teil mit Efeu bewachsen ist. Dann gehen wir durch die alten, engen Gassen zum Dom, Dänemarks breitester Kirche mit fünf Schiffen, wo wir auf vielen Stufen den Turm hinaufsteigen zur Aussichtsplattform. Das Hinausgehen begleitet ein Glockenspiel mit dem Volkslied der Königin Dagmar. Wir kehren in eines der schönsten Gasthäuser ein, die es gibt, ein geducktes altes Fachwerkhaus mit niedrigen Zimmern und Fenstern und einer 200 Jahre alten Inneneinrichtung. Unter einem großen Baum essen wir im Innenhof zu Mittag. Wir setzen den Stadtrundgang fort, auf dem Rückweg zum Auto schläft das zweijährige Kind bei der St.Catharinenkirche auf unserem Arm ein und wacht nicht einmal auf, als wir es in seinen Sitz setzen. Am Ortseingang kaufen wir noch in einem riesigen Supermarkt ein, so können wir abends im Ferienhaus Fleisch, Möhren, Kartoffeln, Gurkensalat und Joghurt essen, ein Glas Wein trinken und in einer Zeile notieren „es gewittert“ und in der nächsten darunter „ich bin glücklich!“

(siehe auch Blogeintrag vom 12.August 2025)

Saisoneröffnung

Im Gegensatz zu den baden-württembergischen sind die Basler Ferien zu Ende und so gab es gestern Abend im Basler Literaturhaus die Saisoneröffnung mit einer „Langen Nacht der Schweizer Literatur“. Nicht dass man jetzt des Nachts im Literaturhaus oder davor, bei der Barfüsserkirche, sotto le stelle lag, eher saß man hübsch aufgereiht im ausverkauften Haus zum langen Abend, fühlte sich sehr willkommen geheißen mit Knabbersnacks for free und einem Getränkegutschein, den man sofort oder in der längeren Pause zwischen den zwei Blöcken einlösen konnte im Café Kafka. Vorgestellt wurden und haben ihre Werke sage und schreibe sieben AutorInnen, eine Art literarisches Speed- Dating. Wobei es so speedy zum guten Glück nicht war, man konnte von Personen und Werken einen durchaus charakterisierenden Eindruck gewinnen, der meist Lust auf mehr machte. Und welch ein Panorama aufgeblättert wurde! Schweizer Literatur mit der Würze verschiedener Kulturen.

Zu Beginn der Basler Martin Zingg, geb.1951 mit seinem Gedichtband „Klassische Sorgen“, er interessiere sich für den Kippmoment zwischen Anschauen und Beschreiben, sagt er und bedauert, dass es Zwei- und Dreizeiler sehr schwer haben, freut sich aber, wenn er Einsprengsel anderer Sprachen in seine Gedichte deponieren kann , „streunende Zuversicht“ hat mir sehr gefallen.

Dann die 1953 geborene Theres Roth-Hunkeler mit ihrem neu erscheinenden Roman „Damentour“, als Fortsetzung von „Damenprogramm“, sieben Frauen befassen sich in einem speziellen Setting mit dem Altern, auch mit der Begrifflichkeit der Dame wird gespielt.

Als Drittes kommt die 1972 in Luzern geborene und inzwischen wohl in Andalusien lebende Melara Mvogdobo zu Gespräch und Lesung aus ihrem Buch „Großmütter“ (in das ich schon bei C.E.F. einmal hineingelesen habe). Eine kamerunische und eine Schweizer Großmutter offenbaren ihre Leben in Fragmenten; Geschichten, die sehr viel erzählen in äußerst knapper Form. Gefragt danach, wie sie diese Form herstelle, ob sie erst fünfhundert Seiten schreibe und dann streiche, streiche, streiche oder ob sie von Anfang an so kondensiert schreibe, antwortet Mvogdobo: ja, von Anfang an knapp, sie möge das Überarbeiten ganz und gar nicht, der Text ist schon da, wenn sie beginnt, zum Beispiel entstanden beim Abwaschen, das Buch hat sie in fünf Wochen geschrieben.

