lautet der Titel des neuen Buchs von Martina Clavadetscher (geb.1.Aug.1979 in Zug/CH), das ich noch nicht gelesen habe, aus dem ich aber mit Genuss die Autorin gestern Abend im Literaturhaus Basel lesen und zu dessen Hintergründen und Werden erzählen hörte, moderiert von Usama Al Shamani als Auftakt zur dreiteiligen Reihe Schreiben und Widerstand. Die Konzeption der Reihe basiert für Al Shamani darauf, dass er Schreiben nicht nur als ästhetische Form, sondern als Haltung ansehe, so dass Schreiben auch einen Widerstand gegen das kollektive Wegsehen erlaube, eine Sichtbarmachung dessen, was ausgelöscht werden soll. Texte könnten auch stützen. Martina Clavadetscher, die auch für verschiedene Theater arbeitete (Hausautorin am Luzerner Theater 2013/14) und das Drehbuch zum 2017 erschienenen Schweizer Fernsehfilm „Die Einzigen“ schrieb, habe sich gleich mit ihrem ebenfalls 2017 erschienenen ersten Roman „Knochenlieder“ in die Literaturlandschaft eingeschrieben. Ihr zweiter Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ gewann 2021 den Schweizer Buchpreis. Dass jedes ihrer Bücher sich inhaltlich und formal sehr vom vorausgegangenen unterscheide, hebt Al Shamani hervor, und auch innerhalb des neuen Romans benutze sie eine Vielfalt von Erzählweisen. Drei Schichten habe er im Roman entdeckt mit jeweils auch einer ganz unterschiedlichen Sprache: 1. den Krimi (Clavadetscher sagt Schein-Krimi), 2. Drachen-/Sagen-Erzählungen in metaphorischer, poetischer Sprache, 3. Abschnitte mit den Figuren Herr Kern und Mutter in harter „Nazi-Sprache“. Von den Figuren „Schibig“ (ein Archivar) und „Rosa“ (die Alte aus dem Wohnwagen) wünscht sich Al Shamani sozusagen eine Fortsetzungsgeschichte und Clavadetscher erzählt lächelnd, dass sie beim Schreiben selbst Freude an diesen Figuren hatte. Die Zuhörerschaft im ausverkauften Literaturhaus kann merken, dass Martina Clavadetscher sich im Gespräch mit Al Shamani wohl und verstanden fühlt, ausführlich, unprätentiös, interessant, zum Nachdenken anregend und auch herzlich lachend antwortet sie auf dessen Fragen. Das Buch zu schreiben, sei wahnsinnig anstrengend gewesen, sie habe auch körperlich reagiert, sei nun froh, dass die Wut und auch Sorge, die sie seit Langem bezüglich des Themas beschäftigte, sich in das Buch verwandelt habe. Mit dem Einstieg in den Roman als Schein-Krimi habe sie endlich die Form gefunden gehabt für ihr Thema, zu dem sie über viele Jahre in ihrem Kopf und in Zeitungen, Archiven, Literatur etc. gesammelt habe. Sie habe sich immer die Frage gestellt, wie man die öffentliche Wahrnehmung schärfen könne, ohne mühsam zu werden. Um mit der Gegenwart, der obersten Schicht klar zu kommen, müsse man die Schichten darunter kennen, wir alle stünden auf diesen (Ge-)Schichten, plattentektonisch.
Sie habe den Schluss des Romans in das Gefäß der Liebe gegossen, sagt Usama Al Shamani, ja, antwortet Martina Clavadetscher, es gehe nicht um Schuld, sondern darum, die Liebe nicht zu vergessen, die Welt zu lieben und besser zu gestalten. James Baldwin (1924-1987) habe einmal gesagt, die Aufgabe des Künstlers sei die eines Lovers.
Viele gehen mit dem eben am Büchertisch erworbenen neuen Buch zum Signieren und zum Austausch von ein paar Worten mit der Schriftstellerin. Ich habe das vorige (sehr besondere) dabei „Vor aller Augen“ und entschuldige mich, Martina Clavadetscher aber freut sich über den alten Bekannten, empfiehlt mir noch die Friederike Mayröcker- Ausstellung im Strauhof Zürich und bekräftigt Ort, Datum und Widmung mit ihrer schwungvollen Unterschrift.
(Martina Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen. C.H.Beck-V. 2025)
(Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. Unionsverlag, Zürich 2022)
(Ausstellung Strauhof Zürich: Friederike Mayröcker – ich denke in langsamen Blitzen; leider nur noch bis zum 07.09.2025)
(zu Usama Al Shamani s. Blogeintrag vom 29.August 2025)
