Blaugrün

Sie steht und schaut aufs Wasser.

Es ist nicht ihr gewohntes Wasser, nicht das, auf das sie immer blickt im September, seit Jahren, genaugenommen seit Jahrzehnten. Sie hat auch nicht den Sand unter den Füßen, von dem sie jedes Korn zu kennen glaubt, das sich unter ihren Fußsohlen und zwischen den Zehen findet. Auch weht ihr nicht jener Wind die Haare ins Gesicht, der Luftmatratzen und Sonnenschirme fliegen lässt, wenn er auffrischt.

Nein, sie steht in einem kleinen Kunstraum, in den sie zufällig geriet, als sie verwinkelten Gassen folgte und über kleine Brücken stieg. Werke aus einem fremden Land füllen den Raum, manche üppig und farbenfroh, andere bedrückend und düster. Nur Wenige verweilen hier, der Eingang ist versteckt, draußen hat eine Spätsommersonne den Regen vertrieben und an den bekannteren Wassern drängen sich Menschen in luftiger Kleidung, mit großen Sonnenbrillen im Gesicht und hübschen Strohhüten auf den Köpfen.

Das Land im Kunstraum ist dreizehn Flugstunden entfernt, es ist kein kleines Land, viele leben dort. Fremdes Land, fremde Menschen. Sie erinnert sich, dort einmal eines dieser Patenkinder gehabt zu haben, sie hat nur Geld gezahlt, nicht den Briefkontakt ermöglicht, keine Zeit, andere Prioritäten.

Jetzt vertieft sie sich in die einfache Rötelzeichnung mit der Skizze einer Menschenschlange, angeführt von einem gebeugt gehenden Mann und einer müden Frau, die ein Kind trägt, ein größeres hält sich an ihr fest, auf dem Rücken schleppt die Frau die wenige Habe. Im Bildvordergrund links stehen zwei weitere Frauen, mit bedecktem Haar und weichen Zügen, die jüngere hat die Lider geschlossen, die Augen der älteren sind wach hinter großen Brillengläsern, mit beiden Händen umfasst die Frau den Kopf eines Jungen, als würde sie ihn segnen. Fremdes Land, nahe Menschen. Würde der Meeresspiegel dort einen Meter steigen, wäre der Lebensraum von Millionen vernichtet.

Im Kunstraum ist es ganz ruhig. Ein Fenster ist geöffnet. Milde Luft berührt die Exponate. Sie wendet den Blick weg von der Zeichnung durch die Gitterstäbe des offenen Fensters. Auf dem Blaugrün des Wassers, das bis ans Fenster reicht, tanzt das Sonnenlicht und die Holzpfähle gegenüber haben gelbe Enden.

(Text vom 24.November 2024, etwas überarbeitet)