Fronleichnamtag – Spaziergang 5

Es zieht mich zum Wasser und da ich kein Meer in der Nähe habe, nehme ich wieder einmal mit dem Rhein vorlieb, der -aus den Alpen kommend -zwar schon das Schwäbische Meer durchquert, es bis zur nördlichen See aber noch weit hat. Mehr als 800 Kilometer schickt er sein Wasser weiter Richtung Norden, bevor er die Arme ausbreitet, um sich mit dem lang erwarteten Meer zu vereinen. Die Lustgartenstrasse lasse ich hinter mir und erreiche den auf deutscher Seite neugestalteten Park neben der Dreiländerbrücke. Breite Stufen säumen das Rheinufer und laden zum Verweilen ein, aus den Rasenflächen erhebt sich alter Baumbestand und sorgt für Schatten und angenehme Temperierung, einige Birken halten ihre Kronen hoch und dem morgenblauen Himmel entgegen, ein leichter Wind kommt auf und weckt im silbernen Glanz der Blätter ein helles Säuseln, als wisperten sie von südlichen Verwandten. „Papa schaukeln, Papa schaukeln“ wiederholt ein blondlockiges Mädchen so lange, bis der Gebetene sich endlich vom Springen auf der im Boden eingelassenen Trampolinmembran löst, das vors Gesicht gehaltene Smartphone sinken lässt und in meerblauen Shorts dem Töchterchen zu anderen Spielgeräten folgt. Ich betrachte die Stelen des Dreylanddichterweges, der hier beginnt und lese übers alltägliche Glück im Wiisedaal, das der 2014 in Basel gestorbene Verleger, Autor und Buchhändler Hans Rudolf Schwabe beschreibt, nicht ohne Hommage an den berühmten Kollegen alemannischer Mundart Johann Peter Hebel : D Lyt sinn glyych wie miir und schwätze wie der Hebel.

Dann überquere ich den Rhein auf den fast 230 Metern Spannweite der Dreiländerbrücke, ihr Vibrieren steigt von den Füßen hinauf bis zu meinen Augen, die sich an die sichernden Stahlseile klammern, wo zerfetzte Europafähnchen dennoch weiter wehen. Auf der anderen Seite empfängt mich der Colmarer Autor Edgar Zeidler mit Elsässerditsch und seinen Gedanken zu Krieg und Frieden zwischen den sich hier begegnenden Ländern: Unter dr Bruck zwiiselt dr Rhi, Geschichtsbuach vo viela Välker….Uff dr Bruck komma zwei Lander langsam anander entgega. Beidi stibbra sich am Glander… Uff da Brucka  iwerem Rhi verkehra d’Manscha in Frieda, dian frindlig mitnander reda. Dr Himmel trinkt a Gläsla Wi.

Das Glas Wein hebe ich mir für später auf, ich will einen schattigen Rastplatz suchen, von dem ich nicht nur die Flusskreuzfahrtschiffe Amalucia und Alisa sehen kann, die einträchtig aneinandergeschmiegt hier liegen, sondern mit dem Vorbeigleiten des Wassers auch das der richtigen Rheinschiffe, vom deutschen Park aus gelang das bereits mit dem Niederländer namens Ensemble und nun, als ich französischen Boden betrete, fährt doch tatsächlich vom Rheinknie kommend die Basilea Richtung Norden, die neulich auf dem Fluss zwischen Bonn und Koblenz den Lauf meines Zuges Richtung Süden begleitete. Das freut mich umso mehr, als ich eine sonnengelbe Lektüre mit mir führe, den originalgetreuen Nachdruck der seltenen 1849er Ausgabe von Bädekers Rheinreise von Basel nach Düsseldorf, den ich einmal geschenkt bekam und in dessen Vorbemerkung es heißt, dass der ganze Inhalt ausschließlich auf eigener Anschauung beruht und daher „stets die warmherzige Beziehung des Autors zu seinen Gegenständen spürbar“ sei, was „unterhaltsame Lektüre“ garantiere. Das glaube ich gleich, zumal der Herausgeber sein Bemühen versichert, „zwischen dem Zuviel und Zuwenig die rechte Mittelstraße zu finden“. 

Ich finde den Ruheplatz auf einer hölzernen Liege im Schatten unter den Nadelzweigen einer Pinus sylvestris, wo eine auffrischende Brise über die bloßen Arme streicht und freie Aussicht gewährt wird auf das heute gemächliche Türkisgrün des Rheinwassers, so dass die Meeresillusion perfekt scheint, wären da nicht die blonden Ähren des hochstehenden Ufergrases und die Höckerschwäne, die ihre Bahnen ziehen.  Meine Lektüre blickt wie ich auf Weil, auf Seite 124 beschreibt sie den Stollen, der für die Bahnstrecke durch den Isteiner Klotz gesprengt werden musste und das Auffächern des Panoramas, wenn der Zug den Stollen verlässt „Unmittelbar beim Austritt aus dem Stollen öffnet sich plötzlich eine herrliche Aussicht auf den Lauf des Rheines und das Elsaß. Weil am Eingang des Wiesentals, 1 St. von Basel wird vorläufig Endpunkt der Bahn sein.“

