Persischer Ehrenpreis – Spaziergang 4

Es zieht mich hinauf zum Ottilienkirchlein und weil das Wetter sich schon dem April zuwendet und neben allerhand Wolken und nicht zu schwachem Wind auch sonnige Abschnitte und einen frühlingsblauen Himmel zulässt, beschließe ich, einen Spaziergang zu machen. Weil ich zuerst aber noch zu einem Briefkasten muss und dieser sich am Fuße des Hügels und nicht hocherhaben befindet, wähle ich einen anderen als den üblichen Weg. Eine Vorgartenpalme wird von der Sonne gefilmt, die Tonspur liefert der Wind, und ich denke einmal mehr, dass nicht viel fehlt und ich bin im Tessin. Das bestätigt mir später eine zweite Palme, die so hoch wie der benachbarte Fahnenmast gewachsen ist und ihre Wedel flattern nun mit der Schweizer Flagge um die Wette. Dem Briefkasten vertraue ich allerlei Bürokratisches an und glaube ihm, dass er um 16 Uhr geleert wird, dann fühle ich mich frei, einen schmalen Pfad zwischen den Gärten hinauf zu steigen und weiß nicht genau, ob ich mich nun auf deutschem oder auf eidgenössischem Boden befinde. Den weißen Schmetterling, der eine Weile vor mir tanzt, interessiert das ohnehin nicht, sonst ist hier niemand, auch nicht im Garten, den ich gerade passiere, da plätschert und gurgelt nur ein Wasser, das ich in einem gefassten Erdloch erahnen kann. Unter die kräftig gelben Strahlen des Löwenzahns duckt sich eine Vielzahl winziger hellblauer Blüten mit gelbweißem Schlund und feinen Streifen in dunklerem Blau, und ich bitte wieder einmal Google Lens um Hilfe, weil ich so wenig weiß und das Netz mich auch unterwegs belehren und meinem Wissensdurst abhelfen kann. Ich bekomme unverzüglich Persischer Ehrenpreis ausgespuckt, die Fotos stimmen mit dem Original überein und ich spare mir die lange botanische Beschreibung, der Name erzählt ja schon viele Geschichten und ehrt die hübschen Blütchen recht angemessen. Auf der nächsten Wiese rechts tummeln sich so viele Gänseblümchen, dass sie wie beschneit aussieht, dann versammelt sich unter breiten Grashalmen eine bunte Schar wilder Primeln, die den umhegten Gärten entkommen sind. Jetzt ist der Pfad zu Ende und ich erreiche den Höhenweg, den ich den meinen nenne und genau in dem Moment, als mir nach einigen Schritten bewusst wird, dass ich seine amtliche Bezeichnung nicht kenne, offenbart mir ein blaues Hausnummernschild, dass er Heissensteinweg heißt. Rechts führt das Brunnstubenwegli wieder nach unten, nein, da will ich nicht hin, zumal dem Schild gegenüber die Reste eines Vogelleichnams liegen, es muss ein schöner Vogel gewesen sein, die langen Federn widersetzen sich mit weiß-braun-schwarzer Zeichnung der Verwesung und strecken sich ihrem angestammten Element entgegen. Ich gehe ein Stück weiter, nehme links den steilen Petrisweg hügelan und entdecke an der nächsten Gartenpforte einen verwitterten Tisch, auf dem verschiedenste Pflanzen in Töpfen stehen, ein laminiertes Schild lädt zum Pflanzenkauf ein, der Kaufbetrag ist frei wählbar und soll Ärzte ohne Grenzen zugutekommen. Ich will ja aber zum Ottilienkirchlein noch weiter hinauf, also beschließe ich, ein anderes Mal dem Angebot zu folgen, zumal die angeschraubte Kasse mir ein freundliches Gesicht zuwendet, obwohl sie nicht zu wenig Rost angesetzt hat. Die Wildtulpen sind auch schon da und halten ihr strahlendes Gelb nicht zurück, dass sie auch Weinberg-Tulpen genannt