I
„Du bist wundervoll, vergiss das nie!“ – der runde Aufkleber nimmt die Hälfte des Spiegelrechtecks ein, groß und schwungvoll oben das „Du bist“ , kleiner, aber mit dem gleichen Schwung unten „vergiss das nie“ , dahinter ein Ausrufungszeichen. Pink leuchtet in der Mitte das „wundervoll“ in großen, unruhigen Druckbuchstaben mit schwarzen Punkten. Buchstaben mit Sommersprossen, denkt die Frau. Sie schaut auf die floralen Ornamente, die die Schrift umranken. Sie fügt ihr Gesicht nicht in das Rund der Vignette, sondern ins freie Feld des Spiegels. Sie lächelt sich zu. Der beschwerliche Weg zur Toilette liegt hinter ihr, sie hatte die Treppe mit Mühe bewältigt und an einer Krücke. Ein antikisiertes Schild mit der Aufschrift „Toilet Women“ hatte sie unten empfangen und die Frau hatte lachen müssen, ein einzelner abstrahierter Damenschuh befand sich über dem Schriftzug, unverkennbar `High Heel`. Die Frau trägt auch nur einen einzelnen Schuh. Mattes Gold, ein zarter Riemen über dem Spann, kein High Heel, nur wenig Absatz. In High Heels kann die Frau nicht gehen, das konnte sie nie und nun erst recht nicht. Den Schuh trägt die Frau links, rechts hat sie einen Elefantenfuß, so will sie ihn bezeichnen. Helles Grau, breite Klettverschlüsse, plumpe Schienen bis zum Knie. Die Frau liebt Elefanten. Jetzt arbeitet sie sich die Treppe wieder hoch. Sie weiß nicht wohin mit der Krücke, bis zum Ellenbogen reicht der weiße Gips, der auch die rechte Hand umschließt. Am Buffet in der Gaststube wählt die Frau die Speisen aus, sie schaut um sich, sie kann den Teller nicht allein zum Tisch tragen.
II
Auf das Fest hatte die Frau sich gefreut, eine Hochzeit, die Braut in langem kobaltblauem Kleid. Die Frau liebt Feste. „La vie est belle“ heißt das Parfum, das sie trägt. Sie steht unter alten Bäumen auf dem feinen Kies des Kirchenvorplatzes, in der Septembersonne schimmert ihr ärmelloses Cocktailkleid in der Farbe von Elfenbein. Alte ruhen sich auf Bänken aus, Junge reden lebhaft miteinander, Jüngste rennen hin und her, auf der Brüstung der Sandsteinmauer sind Namen in ein Herz graviert, Sektgläser stehen darauf. Die Blätter der Bäume bewegen sich kaum, die Frau lehnt die Krücke an die Brüstung, weit unten weiß sie einen grobkörnigen Asphalt, auf dem sie lag und die veränderte Form ihres Handgelenks betrachtete, `Fourchette-Stellung´ hatte sie gedacht. Jetzt hebt sie den Blick und schaut in die Ferne bis zu den Jurahöhen. Sie lächelt.
III
Das warme Nachsommerwetter kommt der Frau entgegen, sie sitzt auf der Terrasse in leichter Kleidung. Solange sie sitzt, legt sie den Elefantenfuß ab, spürt die Luft an der Narbe. Die Frau liest. Es ist ein Buch über Paris. Der Anfang eines Rilke-Gedichts taucht auf, sie kennt es , sie hört die Zeile „und dann und wann ein weißer Elefant“. Warum ist der Elefant weiß? Die Frau liebt Elefanten. Sie fragt sich, seit wann. Die Frau kramt in Erinnerungen. Andere Rilke-Gedichte kommen ihr in den Sinn. Eine ganze Werkausgabe im Koffer in einem Nachtzug. Als erstes aufgestellt auf einem breiten Fensterbrett vor dem grauen Schlagladen, durch dessen Ritzen das römische Licht fiel. Die Frau sitzt auf der Terrasse in der Sonne. Besucher kommen und gehen, Eidechsen, Schmetterlinge, Freundinnen, Freunde, „…und dann und wann ein weißer Elefant“.
IV
Die Frau fährt aus, nein, sie wird gefahren, im Auto und im Rollstuhl eines Toten, entlang des Rheins, auch in die Vogesen. Die Frau liebt den Rhein, das stetige Fließen des Wassers, immer anders, immer gleich. Das Floß auf dem Fluss trägt einen roten Schriftzug „Go Your Own Way“, davor ein Hashtag. Buvetten reihen sich am Ufer, noch nie hat die Frau dort verweilt, etwas getrunken. „Nimm´s leicht“ appelliert das Schild eines Kioskes in schwungvollem Pink. Ohne Ausrufungszeichen. Die Frau liebt die Vogesen, die Höhen mit ihrer Weitsicht, die gewundenen Straßen hinauf durch Wälder, die Täler, die verschlafenen Orte in den Senken. Eine frühere Fahrt fällt ihr ein, strahlend weiß standen Bäume in Blüte um das Geviert eines Platzes. Jetzt ist es Herbst und die Frau spürt jede Bodenunebenheit. „…Und dann und wann ein weißer Elefant“.
V
Die Frau schaut auf eine kleine Plastiktüte, bunte Schmuckstücke glänzen metallisch darin: eine an einem Ende breite, mit vielen Löchern versehene gebogene Platte, eine zweite kleinere Lochplatte in Form eines T , zwölf Gewindeschrauben verschiedener Längen in Gold, Pink und Grün. Elefanten sind bekannt für ihre Gedächtnisleistungen, denkt die Frau, auch an Traumata erinnern sie sich lange. Jetzt sitzt die Frau am Tisch und schaut auf ein Notizbuch. Auf dem Cover springt ein grüner Elefant in die Höhe, um Blattwerk zu erreichen, das vom Querbalken eines großen Buchstabens rankt. Es ist die schwarze Initiale ihres Vornamens. Da ahnt die Frau plötzlich, warum der Elefant weiß ist im Rilke-Gedicht.
VI
Dann und wann geht die Frau jetzt essen, mit einer Freundin. Im Restaurant fällt ihr Blick auf die Tisch-Dekoration und sie muss lachen: ein mattgolden schimmernder Elefant trägt das Teelicht. Die Frau sitzt am Tisch und genießt das Aroma der Speisen, sie bemerkt die Reihung der Flaschen über der Theke und die Ordnung der Fotografien an den Wänden. Sie nimmt das Stimmengewirr wahr und die Hintergrundmusik. Die Frau horcht genauer, sie kennt das Lied, das Cover einer Single taucht auf: Adriano Celentano singt mit rauer Stimme „Una festa sui prati, una bella compagnia, panini, vino, un sacco di risate…“
(Text vom Februar 2023, neu bearbeitet)