Den Höckerschwan interessiert das nicht, er wäscht seine Flügel, taucht sie mehrfach tief ins Wasser, erhebt sie dann in die Lüfte, breitet sie weit aus und schüttelt alle Tropfen aus den Federn, die beiden Schwanenküken bleiben lieber etwas entfernt und sind erstaunt, erst als der große Schwan den zuvor hochgetragenen Kopf auch unter Wasser taucht, imitieren sie seine Bewegung. Von hier aus wirken die Stahlseile der Passerelle des Trois Pays als seien sie gespannt für Fadenspiele, denen neulich das Tinguely-Museum eine Ausstellung widmete, die ich leider verpasst habe. Ein kleines weißes Boot nähert sich tuckernd der Brücke, unter dem hellen Sonnenschirm, der dem Boot an Größe nicht nachsteht, ist die Besatzung kaum auszumachen.

Mein Buch befördert mich zurück nach Düsseldorf, das ich kürzlich besuchte und ich lese, dass es den Breidenbacher Hof auch 1849 schon gab, jetzt nicht mehr existent aber ist der „Bahnhof der Düsseldorf-Elberfelder Bahn … unmittelbar neben dem Köln-Mindener“, die Seite 354 verweist für Informationen zu Fahrzeit und Fahrpreisen auf Seite 348. Den ersten Haltplatz Gerresheim fuhr neulich aber eine S-Bahn an und auch an den Halt in Erkrath kann ich mich erinnern, nicht aber an eine dortige Wasserheilanstalt. Über die „uralte Stadt Kaiserwerth“ wird berichtet, dass sie in 20 Minuten von Düsseldorf zu erreichen ist, das gilt durchaus auch für die heutige U79, Erwähnung finden die Stiftungen, „gegründet und geleitet von dem unermüdlich thätigen Pfarrer Fliedner, dessen Wirksamkeit sich auf einen großen Theil des protestantischen Deutschlands ausdehnt“ und mir fällt das Straßenschild ein, das ich sah „Friederike-Fliedner-Straße“, es erinnert an die unermüdlich mit ihrem Mann tätige Krankenschwester, die 1837 die Aufgabe der Vorsteherin im 1836 neu gegründeten Diakonissenhaus in Kaiserswerth übernahm, 1842 aber bei der Geburt ihres elften Kindes starb. 1848 seien es bereits über 100 Schwestern gewesen, die in der „Diakonissenanstalt zur Erziehung evangelischer barmherziger Schwestern“ ausgebildet wurden, meint der Baedeker, und ich schicke von meiner Liege am Rhein wieder wie schon vom Weg am Fluss neben der Ruine der Kaiserpfalz im uralten Städtchen einen inneren Gruß an Schwester R., die vor Jahrzehnten die Casa delle Diaconesse Germaniche di Kaiserswerth in Rom leitete, in der ich für einige Zeit zuhause war.  „In der alten Stiftskirche ruhen die Gebeine des h.Suitbertus, der hier um 710 das Evangelium zuerst verkündete“, lese ich und bin wieder versetzt in die stille Kühle des katholischen Gotteshauses, das ich vor Kurzem das erste Mal betrat.

Ein Schwanenpaar fliegt mit synchronem Flügelschlag über das Wasser und will sich wohl auf dem Wiesentalbach niederlassen, der Wind trägt gurgelnde Lautäußerungen der Beiden herüber, ich lege mein Buch aus der Hand und gehe ein paar Schritte, denn nun muss ich doch hinein in das Wasser und den Fußsohlen Kontakt mit den Rheinkieseln gewähren, ufernah ist der Fluss ruhig und sonnenwarm. Über dem verschwimmenden Blau der Schwarzwaldhöhen beginnen sich die Nachmittagswolken zu türmen, ich gebe meinen Rastplatz auf und entdecke auf dem Rückweg ein Weiler Novum, eine Kölschbar hat an verkehrsreicher Lage eröffnet und erste Gäste sitzen unter der unverkennbaren Silhouette eines Doppelturms, die in Rot den Schriftzug komplettiert. Den Altweiler Kirchturm krönt ein großes Nest, einer der Weißstörche steht in den Himmel gereckt und lässt sein Klappern über die Dächer klingen. Die Gedenktafel für Gustave Fecht, die am 23.April 1828 in Weil am Rhein starb, sieht der Storch nicht, unten an der Kirchenmauer ist sie eingelassen und erinnert daran, dass die Eimeldinger Pfarrerstochter eine gute Bekannte vom Dichter der Alemannischen Gedichte und Verfasser der im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes versammelten Erzählungen und Kalendergeschichten war, Johann Peter Hebel, mit dem sie eine jahrzehntelange Brieffreundschaft verband.

Bonne journée hatte ich der Madame gewünscht, die sich über das Freiwerden der beschatteten Holzliege am Rhein freute und den Gruß um ein Bonne promenade erweitert zurückgab. Ja, kann ich da sagen, die hatte ich, une très bonne promenade.

(Baedekers Rheinreise von Basel nach Düsseldorf. Die bibliophilen Taschenbücher Nr.29, ISBN 3-921846-29-3)