Ein blauer Koffer

Ein blauer Koffer reist allein. Irgendwo in einem Regionalzug sitzt er und fährt durchs Rheintal. Genießt er die Reise oder fühlt er sich verloren? Vielleicht hat er ja schon nette andere Koffer kennengelernt und unterhält sich gut. Koffer in Rot, in Schwarz oder gar in Türkis? Andere Stoffkoffer jedenfalls, wahrscheinlich fremdelt er ein bisschen mit denen aus Aluminium. Vielleicht sitzt der blaue Koffer aber auch ruhig und erkundet sein Innenleben. Endlich hat er Zeit dafür. Und das Hin- und Herfahren des Zuges hilft ihm dabei, erst geht es in diese Richtung, dann kommt der Wendepunkt und es geht in jene.

Hallo, Koffer! Zu gerne wüsste ich, wie es dir geht! Hast du schon herausgefunden, welcher Teil deines Innenlebens dir am besten gefällt? Ist es das weiße Hemd? Oder der graue Pullover? Gar ein Rasierapparat oder etwa ein edler Schlafanzug, der mit den Knöpfen blinzelt – ach nein- blinkt? Wolltest du vielleicht ein Abenteuer erleben, lieber Koffer, oder einfach noch einmal jung sein, zumindest im Geiste? Obwohl du schon alt bist und auch ein wenig verschlissen, dein Meeresblau etwas verblasst ist und die graue Paspelierung abgewetzt, erfüllst du doch deine Bestimmung blendend. Die Krampen deiner Reißverschlüsse greifen ineinander wie die Sprachen des Rheintals (vielleicht redet ein roter Koffer ja gerade französisch mit dir? Oder du unterhältst dich in alemannisch oder baseldytsch?) Beweglich bleibst du auch, blauer Koffer, mit deinen Rollen, obwohl es nicht vier sind, sondern zwei. Beweglich ist wichtig, finde ich. Flexibilität ist gefragt in unserer volatilen Welt, das weißt du. Bei aller Standhaftigkeit, die du ja auch hast. Zum guten Glück hast du die, die Standhaftigkeit meine ich. Und die Flexibilität, die natürlich ohnehin. Mitnehmen lässt du dich auch, lieber Koffer, an einem versenk- oder ausziehbaren Griff. Je nachdem, wie man es sieht. Ach schau mal, da kommt es doch sogar auf die Perspektive an. Perspektive ist wichtig, finde ich. Auch dass man sie mal wechselt. Aber natürlich nicht wie ein Hemd. Es sei denn, man wechselt das Hemd mit Bedacht. Bedacht ist immer gut, finde ich. In dieser und in jener Bedeutung. Da fällt mir ein, sprach nicht neulich jemand von „ohne Himmel sind wir unbedacht“? Ich hoffe, lieber Koffer, du schaust nicht nur ins Innenleben, sondern auch aus dem Fenster und siehst einen Himmel! Heute hat er nämlich Bilderbuchfarben, zuerst ein Rosé und dann ein ganz helles, zartes Blau, wie gemalt. So schön.

Genieß mal deine Reise, blauer Koffer, ich wünsche dir nur Gutes dafür! Passt doch, passt zum Neuen Jahr, dass du dich aufgemacht hast!

(Übrigens: der Herr des Koffers ist für Hinweise zu seinem Verbleib dankbar. Also, falls jemand im Rheintal einem blauen Ziehkoffer mit grauen Paspeln begegnet: macht Meldung!)