(Text vom 28.Dezember 2024)
Nur einen kurzen Blick habe ich auf Collioure geworfen, länger dafür in Nizza verweilt, in Begleitung eines jungen Mannes, dessen erster Name der eines Psalmdichters ist, der zweite dem nachgebildet, den wir an Weihnachten im „Veni, Veni“ angerufen haben.
In Nizza ist kein Weihnachten, Sommer aber kann es auch nicht sein, sonst säße die Frau nicht im langärmligen Kleid auf dem Balkon und sie würde auch keine langen schwarzen Strümpfe zu ihren schwarzen Pumps tragen. Kalt jedoch ist es auch nicht, denn das Zimmerfenster steht weit offen und die Frau auf dem Balkon hat keine Jacke an und braucht auch keine Decke. Es geht kein Wind, der dunkle Pagenkopf der Frau sitzt fest, die langen Vorhänge zu beiden Seiten des Fensters sind nicht gebauscht, das Meer landet nur mit einer einzigen weißen Gischtwelle an, ansonsten dehnt es sein tiefes Blau ruhig bis zum Horizont, auch bleibt die schwarze Vase mit ein paar roten Blüten ungerührt auf dem Tisch links im Zimmer stehen und die weiße Tischdecke fällt unbewegt fast bis zum Boden. Der Himmel hat keine Wolken, leiht aber sein helles Graublau dem hohen Fensterflügel rechts, links ist der türkisgrüne Schlagladen nach außen gewendet und im oberen Teil verbirgt der helle, durchsichtige Vorhang dessen Ritzen, nicht aber seine Farbe. Ein bisschen Sonnenlicht fällt von links herein, der rechte Vorhang fängt es im oberen, ausgebreiteten Teil ein, so dass er im Weiß der Welle erstrahlt, nach unten wird er von einem schrägen Band gefasst, wie auch der linke.
Saß die Frau eben noch im Stuhl mit der ovalen, gepolsterten Rückenlehne, der hinter dem Tisch vor der Wand steht, und ist sie es, die das an der Wand hängende Gemälde abbildet? Das Kleid jedenfalls hat denselben Schnitt und die gleiche beige Farbe. Oder saß die Frau im Halbrund des Sessels vor dem Tisch? Gut hätte sie sich dort farblich eingefügt. Das Buch, das mit dunklem Rücken nach oben links neben der Vase auf dem Tisch liegt, verrät nicht, ob die Frau von Stuhl oder Sessel aufstand, um den Platz auf dem Balkon einzunehmen. Aber steht nicht der Sessel etwas vom Tisch weg und nach rechts in den Raum geschoben, so dass doch er es ist, auf dem eben noch jemand saß? Vielleicht ja gar nicht die Frau, sondern ein Gegenüber, jemand, der sich nun weiter ins Innere zurückgezogen hat und von erhöhter Position auf die Szenerie schaut? Auf den zartroten diagonal gekachelten Boden, das kleine Beistellmöbel aus dunklem Holz rechts, auf das sanfte Muster der Wände, die jetzt wie entfernt wirkende Frau auf dem Balkon? Jemand in einer Höhe mit dem blauen Horizont, jemand, der nun sieht, dass – obwohl in Nizza rar – der Sand es ist, der den Wänden, dem Sessel, dem Kleid der Frau und dem Balkon die Farbe übertragen hat.
„Das ist wohl dein Thema“ meint mein junger Begleiter, nachdem ich auf meine Lieblingsexponate der Ausstellung hingewiesen habe, die sämtlich -meist offene- Fenster ins Bild rücken. Auf jeden Fall war es ein zentrales Thema von Henri Matisse, wie der Text zu „Grand intérieur, Nice“ (Öl auf Leinwand, Nizza 1919) im Begleitheft weiß: „Das Motiv des offenen Fensters als Schnittstelle zwischen innen und außen hat Matisse immer wieder fasziniert, insbesondere in Zeiten der künstlerischen Krise.“
(Matisse-Einladung zur Reise, Fondation Beyeler noch bis zum 26.Januar 2025; das Bild „Grand intérieur, Nice“, Nizza 1919, hängt sonst in The Art Institute of Chicago)