
„An meinem zwanzigsten Arbeitstag werde ich darüber nachdenken, warum ich Haus Nr.84 nicht beschreiben will, nur von außen, nicht eintreten, weder durch den Haupteingang, zu dem einige Stufen hinaufführen und durch den man in die Halle mit den Ahnenbildern, aber auch in den kleinen Arbeitsraum des Herrn Matern gelangt
noch über die verfallene Terrasse….
noch durch die Holzlege…..
noch durch die Hintertür, durch deren Glasscheibe man die vielen Kinderstiefelchen sehen kann, die dort gleich beim Hereinkommen ausgezogen werden müssen, die vielleicht den Kindern des Herrn Matern gehören, vielleicht aber auch schon den Kindern dieser Kinder, oder den Kindern ganz fremder Leute
eben weil man das nicht weiß, weil man nichts weiß, alles nur von außen ….“
Wir stehen am Zufahrtsweg zu Haus Nr.84, dort, wo Schilder an die Grenze zum Privaten gemahnen, wir halten das uns liebe Buch in Händen und lesen mezza voce den ganzen Text des zwanzigsten Arbeitstages. Über Gras, das sein Frühlingsgrün noch zurückhält, kommt mit kräftigen Schritten ein hochgewachsener hagerer Herr auf uns zu, in Arbeitskleidung und Gummistiefeln: „Sie sind auf den Spuren meiner Tante?“ – „Ja“, bestätigen wir, wunderlich berührt. „Kommen Sie, gehen Sie ruhig weiter, das Tor steht offen“, lädt der Baron, wie er im Dorf genannt wird, ein. Und so kommt es, dass wir auf dem gekiesten Geviert des Innenhofes stehen und auf das Rund eines steinernen Brunnens blicken, auch auf die vier jüngeren, noch kahlen Bäume, Wächter in den Ecken des Rasenstücks, das den Brunnen rahmt, so kommt es, dass wir in einen tiefer gelegenen Garten blicken, in dem noch nicht die Rosen blühen, aber ein weiteres Brunnenrund die Kreuzung der Kieswege auffängt und eine Magnolie ihre rosige Blütenschar der Frühlingsluft entgegen schickt, so kommt es, dass wir auf altes Gemäuer blicken und auf Narzissen, die ihre gelbe Glocke über das geäderte Grün des Efeus schwingen.
Zuvor haben wir den am Ölbergweg gelegenen Friedhof beschritten und die Sandsteinplatte betrachtet, die vielleicht leicht, vielleicht schwer trägt an der Gravur des Namens der Dichterin, geb. Freiin v. Holzing-Berstett geb. in Karlsruhe 1901 – gest. in Rom 1974, und wir haben darüber den Namen gesehen des geliebten Mannes der „Windsbraut“ Guido Frhr.Kaschnitz v. Weinberg Archäologe geb. in Wien – 1890 – gest. in Frankfurt Main 1958. Wir haben der freundlichen Frau zugehört, die von ihren Arbeiten am Nachbargrab aufsah, sich uns zuwandte und davon sprach, noch als Kind der Dichterin immer einmal wieder und nicht nur auf dem Friedhof begegnet zu sein.
Wir haben den Bachlauf der Möhlin gequert, um den Friedhof zu erreichen, wir haben zuvor ein Foto betrachtet der Windsbraut, wie sie vor dem Brunnenrund im Innenhof steht und am Dezembertag der weiße Schleier dem steinernen Brunnen entgegenweht und um den Brunnen herum liegt der Kies und ein dicker Baumstamm wächst in eine Höhe, die das Foto nicht fasst.
„…ich bin immer gern gegen den Wind gelaufen, selbst der heimatliche Westwind, dieser an den Nerven zerrende Heuler gefiel mir…“ schreibt die Windsbraut 1973 in „Orte“ und wir haben das und anderes gelesen und gesehen und gehört im Raum, den man der Dichterin zum Gedenken gewidmet hat im Rathaus von Bollschweil.
(Marie Luise Kaschnitz: Beschreibung eines Dorfes. Mit Fotografien von Michael Grünwald. Insel Taschenbuch 665, erste Aufl.1983)