werden, versteht sich am Hügel von selbst. Ich muss jetzt nach links, gleich die Fahrstraße überqueren, zuvor aber sehe ich noch Bambus neben einer Gartenmauer, die Steinhaufen um ihn herum halten vielleicht sein Wuchern in Schach, die kräftigen Stängel lassen sich aber am Höhenwachstum nicht hindern und der heute deutliche Wind spielt mit den Blättern, so dass es ein wenig klingt wie das Knistern von Seidenpapier. Auf der anderen Seite der Straße empfängt mich das Schild Nr.33 des Weiler Weinweges und berichtet, dass die Große Kreisstadt im Dreiländereck Deutschland/Frankreich/Schweiz zum ersten Mal am 27.Februar 786 in einer Urkunde des Klosters St.Gallen (Schweiz) unter dem Namen „Willa“ erwähnt wurde und also eine römische Siedlung sei, auf dem historischen Weg zwischen Rom, Mainz und Köln – mit allen klimatischen Vorzügen. Das und noch mehr steht geschrieben Weiß auf Burgunderrot. Jetzt wende ich mich nach rechts und bin nun auf dem üblichen Weg, der hier durch wildes Wiesengelände führt, auf dem Obstbäume ihre weißen Blüten zur Schau stellen, und als ich auf den Pfad einbiege, raschelt es in trockenen Haufen braunen Herbstlaubs und ich vermute, dass Eidechsen mein Kommen bemerkt und rasch ihren Sonnenplatz aufgegeben haben. Schließlich erreiche ich die vielen Steinstufen, die zum Kirchenvorplatz führen, gezählt habe ich sie noch nie, aber ich weiß, dass sie Dreiergruppen bilden, also beginnt man mit dem rechten Fuß und endet auch wieder mit diesem, dazwischen hebt man den linken oder man macht das umgekehrt, links, rechts, links. Wählt man auf den Zwischenstücken die Schrittlänge groß genug, kann man in diesem Rhythmus bleiben, wird aber dann aus dem Takt gebracht, weil unvermutet zwischendurch Gruppen von Zweierstufen auftreten. Zum Ende des Anstieges löst sich auch das auf, die Längen der Zwischenstücke variieren und die Stufen können auch Einzelgänger sein. Nun stehe ich auf dem Kirchenvorplatz, ich lehne mich an die Mauer, die ihn abschließt und betrachte das Schattenbild, das den noch kahlen alten Baum auf das Weiß der Kirchenwand doppelt, dann setze ich mich auf eine der drei Holzbänke, auf denen sich vor mir schon Flechten niedergelassen haben, lasse den Blick über Schwarzwald- und Jurahöhen gleiten und grüße hinüber zur Heiligen Chrischona, die nach der Legenda aurea eine Gefährtin der Ursula von Köln war, aber sich bei der Rückkehr des Pilgerzugs aus Rom zusammen mit Margaretha und Odilia geweigert haben soll, das verkündete Martyrium zu erleiden, woraufhin die drei verjagt wurden und sich als Einsiedlerinnen niederließen, was aber nur eine Variante der Legendenbildungen um die drei Jungfrauen ist. Ich ziehe ein schmales Büchlein aus der Tasche, das ich vor wenigen Tagen in der Buchhandlung einer Stadt erworben habe, die weder eine Groß- noch eine Kleinstadt ist, Franz Hohler: 113 einseitige Geschichten, ich schlage es mittendrin auf und die Geschichte beginnt mit dem Satz „Liebe Truurgemeinde, mir näme hüt Abschied vo dere Gummisandale“ , um wenig später zu enden mit „Gott het üs die Chraft gschänkt. Amen“ und da freue ich mich, dass ich nun ausgerechnet in der eidgenössischen Sprache gelandet bin und der Titel der Geschichte ist genau wie das Ottilienkirchlein „protestantisch“.

(Franz Hohler, Hrsg., 113 Einseitige Geschichten, btb Taschenbuch-Sonderausgabe November 2019, S.96 )