Vor ziemlich genau zwei Jahren: die Beerdigung einer früheren Nachbarin auf dem Friedhof, auf dem sich auch das Elterngrab befindet. Anschließendes Beisammensein im Café des Kurparks im Nachbarort, wo ich oft mit der Großmutter spazieren ging. Der kleine Höhenluftkurort ist eine Herrnhuter Gründung und bis heute durch die Herrnhuter Brüdergemeine geprägt. Tischgespräche mit den sonst geographisch verstreuten Familienmitgliedern der Nachbarin, zu denen die Kindheitsfreundin gehört. Ein Wiedersehen mit der Familie, die fast zwanzig Jahre zuvor das Elternhaus erwarb. Als bereits alle im Aufbruch sind, kommt eine betagte Dame auf mich zu, ich erkenne das Gesicht, ich erinnere den Namen, langjährig war sie Gemeinderätin in unserem Dorf. Sie habe noch immer ein Kleid von mir, das meine Mutter ihr einmal gegeben habe, sagt mir die Dame beim Verabschieden, ein langes weinrotes Samtkleid. Das trifft mich vollkommen unerwartet – ein tiefer, freudiger Schreck – ich hatte nicht gewusst, dass das Kleid noch existiert und nicht gewusst, dass meine Mutter es weitergab. Ich trug das Kleid am Tag meiner Konfirmation oder Einsegnung, wie es in der Methodistenkirche hieß, das war der 26.März 1972, ich war also 13 Jahre alt, ich hatte nicht noch ein Jahr warten wollen. Das Kleid hatte ich selbst ausgesucht, ich wollte kein schwarzes und auch kein kurzes. Außer dem Pastor der Gemeinde durfte mein Großvater, ein Methodistenprediger im Ruhestand, mit die Einsegnung vornehmen, was mir wertvoll war. Den Moment, in dem ich dort kniete und die Hände aufgelegt bekam, erinnere ich genau. Am 1.April 1972 schrieb die 13-Jährige in ihr Tagebuch über eine gewisse Anwesenheit, die sie in sich wahrnahm und die dadurch hervorgerufene Sensation: „ich hab gemeint, ich müsste zerspringen“. Gleich der nächste Satz im Tagebuch klingt allerdings recht profan: „Alle haben gefunden, dass ich eine liebe (und schöne) Konfirmandin war“.
Das lange weinrote Samtkleid habe ich kurz darauf noch einmal getragen, am Abend des Ostersonntages, wie ich im sporadisch geführten Tagebuch notierte: „Am Abend dieses Tages machten wir uns alle schick (ich durfte mein langes Kleid anziehen) und fuhren nach Freiburg in ‚Aida‘. Papa hatte uns allen das zu Ostern geschenkt. Das Theater dort ist sehr groß und schön. Wir waren sehr früh dort und nachdem Papa die Karten geholt hatte, gingen wir zuerst noch ins Theaterrestaurant und tranken was. Wir bekamen Cola, Mama und Papa tranken Sekt. Dann suchten wir unsere Plätze und setzten uns. Das Stück war sagenhaft und die Darsteller sangen wundervoll. Es ist ein sehr trauriges Stück gewesen, aber einfach herrlich. In der Pause tranken wir nochmal was und konnten herrlich die Leute beobachten.“
