Sie hatte keine Ahnung, was die knappe Frage „kann ich helfen?“ nach sich ziehen würde.
Sie saß auf der rechten Seite der mit hellem Leinenstoff bezogenen Couch im schmalen Gang, der die Räume des Museums säumte, und ließ ihren Blick vom Monitor, auf dem ein Künstler über sein Werk sprach, hinübergleiten in die Durchlässigkeit der hohen Fensterfront, die hinter dem Bildschirm das Maigrün der Wiesen und des Hügels hereinließ.
Ein schwarzer Rollator stand vor der Frau, die sich anschickte, die linke Ecke des filigranen Sofas zu verlassen, ihr beleibter Körper hinderte sie daran.
Niemand hilft ihr, also geht es auch hier allein, die Worte kommen aus dem Mund der Frau in der Ecke, ohnehin war sie Leistungssportlerin früher, hat Medaillen gewonnen, den schwierigen Wanderpfad auf Korsika ganz allein bewältigt, aber jetzt geht das nicht mehr, 120 kg wiegt sie und ist Jahrgang 1951, sechs Sprachen spricht sie und der Sohn ist ihr größtes Glück, sie hat ihn erst mit 41 bekommen, aber sie ist allein in der Wohnung, aus der muss sie jetzt raus, erzählt sie der Fensterfront, und die wenig Jüngere von der rechten Seite betrachtet die schütteren weißen Zöpfe, geflochten wie die einer alten Indianerin, und die offenen Enden locken sich bis zu den losen Brüsten unterm schwarzen T-Shirt, sie sitzt wieder fest in der linken Ecke, ein grasgrüner Pullover ist um die breiten Hüften geschlungen und sie hebt den Blick hinter die Fenster hinauf zum Himmel und die schwabbeligen Arme hoch von den Griffen des Rollators, sie hat früher die Vögel gefragt, warum sie nicht Federn haben kann wie sie, die Mutter ist früh gestorben und sie kam woanders hin und jetzt bewegt sie die faltigen Schwingen mit der Ruhe und Anmut eines Raubvogels, sie schaut zu den Wolkengebilden und die Natur draußen an, wie sie es immer getan hat, mit den Blumen gesprochen und im Elsass im Wald geschlafen und am Morgen zieht sie sich die Gräser aus dem weißen Haar mit den Schwingen, die wieder Finger haben, und die französischen Satzfetzen sind akzentfrei und der Sohn ist eine Elfe und auch ein Gnom wie im Mittelalter, und wenn er der Gnom ist, schlägt er die Mutter, die er doch so liebt, und dann ist er die Elfe und entschuldigt sich und nun ist er in der Psychiatrie und sie weint allein in der Wohnung und spricht dort auch laut mit sich, berndeutsch vielleicht oder eine andere der sechs Sprachen, und die wenig Jüngere merkt, dass die Frau die Sprachen so gut flicht wie die Zöpfe, italienische Worte fallen in perfekter Melodie auf den Gang neben die dicken, schwerfälligen Füße. Mit 21 wanderte sie mutterseelenallein durch den Wald von Polen nach Russland, fünfzehn Leben hat sie gehabt, „mindestens“ sagt die Jüngere, und da wendet die Ältere den Blick weg vom Fenster und die wachen hellblauen Augen unter dem schwarzen Lidstrich hin zur Jüngeren und wieder zurück und hinaus in das Grün der Landschaft und fragt, ob die Jüngere auch Kinder habe und sie weiß genau, was wo ist über der Grenze im Nachbarort, und das Leben hat sie vom Vater des Sohnes getrennt, der ist Arzt in St.Petersburg und ihre Mamutschka war ein Modell von Matisse, die Frau mit der Gitarre im blauen Kleid, ja, von Matisse, denn die Mamutschka war eine Gräfin und sie hat blaues Blut, aber das interessiert sie nicht, nur dass die Mamutschka so früh starb und die Schwester zur älteren Halbschwester musste, ob das Restaurant im Park heute auch schon um 18 Uhr schließt, heute ist doch Freitag, vielleicht hat es länger auf und die Jüngere kann doch sicher schauen auf dem Handy, es hat nicht länger auf und das ist schade.
Und dann setzt sich ein junger Finne zwischen die Beiden und er versteht kein Italienisch, obwohl er gestern aus Milano gekommen ist und morgen nach Como fährt, und dann sprechen die Drei ein wenig englisch, mehr können sie nicht, und schauen auf den Monitor, auf dem auch einer englisch spricht, die Untertitel sind aber deutsch, und die Frau bleibt sitzen in der linken Ecke, aber die Jüngere steht auf und schaut noch einmal in den letzten Raum mit Gemälden vom nordischen Wald und über die Farben schieben sich plötzlich die südlichen vom Fenêtre ouverte von Matisse, das hier neulich noch hing.

(„We are poems“ ist eine 2011 geschaffene Installation aus Neon, Plexiglas, lichtdurchlässiger Folie und Aluminium aus einer Schweizer Privatsammlung, ein Werk des 1964 geborenen Schweizer Künstlers Ugo Rondinone, zu dessen zentralen Themen die Wechselbeziehung zwischen Lyrik und Bildender Kunst, die Auseinandersetzung mit räumlichen Aspekten und die Visualisierung von Zeit und Vergänglichkeit gehören; derzeit Fondation Beyeler, Riehen)