Matisse 2

(Text vom 11.Dezember 2024)

Endlich! Endlich ist sie in Collioure. Fast hatte sie nicht mehr daran geglaubt. Wie oft hatte sie das Autobahnschild gesehen, schwarze Buchstaben auf weißem Grund, Collioure, da hätte man abfahren müssen, aber nie wurde die Ausfahrt genommen, weder auf der Hinfahrt, auf der das Ziel bald erreicht war, noch auf der Rückfahrt, auf der es noch weit war bis zum Ziel. Und so las sie nur immer wieder das Schild, Jahr um Jahr, mehrmals im Jahr, Collioure, unzählige Male Collioure. Es war ihr immer aufgefallen, sie konnte gar nicht genau sagen, warum. Collioure, der dunkle Klang mit dem klaren, kräftigen Beginn, das weiche Gleiten in der Mitte, das eher offene, aushauchende Ende. Auch auf der Landstraße war man einmal daran vorbei gefahren und sie hatte an den kleinen Hafen gedacht, an die dicken, rundlichen Festungsmauern und an den Felsen, der sich ins Meer vorschob. Nie war sie den Chemin de Fauvisme gegangen und nie in der Brasserie des Templiers eingekehrt, wo Matisse, Derain, Braque, Picasso und andere sich zu einem auf die roten Lederbänke gesellten oder gerade an den Wänden freien Platz suchten für neue Gemälde.

Jetzt aber, jetzt ist sie da! Aus ihrem kühlen Zimmer schaut sie aus dem weit offenen Fenster auf die Reihe der Segelboote, die sanft im Hafen schaukeln. Das flirrende Licht zerlegt die Luft in einzelne Punkte, das Meer schickt einen Hauch von Salz- und Fischgeruch, eine warme Brise erlaubt sich einzutreten und ihre Haut anzufassen. Sie geht näher ans Fenster, will dem Geheimnis der Horizontlinie begegnen und den wenigen Wolken folgen. Sie lehnt sich hinaus, ein Blatt aus den Blumentöpfen berührt ihren Unterarm, es kitzelt ein bißchen. Sie schaut nach rechts und nach links, wo taucht die Wehrkirche auf, wo die alte Ringmauer und wo das Felsinselchen St.Vincent mit der kleinen Kapelle? Ja, später wird sie da und dort gehen, durch Collioure, sie wird sich Zeit lassen und die Farben inhalieren. Erst aber will sie noch ein wenig ruhen in der Kühle des Zimmers, die Fensterflügel schließt sie nicht, es ist schön, im Drinnen die versprengten Partikel des Draußen zu spüren.

(Henri Matisse „La fenêtre ouverte“, Collioure 1905, Öl auf Leinwand; derzeit zu sehen in der Fondation Beyeler, Riehen „Matisse-Einladung zur Reise“, noch bis 26.01.2025; sonst in der National Gallery of Art, Washington D.C.)