Vera Hohleiter lebt und schreibt seit 2017 in Basel (u.a.tätig als Co-Leiterin des Netzwerks lokal lesen), hat in Berlin und Paris Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Geschichte sowie in Seoul Koreanisch studiert, war als Journalistin für verschiedene Medien tätig, hat bereits ein Sachbuch und Erzählungen veröffentlicht, liest und spricht hier aber erstmals über ihren um ein Wissenschaftsthema kreisenden Debüt-Roman „Jenseits der Dinge“. Das Netz verrät nicht ihr Geburtsdatum, aber die Tatsache, dass sie alte Schreibmaschinen sammelt.

Nach der Pause (mit dem Getränkebon entscheide ich mich mal für eine Nicht-Alkoholikerin, nämlich una gazosa al succo di arancia amara aus Bellinzona) erscheint der 23-jährige, bescheiden und sicher auftretende Nelio Biedermann mit seinem eben erscheinenden Familienepos „Lázár“ (bereits sein zweiter Roman), der schon vorab in 20 Länder verkauft wurde (Auslandslizenzen). Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte adliger ungarischer Vorfahren, wusste der in Zürich Germanistik und Filmwissenschaft studierende Biedermann schon früh, dass dies sein Stoff ist, mit dem er arbeiten will, es habe aber lange gedauert, bis er den stimmigen Ton dafür fand. Dann habe er den ersten Satz und den Erzählton gehabt, der die Zuhörerschaft auch gleich bei der Lesung des Buchanfanges umgibt und sofort in detailreiche Atmosphären eintauchen lässt. Für mich sieht Nelio Biedermann ein wenig so aus, als sei er dem Film Doktor Schiwago entstiegen.

Usama Al Shahmani, der 1971 in Bagdad geborene irakisch-schweizerische  Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer spricht als sechster über den von ihm zum 50.Geburtstag des Limmat-Verlages zusammengestellten Gedichtband „Ein Seidenfaden zu den Träumen“. Wie er bei der Auswahl vorgegangen sei, wird er gefragt, er antwortet: so wie beim Schreiben „während des Schreibens entwickelt sich das Schreiben“. Fasziniert sei er von sprachlicher Knappheit, vom Dazwischen, vom Versuch, das Verschwiegene zu formulieren, von der Haiku-Dichtung. Ein eigenes Gedicht in dem Band thematisiert den Morgen nach dem Krieg und Al Shahmani erzählt, dass im Arabischen nur ein Buchstabe die kurzen Worte Krieg und Liebe auseinanderhält.

Zu guter und man muss schon sagen peppiger Letzt ist die 1992 in Zürich geborene Nora Osagiobare mit ihrem Roman- Debüt „Daily Soap“ dran. Sie habe Lust an Verkehrungen, Gedanken- und Wortspielereien gehabt beim Schreiben, sagt sie und ich bin erstaunt, dass ich Autorin und Text nun mit anderem Blick betrachte als ich das bei (im TV verfolgter) Lesung  und anschließender Lektüre ihrer Kurzgeschichte „Daughter Issues“ (49.Tage der deutschsprachigen Literatur, Klagenfurt) getan habe.

Und nun hat zwar das lange literarische Speed-Dating und die Hochsommerzeit ein Ende, die literarische Nachsommersaison aber gerade erst begonnen, wie ich mich dankenswerterweise auch auf der Damentoilette versichern kann.

Sœur Sourire

Im Wohnzimmer des Elternhauses stand ein spezielles Möbelstück, ein länglicher Phonoschrank aus Holz mit metallenen Füßen, er enthielt ein Radio, einen Plattenspieler (man musste einen Deckel aufklappen) und eine nach links ausziehbare Schublade, in der Schallplatten gelagert werden konnten. Zog man als Kind die Schublade auf, wartete da nicht nur der Froschkönig „Heinrich, der Wagen bricht! – Nein, Herr, es ist der Wagen nicht. Es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als mein Herr noch in dem Brunnen saß“, sondern auch eine Single von Sœur Sourire, der singenden Nonne. „Dominique, Dominique, der zog fröhlich in die Welt, zu Fuß und ohne Geld. Und er sang an jedem Ort immer wieder Gottes Wort, immer wieder Gottes Wort“  –  immer und immer wieder habe ich das gehört, noch heute ist mir die frische, beschwingte Stimme mit dem französischen Akzent im Ohr und die Melodie, auch ein paar Textstellen, weiß ich noch zu singen, „oh Domenikus, bewahr uns Frohsinn und Bescheidenheit, dass wir unsren Brüdern künden von des wahren Lebens Freud“. Eine deutsche Version des Liedes hatten wir also zuhause, nicht das französische Original des Songs, der zu einem weltweiten Charthit avancierte, es wurden mehr als drei Millionen Exemplare der Single verkauft, 1964 zeichnete man Dominique, das dem Hl.Dominikus, dem Ordensgründer der DominikanerInnen gewidmet ist, mit dem Grammy Award für religiös inspirierte Musik aus.

