Matisse 1

(Text vom 6.Dezember 2024)

Lieber Henri Matisse,

in Ihrem schönen Frankreich herrscht gerade ein großes Durcheinander. Wie ja überall gerade ein großes Durcheinander herrscht, wo man auch hinschaut oder hinhört oder hinliest. Es ist wirklich ganz fürchterlich. Aber das soll uns jetzt hier nicht beschäftigen. Ich wollte Ihnen vielmehr erzählen, dass ich heute zum dritten Mal in der Ausstellung Ihrer Werke war. Diesmal in Begleitung einer Freundin. Und das war nun wieder ein ganz anderes Erleben! Zum Glück war es trotz (oder wegen?) des Tages des Bischofs von Myra relativ ruhig in den Räumen, also so ruhig es halt sein kann, wenn man solch eine Retrospektive Ihres Schaffens dahinzaubert im Dreiländereck. „Da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“ – Monsieur Baudelaire bringt es auf den Punkt und wir haben die ganze Reise gemacht von Saal eins bis Saal neun und sogar im Saal zehn verweilten wir noch und schauten durch die (vom Museum) so genannten Fenster auf die Orte Ihres Schaffens und auch auf Sie selbst, lieber Henri (darf ich Sie so nennen?), sogar in Überlebensgröße sind Sie uns da begegnet und wir haben gesehen, wie Sie mit der Schere zugange waren und wie Sie mit dem langen Zeigestock bestimmt haben, wo und wie genau die ausgeschnittenen Formen platziert werden sollen, damit es eine Komposition ergibt nach Ihrem Kopf und nach Ihrer Herzenslust , „da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“. Sie träumten von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände, (…), eine Erholung für das Gehirn, sagten Sie – und wissen Sie was, ich finde, das ist Ihnen doch schon gelungen, zumindest oft, sehr oft ist Ihnen das gelungen. Und zwar von Anfang an und über die Jahrzehnte, in denen Sie sich weiterentwickelt oder ganz neu erfunden haben. „Da ist nur Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss.“ Und Sie konnten genießen, was Sie gefunden haben, das Licht zum Beispiel, dem Sie gefolgt sind, Sie konnten Ihr Glück nicht fassen, sagten Sie, als Ihnen in Nizza bewusst wurde, dass Sie dieses Licht täglich würden wiedersehen können. Wie schön, lieber Henri, dass Sie sich dieses Glück so bewusst gemacht haben, ich finde so etwas toll, und toll finde ich auch, wie Sie versucht haben, dieses Licht einzufangen, einfach großartig. Vielleicht erzähle ich Ihnen ein andermal mehr zu Collioure und zu „La fenêtre ouverte“ (Collioure,1905), das mag ich nämlich besonders, für heute muss ich schließen, nur eins noch: ich frage mich, ob das Amélie ist, die da so für sich am Klavier sitzt, ganz in Ruhe mit der Musik? Ich nehme mir jetzt mal die Zitrone, die von der Schale gekollert ist, die wird mich erfrischen, danke, lieber Henri, vielleicht bis bald zu „Schönheit und Genuss, Ordnung, Ruhe, Überfluss“,

Ihre ….

(Amélie sitzt auf dem Gemälde: Pianiste et nature morte, Nizza, um 1923/24)

(Refrain aus „L’invitation au voyage“ von Charles Baudelaire, übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff)

(Ausstellung Matisse – Einladung zur Reise noch bis 26.Januar 2025, Fondation Beyeler, Riehen)