Herbstfreuden

Gestern Abend in der kurzen Pause der Chorprobe (Johannespassion mit Konzert am 29.März, Palmsonntag und Beginn der Sommerzeit) stimmen eine Soprankollegin und ich überein im Befremden darüber, dass das Jahr schon die Neigung zu seinem Ende hin nimmt, wir haben Mitte Oktober und es ist bereits an der Zeit, sich um neue Kalender zu kümmern, dabei hatten wir doch erst Januar – oder nicht? Ist das eine Alterserscheinung, fragen wir uns, und weisen diesen Gedanken natürlich umgehend von uns, zumal auch Jahrzehnte Jüngere von diesem Phänomen zu berichten wissen. Auch meinen wir, der Sommer sei dieses Jahr nicht sehr groß gewesen, eher etwas klein geraten. In den letzten Tagen treiben bereits heftig die Blätter und der erwartete Wein scheint genug Süße zu haben, die Traktoren zogen schon über den Hügel und fleißige Hände befreiten die Rebstöcke von reifer Last. Und obwohl der Rosmarin noch blüht, haben sich auf meinem Höhenweg neben ihm die Herbstzeitlosen eingefunden und vereinen ihre sattgelben Strahlen mit den etwas blasseren der Herbstsonne. Am Morgen umgarnen die Nebel den Hügel und er lässt sich werben. Gibt zur Antwort, dass er sich an den Herbst gewöhnt habe, ja ihn nicht missen möge, dass er sich ausgesöhnt habe mit der wuchernden Durchsichtigkeit der Rebstöcke, dass er es liebe, wenn Morgenlicht mit den Nebeln spiele und einen Widerpart fände in der Färbung des Herbstlaubs. Wenn dann noch Raubvögel über seinen Wölbungen kreisten, sagt er, und die Nebel ein Fenster freigäben auf sein Chrischona-Gegenüber, dann sei er ganz in den Herbstfreuden angekommen.

(ein paar Formulierungen aus einem Mini-Text vom Oktober 2023 sind eingearbeitet)