Und was ist aus Sœur Sourire, der singenden Nonne und Liedschöpferin geworden? Das habe ich erst vor einiger Zeit erfahren, als ich einmal nach ihr googelte: die 1933 in der Nähe von Brüssel geborene Jeanne-Paule Marie Deckers, eine an der Mary Art School in Paris ausgebildete Zeichenlehrerin, war 1959 in den Orden der Dominikanerinnen eingetreten, wo sie den Namen Luc-Gabrielle (Vornamen der Eltern) annahm, Gitarrenspielen erlernte und begann, Lieder zu texten und zu komponieren, um zunächst nur ihre Mitschwestern im Konvent von Fichermont und die Jugendlichen, mit denen sie arbeitete, zu erfreuen. Mit Erlaubnis der Oberin wurde Dominique unter dem Pseudonym Sœur Sourire veröffentlicht und professionell vermarktet, die Einnahmen flossen an Orden und Kloster. Im Jahr 1966 wurde ein Hollywood-Film produziert, der durch das Leben der singenden Nonne inspiriert war, Debbie Reynolds spielte die Hauptrolle. Streitigkeiten wegen des Films, wegen der Musikkarriere und wegen der Einnahmen aus den Kompositionen führten zum Bruch und schließlich zum Austritt Deckers aus dem Orden. Unter dem neuen Namen „Luc Dominique“ versuchte Jeanne Deckers als Chansonette an ihren Erfolg anzuknüpfen, was aber misslang, Anfang der 1970er Jahre zog sie sich ins Privatleben zurück, in bestimmten Teilen der Presse wurden ihre Abhängigkeitserkrankung und ihre lesbische Beziehung thematisiert, ein jahrelanger Rechtstreit mit dem belgischen Finanzamt quälte sie, wegen ihrer Schulden wurde auch das von ihr gegründete Heim für autistische Kinder geschlossen. Am 30.März 1985 nahm sie sich zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Annie Pécher das Leben, der Wunsch der beiden Frauen nach einem gemeinsamen Grab auf dem Friedhof von Wavre (bei Waterloo) wurde von der Kirche erfüllt. In weißen Großbuchstaben ist in den roten Granit des Grabsteins geprägt: J’ai vu voler son ame a travers les nuages.

(Es finden sich im Netz Videos von Sœur Sourire und Dominique)

(Foto: Zisterzienserinnen-Abtei Waldsassen)

Das Schwarzwalddorf

Jetzt habe ich es wieder nicht geschafft. Zum Hausacher LeseLenz zu fahren, meine ich. Seit Jahren steht das auf meiner inneren Liste. Poet(h)ische Visionen war und ist noch der Titel, denn es folgt ein Teil 2 Anfang November.

Hausach (alemannisch Hûse) ist eine Stadt im Kinzigtal im Schwarzwald im Ortenaukreis in Baden-Württemberg – so steht es bei Wikipedia geschrieben –  und wir durchfuhren es früher immer auf der B 294, in die gerade dort die B 33 einmündet, von der wir gekommen waren. Wir passierten es auf der Fahrt zu den anderen Großeltern, den Großeltern väterlicherseits, die im Saarland wohnten. In einer Kurve hing vor einer Hauswand ein Charakteristikum: geflochtene Körbe in Übergröße warteten darauf, von uns bemerkt und besprochen zu werden, kaum dass wir sie erblickten. Haben wir jemals angehalten und einen Korb in Normalgröße erworben? Ich weiß es nicht mehr, wir hatten aber solch geflochtene Körbe im Elternhaus.

