Tag 3 im Dezember

schenkt mir unverhofft ein paar Stunden und ich mache weiter mit dem Rückblick auf die Retraite:

Nach der Mittagsmahlzeit steige ich nicht hinauf zum Bauernhaus, sondern nehme einen gekiesten Weg mit mittiger Grasnarbe hinunter Richtung See, Spaziergänger kommen mir entgegen. Beim Überqueren der Uferstraße, die Thun mit Interlaken verbindet, muss ich ein wenig Acht geben. Vor mir erhebt sich ein Fahnenmast, als wolle er der hohen Palme zur Seite stehen, neben deren Stamm er aufragt. Sein langes blauweißes Banner bekräftigt den südlichen Charakter des Ortes und auch die Großbuchstaben wollen nicht horizontal bleiben, sondern wachsen in die Höhe, ich sehe sie zudem von hinten, dennoch deklamieren sie unmissverständlich „Palmendorf“ , und die kleinen Geschwister der großen Palme fühlen schon künftige Höhe und strecken ihre Wedel himmelwärts. Seidige Pampasgrasrispen präsentieren im Mittagslicht ihre Konturen, schaue ich über die Straße zurück, so haben sie dort ein Gegenüber, das sein flauschiges Cremeweiß über einer Bruchsteinmauer besonnen lässt. Nun habe ich das zum Gutsgelände gehörende Seegrundstück erreicht, im Gärtchen warten Salat und Blaukraut auf die Ernte, zwei Gießkannen stehen parat und zeigen mit ihren Tüllen auf schmale Holzpflöcke, die Mikadostäben gleich auf die Erdkrume geworfen sind. Unter einem Nadelbaum führen fünf bemooste Steinstufen zu einem sanften Einstieg in den See, ich lasse jedoch den Nadelbaum nur meinen rechten Arm streifen und gehe auf noch sattgrünem Gras zu einer Bank, die parallel zum Seeufer steht, das hier mit einer Mauer befestigt ist. Es ist warm geworden, die Jacke kann ich ablegen und mein Gesicht dem Niesen und der Sonne entgegenhalten, wenn ich es nicht über die Lektüre beuge oder auf den See schaue, wo gerade ein Entenpaar ohne Hast vorüberschwimmt, Herbstlaub in friedlichen Wellen schaukelt und eine Segeljolle an der Boie schläft. Ich lese in Schreiben auf Reisen. Wanderungen, kleine Fluchten und große Fahrten – Aufzeichnungen von unterwegs  und in Fließendes Land. Geschichten vom Schreiben und Reisen, beide Lektüren sind mir bereits bekannt, aber ich will sie wiederholen. Auf dem Cover von Fließendes Land liegt ein Holzboot im Wasser und als ich aufschaue, dümpelt sein Zwilling direkt in meiner Blickachse auf dem See. Ich habe nicht mitbekommen, wie das Boot dahin geraten ist – sitzt jemand darinnen?  –  im gleißenden Gegenlicht kann ich es nicht erkennen. Ich lese weiter. Plötzlich höre ich das Klatschen von Rudern, das Boot kommt näher und näher, schließlich fährt es links neben mir ein ins Bootshaus, das nach drei Seiten offen ist. Der Ruderer enthebt das Boot mit einem Seilzug dem Wasser und hievt es bis unters Dach. Hinter dem Bootshaus grenzt eine mit dunklem Efeugrün dicht bewachsene Mauer die Uferruhe von den Geräuschen der Straße ab, und ich sehe, dass außer mir noch jemand froh um sie ist: Sonne und See spielen miteinander und streamen live ihren bewegten Film auf die lebendige Leinwand. Kaum kann ich die Augen abwenden, so hell und heiter ist die Geschichte. Dann aber verlasse ich meinen Sitzplatz, nehme den Durchgang zwischen Mauer und Bootshaus, um die Fortsetzung des Seegrundstücks zu erkunden, ein kleiner rechteckiger Gartentisch hat Astbruch aufgefangen, drei zierliche Bänke mit metallenem Fußgestell schauen vereint auf den See und hinüber zum Niesen, genau um 15 Uhr setzt sich die Sonne auf seine Pyramidenspitze und auch sein flüssiges Abbild empfängt den Sonnengast. Unter einer Platane breitet sich braun und rund ein Teppich aus Herbstlaub aus, es ist so trocken, dass es laut knistert, als ich es durchschreite. In der Feuerschale leuchten beschriftete Papierschnipsel auf verkohltem Holz, sie sind so winzig, dass ich ihre Sprache nicht erkennen kann, aber Deutsch ist es nicht. Ein einzelner Zigarettenstummel sucht ihre Gesellschaft. Niemand ist hier, der Ruderer längst gegangen, ich laufe auf den Holzsteg, der von der Ufermauer ins Wasser ragt, zwischen seinen sechs Dalben wird am nächsten Tag ein Mann auf einem Stuhl sitzen und lesen. Ich kehre zu meiner Bank zurück und setze meine Lektüre fort, Schreiben im Kloster heißt eines der Kapitel in Fließendes Land. Ich bleibe, bis eine frischer werdende Luft ans frühe Einbrechen des Abends gemahnt. Auf 18 Uhr wird die Glocke rufen hinauf in die hohe Kapelle, schlichte Gesänge werden Worte begleiten, bevor sich Gäste und Brüder ein halbe Stunde später zur Abendmahlzeit zusammenfinden, bei der Kürbissuppe wärmt, das Gärtchen für Salat sorgt und Bergkäse seine Würze kräftig oder mild variiert.

(Angelika Overath: Fließendes Land. Geschichten vom Schreiben und Reisen. Luchterhand-V.2012)

(Hanns-Josef Ortheil: Schreiben auf Reisen. Duden-V. 2012, Nachdruck 2017.Lektorat: Imma Klemm)

(Fortsetzung folgt)