„Sieg des Volkes“ bedeutet der Name Nikolaus und an einem 6.Dezember ist er gestorben, der heilige Nikolaus von Myra, so viel steht fest, das Sterbejahr jedoch ist nicht genau bekannt (um 350 n.Chr.), ebenso wenig wie das Geburtsjahr (zwischen 270 und 286 n.Chr.) Viele Legenden ranken sich um sein Wirken und er ist einer der bekanntesten Heiligen sowohl der Ostkirchen als auch der lateinischen Kirche. Einmal war ich da in Myra, dem heutigen Demre (Provinz Antalya, Türkei), wenn auch nur kurz und vor vielen Jahren.
Ich blicke aber nicht nur auf Myra, sondern auch zurück auf die Retraite in Ralligen:

Was ich denn den ganzen Tag mache, fragen mich andere Frauen beim Frühstück, während wir Ralliger Quittengelee auf selbstgebackenes Brot türmen, das wir zuvor mit einer Butter bestrichen, die ihre Bergherkunft nicht leugnen kann. Oh, ich habe zu tun, antworte ich, es gibt so viel zu entdecken – und zeige meinen fotografischen Versuch, die Rosa-Überwältigung des frühen Morgens einzufangen. Der Niesen ist diese Himmel gewohnt, er sitzt unverändert und ruhig und auch sein flüssiges Spiegelbild kümmert ihn nicht, er ist nicht Narziss. Später werde ich denken, dass er mich begleitet und ein Gegenüber bleibt, obgleich ich in Bewegung bin. In leichter Bewegung, denn ich will meinen Radius nur gering erweitern und der Sonne entgegengehen. Der Oberländerweg verspricht, mich ohne Aufs und Abs und dennoch erhaben nach Merligen zu bringen, Poesie mit Seebrise kommentiert zu Recht das Werbeplakat eines Bauvorhabens, Bergwiesen rechts und links wechseln mit verstreuter Bebauung ab, bis diese sich verdichtet und nach zwanzig Minuten der Ort erreicht ist. Den Kirchturm sehe ich noch etwas entfernt vor mir, ich werde ihm erst am nächsten Tag näher kommen, das Panorama vom Kirchenvorplatz aus betrachten, die auf einem Felsensporn aus einheimischen Balmholz-Bruchsteinen erbaute Merliger Kirche betreten und im einfachen Innensaal unter der Holzbalkendecke fast erschrecken im Angesicht zweier türkisgewandeter, steif aufragender Engel in den beiden hohen Stichbogenfenstern der Stirnseite. Heute aber will ich über den Bäreneggweg etwas bergan steigen, um auf den Ralligweg zu gelangen, ich komme am steinernen Oval des Pappelbrunnens vorbei, Laub des namengebenden Baumes beansprucht mit seinem gelben Leuchten fast allen Raum der Brunnenschale, das Wasser hat ein Nachsehen. Der Frauenverein lädt beim Wintermärit alle Familien zum Kasperlitheater ein, was dabei erzählt werden wird, kann ich nur verstehen, indem ich auf die Buchstaben der Ankündigung höre: Kasperlis Abetüür im töife Meer. Inzwischen stehe ich auf einer Brücke und in mir steigt ein Lied auf, das das Kind mit den Eltern sang bei Fahrten durch die Schweiz „Von den Bergen rauscht ein Wasser, rauscht, als wär es kühler Wein, kühler Wein, ja der soll es sein…“, der Stillenbach nämlich ist keineswegs still, sondern tut, was er kann an Gurgeln, Schäumen und Rauschen, dabei muss man ihn erst einmal ein wenig suchen unter Gestrüpp und Bewuchs, erst weiter unten, nachdem er ein paar Felsstufen heruntergestürzt ist und sich dem See zuwendet, zeigt er offen sein Gesicht. Bevor ich durch eine fast hohle Gasse in ein Waldstück einbiege, bewundere ich links Renovierungsarbeiten an einem Anwesen, Erdgeruch weht mir vom Aushub entgegen, das Haus mindestens eine Villa, ah, da steht es ja auch, es ist ein Schlösschen: Châtel Claire. Es geht dem Mittag entgegen und selbst im Wald ist es nicht kühl, kräftige Herbstsonne erreicht entlang kahl gewordener Stämme auch die Bodenschichten, auf kleinen Felsen bekräftigen Moose ihr Grün und melden meiner Hand weiche Wärme, ein Wort taucht auf von irgendwo: Martinisommer. „Mis Träumli“ heißt das Chalet rechts am Berghang nach dem Waldstück, hier führen links die Stufen hinunter, die mich zurück auf den Oberländerweg bringen, nicht harte weiße Bälle springen über die alte Tischtennisplatte, die ich passiere, schrumplige dunkel gewordene Äpfel ruhen sich auf ihr aus. Vor der letzten Stufe halte ich erstaunt inne – nein, es ist kein Herbstblatt, das da vor mir flattert, es ist ein Schmetterling, er setzt sich auf die Schottersteine zu Füßen der Treppe, breitet weit die Flügel und bleibt so, er sammelt die Sonne wie ich. Dann bewegt er sich etwas vorwärts, ja tatsächlich, er geht ein paar Schritte – habe ich jemals schon einen Schmetterling eine solche Wegstrecke gehen sehen? Schließlich erhebt sich der Admiral wieder und ich schaue zu, dass ich meinen Rundgang vollende, denn nicht mehr lang und die Glocke wird rufen zum Mittagsgebet unter hohem Dach, ich werde auf das Drahtkreuz schauen, das ins Rund der bleigefassten Glasscheibe eingelassen ist, die über dem Altar schwebt und Durchblick gewährt, und dann wird die Küche die Zusammengekommenen verwöhnen mit einem Herbstmahl, Hirschgulasch, selbstgemachte Spätzle und nussige Maronen gesellen sich zum Blaukraut aus dem Gärtchen, so dass ich frage und mir gleich selbst die Antwort gebe: ist heute ein Festtag? Ja – heute ist ein festlicher Tag!

(Fortsetzung folgt)
