Am Allerheiligentag will ich hinauf nach St.Ottilien. Neben dem steinernen Brunnentrog, hinter dem man von der Röhrigasse nach links abbiegen muss, belehrt mich eine Infotafel über den Aufbau von Brunnenstuben und erzählt etwas über die Quellen des Tüllinger Hügels, die bis Ende der 1960er Jahre die Altweiler Haushalte mit Wasser versorgten. Katzgass, Sonnenbrunnen, Tschuppis , Schlipf und Röhrenbrunnen – die Namen der Quellen haben Charakter. Nun bin ich abgebogen und schon auf dem Trampelpfad durch wildes Wiesengelände, heute ist er trocken, aus seitlichem Dornengestrüpp leuchten sattrot Hagebutten, leicht steigt es sich bergan. Ungepflegte Bäume stehen verstreut, an manchen hängen noch Herbstblätter und wehen tibetischen Gebetsfahnen gleich im Wind. Ein Tunnel aus verflochtenen Ästen entlässt mich zu Treppenstufen, die man ins Steilgelände eingelassen hat, langsam nehme ich eine nach der anderen, bis ich St.Ottilien aufragen sehe und den Kirchvorplatz erreiche, dessen Kiesbelag kaum noch auszumachen ist unter einem gelbbraunen Blattteppich. Jemand hat in die Brüstung der Sandsteinmauer Herzen und den Namen Jessica eingeritzt, ich stütze meine Ellenbogen darauf und blicke hinüber zu den Jurahöhen, die Alpgipfel halten sich heute in mildem Dunst verborgen. An einem warmen Spätsommertag stand ich hier mit plumpem Fuß und gegipstem Arm, das kurze Seidenkleid hatte die Farbe von Elfenbein. Ich stand inmitten einer frohen Hochzeitsgesellschaft, die Braut trug Lang und Kobaltblau, so hatte sie im Kirchlein auch ihr Versprechen gegeben unter einem Gemälde, das von Christus nur dessen aus Gewandfalten heraus weit gebreitete Arme zeigt. Heute ist der Kirchenraum still und leer, Sonnenstrahlen nehmen die Farben des Glasfensters mit und pinseln Flecken in Gelb, Türkis und Azurblau an die Wand. Auf dem Altartisch liegt eine alte Bibel aufgeschlagen, es ist das 7.Kapitel des Propheten Hesekiel, ich lese ein paar Sätze der Frakturschrift, dann verlasse ich das Kirchlein, es zieht mich weiter, dorthin, wo ich im Westen die Kuppen der Vogesen sehe und wo mir von der aufgebrochenen Krume eines Feldes schwacher Erdgeruch entgegen weht. Obwohl Mittagszeit ist, hat sich das Nebelband über dem Rhein nicht ganz aufgelöst, hier oben aber wärmt eine kräftige Herbstsonne und neben dem unveränderlich aus seinem Steinmedaillon blickenden Hindenburg hat sich allerlei Volk gesammelt. Ein Vater hat Mühe, den rosa Schmetterlingsdrachen des Töchterleins in die Höhe zu bekommen, laut italienisch parlierend entsteigt eine Großfamilie dem Auto und bereitet sich auf eine passeggiata vor, zwei schlanke Frauen lassen Walking-Stöcke einen sehr raschen Takt schlagen, ein wuschelköpfiger Junge wird vom Hund an der Leine gezogen und stellt seinen dahinschlendernden Eltern die Frage: „was bedeutet das eigentlich in der Menschensprache?“ Die kahl gewordenen Bäume des Obertüllinger Lindenplatzes haben über den noch immer grünen Boden ein großes Schattennetz geworfen, leicht schlüpfe ich durch seine weiten Maschen hinüber auf den Weg, von dem man hinunter ins Wiesental und hinauf zu den Schwarzwaldhöhen sieht. Dann tauche ich in den Wald ein, der licht ist und keinesfalls schwarz, `Hoherweg´ ist ein Holzschild beschriftet und hoch ragen stolze Stämme zu beiden Seiten des breiten Weges, der dem Hügelkamm folgt, weit oben strecken sie einander Blattkronen entgegen und der Himmel darüber leuchtet noch einmal in frischem Blau. Ein Specht klopft laut, Radfahrer passieren in Funktionskleidung und werfen sich von Helm zu Helm englische Worte zu, vor einem Blätterhaufen hockt ein kleines Mädchen und fragt mit staunender Neugier, was das für ein Käfer sei, es betrachtet seinen Fund lange, der Vater aber hat weder Name noch Geduld dafür. Mit einem Mal endet der Wald, die letzten Stämme rahmen den Blick ins Markgräflerland, ich wende mich wieder nach links, vor der Daurhütte brennt ein Feuer und ich nehme seinen Geruch mit und den der hellen Würste, die auf dem Grillrost brutzeln. Der Weg ist nun zweispurig in die sattgrüne Grasnarbe gefurcht und senkt sich langsam einem Dorf entgegen, das noch verborgen hinter der Kuppe liegt, obwohl es doch selbst auf den Hügel geschmiegt ist. Ein wenig verweile ich auf einer Bank, lasse den Blick über die Rheinebene schweifen, dann schaue ich ins mitgeführte Buch und gerade als ich mit spitzem Bleistift schön! neben einen Satz schreibe, setzt sich eine dicke schwarze Fliege auf die Stelle und rastet dort kurz. Ich gehe weiter, hügelabwärts, das Dorf taucht auf, noch liegt der Kirchturm unter mir, bald aber ist er wieder der über mir Ragende, das Gasthaus Ochsen daneben hat Ruhetag, aber seine einfachen Stühle und Tische auf der Sonnenterrasse belassen und so sitzen hier diejenigen, die sich mit dem Genuss der noch einmal auftrumpfenden Sonne begnügen und die sich satt trinken an der Herbstfarbe der Rebreihen, die unter ihnen den Hügel überziehen. „On se répose cinque minutes“ lädt eine ältere Französin die begleitende Freundin mit weißer Schirmkappe ein und als die Kirchturmuhr schlägt, erzählt sie vom schönen Ineinanderklingen der „cloches“ mehrerer Kirchen einer französischen Stadt. Ich habe mich an einen runden Tisch gesetzt ganz vorne am Geländer, schaue in mein Buch oder über es hinweg bis zu den Dreieckstürmen, die sich in der Ferne vor den Jurahöhen aufbauen und bleibe nicht nur fünf Minuten, sondern so lange, bis unvermittelt ein kühler Hauch ans frühe Sinken der Sonne gemahnt. Da trete ich den Rückweg an und vollende die Schleife zwischen den Reben auf halber Höhe des Hügels, ein asiatisches Paar kommt mir entgegen, ganz in schwarz, noch laufen sie der im Westen tief stehenden Sonne entgegen, wir nicken uns zu und grüßen freundlich.
