Jetzt hatte Christian seine Tasche vergessen. Dabei hing er doch so an ihr. Mindestens genauso wie die Tasche an ihm hing. An ihm herunterhing, ihm zur Seite war, auf Schritt und Tritt. Und das seit vielen Jahren. Eine lederne Treue hielt sie ihm und er wusste sie gerne an seiner Flanke, das gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er legte den Arm um sie, meist den rechten, und hielt ihr die Schnallen oder sich an denen fest. Wenn er nicht mit zärtlicher Geste die Riemen herauszog und die Tasche öffnete, um ihren Inhalt erst zu betasten, bevor er ihn dem Futteral entnahm. Er kannte den Inhalt gut, ja er liebte ihn (obwohl er zu scheu war, ein solch großes Wort zu benutzen), dennoch bereitete es ihm jedes Mal aufs Neue eine reine und tiefe Freude, wenn er die Gegenstände ergriff und durch seine Hände gleiten ließ, bevor er sie mit raschem Entschluss aus der Tasche nahm. Es handelte sich um ein Notizbuch und mehrere Stifte. Die große Freude trug er nicht nach außen, er lachte nicht lauthals und verzog kaum eine Miene, allenfalls umspielte ein winziges Lächeln seine Lippen, die meist schwiegen. Alle Worte, die die Lippen nicht sagten, flossen in seine Finger, die sich mit dem Stift dergestalt zu einer bewegten Einheit verbanden, dass Christian später die Worte wiederfand auf dem Papier des Notizbuchs. Das war gut und auch schön, so waren die Worte draußen und blieben doch drinnen und in seinem Besitz und Christian konnte sie anschauen, wann immer er wollte und das Notizbuch öffnete. Die Worte waren seine Gesellen und ihm war wohl in ihrer Gesellschaft. Und nun hatte er die Tasche stehen lassen und mit ihr die Stifte und die Wortgesellschaft im Notizbuch! Das war ihm noch nie passiert. Das kam davon, wenn man sich an Orten aufhielt, wo man sich nicht auskannte! Wenn man die Tasche ablegte anstatt sie bei sich zu lassen, an der Flanke, wo sie hingehörte, wo sie sich so gut einschmiegte, als sei sie festgewachsen, eine zweite Haut. Christian war verstört. Die Leere an seiner Seite war furchtbar und die Fülle in seinem Kopf kaum auszuhalten. Wo nur hatte er die Tasche gelassen? Er versuchte, das Knäuel im Kopf zu entflechten, aber das war schwer ohne Stifte und Notizbuch und es gelang ihm nur zähflüssig und unter großen Mühen.
An einen Gitterkäfig hatte er die Tasche gelehnt, endlich erinnerte er sich, auf eine halbhohe Holzbarrikade, und über der Tasche schwamm ein türkisgrüner Fisch, der sein Metallmaul geöffnet hielt, er war wohl dem Schleppnetz entschlüpft, das schlaff auf dem Käfig unter dem erschrockenen Fisch vor sich hindümpelte. Christian hatte den Fisch gut verstanden, auch er hatte sich nämlich zuerst ein wenig erschrocken an diesem Ort, an dem er zuvor noch nie war. Aber dann hatte er gesehen, dass die Kacheln an den Wänden warmes Terrakotta trugen, das weckte in Christian eine alte Erinnerung und die leise Ahnung, dass sich an dem Ort viele Worte einfinden würden, deren Gesellschaft ihm angenehm war, mit denen er vielleicht sogar einmal anstoßen könnte an einem der kleinen Tische, die da voller Erwartung herumstanden. Was hatte er da gerade gedacht? Wie war er denn darauf gekommen? Das hatte er doch noch nie… ihm war ein wenig schwindelig. Noch ganz in Gedanken befangen, legte er die Ledertasche ab, lehnte sie an den Gitterkäfig auf die Barrikade und vergaß sie zu öffnen, denn sein Blick fiel auf einen silberglänzenden Shaker, der ein wenig schräg auf dem Podest einer kleinen Bronzestatue stand und in dem Christian nun auch Worte vermutete, Worte, die geschüttelt werden wollten, nicht gerührt, leise Worte und laute, dicke und dünne, vermisste Worte und solche, die er noch gar nicht kannte. Ein wunderbares Gemisch, eine kühle Flüssigkeit, ein Wortcocktail, der ihn beleben und erfrischen würde, Christian vergaß seine Scheu und machte einen raschen Schritt auf den Shaker zu, als ein gläsernes Klirren die Stille und Christians umherwandernde Gedanken zerriss, was ihn so ins Zittern brachte, dass er davonstürzte und die Tasche zurückließ.
Als er zum Stehen kam, fand er sich inmitten von geschäftigem Getriebe wieder, langsam gelangte Stimmengewirr in sein Ohr und in seinen Kopf das Bewusstsein, dass er nicht vollständig war, etwas fehlte doch an seiner Flanke, er griff sich an die Seite und wirklich: Leere! Christian wusste gar nicht wohin mit seiner rechten Hand, sie baumelte schlaff herunter, dann hob er sie mühsam an die Stirn, hinter der sich etwas zu türmen schien. Er schwitzte, wischte mit dem Handrücken die winzigen Tropfen ab, versuchte, seinen Atem in ruhigen Rhythmus zu bringen und klar zu bekommen, was geschehen war. Die Tasche neben dem Käfig unter dem Fisch, endlich erinnerte er sich. Sein Notizbuch, seine Stifte, seine liebe Wortgesellschaft. Christian stand still im Getümmel, dann setzte er sich in Bewegung.

(Und was ist das? Ein Flugelefant oder ein Seepferdchen?)