Ich bin allein unterwegs, steige in den ICE Richtung Köln. Ruhezone hatte ich gewünscht, ich will lesen, ohne von Handygeplapper oder Laptopgetippe im Großraumwagen abgelenkt zu werden. Ich suche den Platz und stelle fest, aufs Familienabteil gebucht zu sein. Soll ich wechseln? Das Abteil ist noch leer, ich bleibe, hole Bleistift und Buch aus der Fronttasche meines schwarzen Trolleys, bevor ich ihn auf die Ablage hieve. Ich richte mich ein, es ist ruhig.
Ich liebe es, Zug zu fahren, ich bin nicht mehr hier und noch nicht dort, das Vorbeigleiten der Landschaft ist wie ein Film, in dem ich bin und doch nicht bin, in den Städten sind die Hinterhöfe nah.
Ich schlage das Buch auf, Benedict Wells „Die Geschichten in uns“, und beginne zu lesen, streiche die ersten Sätze an. Da höre ich ein Schiebegeräusch, die Abteiltür wird geöffnet, eine junge Frau fragt, ob noch frei ist. Ich nicke kurz, ich glaube, ja. Ich denke, wenigstens keine Familie, die junge Frau wird wohl ruhig sein.
Ich schaue auf und betrachte die Jüngere, sie hat dickes, aschblondes Haar und ein offenes Gesicht. Jetzt greift sie in ihre Tasche, es ist kein Handy, das sie herausnimmt, sondern ein Insel-Taschenbuch, sie beginnt zu lesen und hat dabei einen Bleistift in der Hand, mit dem sie ab und an etwas markiert. Ich schaue auf den hellgrünen Buchrücken, dann aus dem Fenster, die Felder haben Stoppeln, es ist Herbst.
„Der Sommer war sehr groß“ – Ich zucke zusammen, die junge Frau hat laut gelesen, ihre Stimme hallt in mir nach.
„Herr: es ist Zeit“, sage ich, plötzlich auch laut. Und dann taucht noch jemand auf, und er kehrt wieder, das Karussell dreht sich – „und dann und wann ein weißer Elefant“.
„Sie lesen Rilke-Gedichte?“ , frage ich die junge Frau, „heutzutage?“ Sie blickt mich lange an und antwortet nicht.
„Ich habe sie mitgenommen nach Rom“, sage ich, „eine ganze Werkausgabe, im Koffer, in einem Nachtzug.“
„Ich weiß“, antwortet sie, „du warst achtzehn und hast in Rottweil noch einmal das Abteilfenster geöffnet und deinen Eltern ein Adieu gewunken.“
(Schreibschule Sent, 12.April 2025)

(Benedict Wells „Die Geschichten in uns – Vom Schreiben und vom Leben“, Diogenes-V. 2024)