Zu meinem Geburtstag 2010 bekam ich „Mein andalusisches Schwarzwalddorf“ geschenkt, der edition suhrkamp-Band enthält Essays des in Hausach beheimateten José F.A.Oliver, jemand war in NRW bei einer seiner Lesungen gewesen und hatte ein signiertes Exemplar für mich erworben. Gestern Abend zog ich das Buch aus dem Regal, die Zeitungsartikel fielen mir entgegen, ich blätterte darin herum – was hatte ich damals beim Lesen markiert:

„Manchmal denke ich, dass wir einander nur näherkommen können, wenn die inneren Bücher ausgepackt werden. Gelesen, vorgelesen, erzählt sind. Die Einbände und die Titel alleine genügen nicht. …  Und doch ist das alles zu wenig – wenngleich auch schon sehr viel, das uns Aufhorchen machen könnte. Es sind die Hüte, die erzählt sein müssen. Die Köpfe, die sie bedecken. Die Zehenspitzen wären zu übersetzen, das scheue Lächeln davor, die Haltung, die sich darin offenbart…“

(edition suhrkamp Nr.2487, Suhrkamp-V., Frankfurt a.M. 2007)

Die Porzellanputte

Eine große Müdigkeit am Abend.

Menschen treten aus Worten und Bildern heraus und sind um dich herum. Kinder mit dicken Zöpfen und Mittelscheiteln lächeln dir entgegen, in ihren Pupillen spielt der Lichtreflex, man war beim Fotografen, drei Kinder, dann vier. Die dunkle Krawatte mit schrägen Streifen ist um den weißen Stehkragen geschlungen, dann markiert eine gepunktete Fliege die Öffnung der Stelle, die der oberste Hemdknopf schließt, eine hohe Stirn dehnt sich nun nach hinten.

Ein Ehepaar sitzt auf einem Stein im Wald, einander zugewandt, die Blicke ineinander getaucht, sie im hellen Kleid, er mit Weste und Krawatte, der schwarze Anzug verbirgt das versehrte Bein, auf dem seine rechte Hand liegt, die ihre Linke lose und sicher umschließt. Das Ehepaar sitzt auf einer hellen Holzbank, die Frau lächelt zum Betrachter, der Mann mit den schön geschwungenen Lippen blickt in die Ferne, das Weiß des steifen Hemdes strahlt über dem Dunkel des Anzugs, die Krawatte steckt in der Weste, sein linker Unterarm ruht auf dem versehrten Bein, der rechte lehnt locker hinter der Frau. Das Ehepaar steht auf dem Balkon, sie hat die Linke auf die hölzerne Brüstung gelegt, das Sommerkostüm schimmert in Gold und Schwarz, seine rechte Hand ruht in der Hosentasche, der oberste Knopf des Polopullovers ist geöffnet, seine Nasenspitze zeigt auf die Stelle, wo Sonnenreflexe ihr hochgestecktes graues Haar berühren, sie schauen gemeinsam hinab und nicht zum Wald, der sein Dunkel behalten will.

Die schweren Eichenholzmöbel mit den gedrechselten Säulen, die so oft umzogen und immer wieder Heimat fanden, bis sie gedrängt im fremden Keller standen, verlassen von den Menschen. Die nun unter dem Holzkreuz mit den geschnitzten Evangelistensymbolen liegen. Nein, wie können sie dort sein. Selbst das Holzkreuz ist nicht mehr zu finden, auf dem Friedhof, der sein Grün hinüberdehnt zur Baar.

Goldrandgeschirr auf weißer Tischdecke mit Hohlsaum, die Tischdecke liegt auf dem Eichenholztisch, von dem die Schreibmaschine weichen musste, wir sitzen und reden und lachen, das Silbertablett leert sich vom Zwetschgenkuchen, die vier Apostel blinzeln herüber, Gotthilf, nicht noch ein Stück, du weißt doch…!

Auf der Kredenz mildert ein geschwungenes Weiß der Blumenschale das hölzerne Dunkel und die Porzellanputte versucht tapfer, mit patschigen Kinderfüßchen beim Tanz auf der goldenen Kugel die Balance zu halten.

Abteilung für Kunst, lese ich in hellem Türkis, als ich nun unter den Sockel schaue, Hutschenreuther, Selb Bavaria.