Lange schon bin ich nicht mehr hinaufgestiegen nach St.Ottilien. Das hatte Gründe, der Fuß wollte nicht gerne unebenes Gelände betreten. Jetzt aber mag er wieder und nach dem Sturmtag erinnert der Himmel sich seiner Durchlässigkeit, gewährt weißgebleichten Wolken ein blaue Leinwand und mir die Freude, ihm entgegen zu gehen. In der Röhrigasse gibt es eine neue Quadermauer, noch sind die hellen Steine jungfräulich, nur ganz am Rand schaffen es dornige Ranken schon mit einer grünen Umgarnung. Dorngebüschbeeren, althochdeutsch bramberi, Brombeeren also halten ungestüm ihr Rot, das nicht mehr reifen will, in die Höhe, während die Hagebutten das ihre zwischen ein Braun der Zweige betten, die der Herbststurm zu Boden gerissen hat. Überhaupt hat der Herbst den Hügel fest im Griff, wo man auch hinschaut, bedecken Variationen des Herbstlaubs den Boden, während die Obstbäume noch etwas erstaunt ihre kahlen Äste ausstrecken. Gemächlich steige ich hügelan, rechts stecken zwei Gießkannen aus Zink ihre Tüllen wie Rüssel in den Blatteppich, der sich neben altem Mauerwerk einer Gartenlaube ausbreitet. Ich habe die Treppe hinauf zum Kirchenvorplatz erreicht, das undurchdringliche Buschwerk zu beiden Seiten bildet noch einen grünen Tunnel, ab und an illuminiert die Herbstsonne einzelne Blätter, die ob der geschenkten Aufmerksamkeit gleich frühlingshaft strahlen. Und wieder sehe ich eine Neuerung, an der roten Sandsteinmauer hat man eine bronzene Raute befestigt, wohl ein aufmunternder Rahmen für Langzeitwanderer: Westweg – Ziel in Sicht, Durchblicke erlauben auch die Buchstaben. Auf der Kirchenwand gegenüber schreibt sich mit sicheren Konturen der große Lindenbaum ein, viele seiner Blätter hat er noch nicht hergegeben, er möchte ihr goldenes Leuchten noch ein wenig an sich tragen.
Mir hänn jetzt zwei Vaterunser gbettet, eins für uns und eins für Sie, sagt der ältere Mann, als er mit seiner Begleiterin aus der Kirchentür auf den Kies des Vorplatzes tritt, die Beiden hatten mich auf der Treppe überholt, während ich pausierte und fotografierte. Das ist schön, bedanke ich mich, aber ich bete selbst auch noch eines, wenn es gestattet ist. Verdutzt hält der ältere Herr inne, er weiß nicht so recht, was er antworten soll, die Frau geht schon einmal zwei Schritte weiter, schenkt mir aber ein Lächeln, sie hatten wohl gedacht, dass ich das Kirchlein nicht betrete. Das aber tue ich und sehe, dass das Herbstlaub nicht vor der Tür geblieben ist, sondern im Innern den Gang eingenommen hat, aber auf eine Weise, als hätte ein Kind in festlichem Kleidchen vor einem Brautpaar Blüten auf den roten Teppich gestreut. Ich habe das Kircheninnere für mich alleine, niemand hat sich auf den Sitzpolstern der Stühle niedergelassen, kurz setze ich mich, dann gehe ich vor in den Altarraum, ich muss nach den drei Jungfrauen im Sakramentsschrein sehen, da sind sie ja, geschützt hinter einer Glasscheibe. Auf dem Altartisch liegt wie immer die Bibel mit der alten Frakturschrift aufgeschlagen, diesmal beim längsten Psalm, dem mit der Nummer 119, ich lese die ersten Verse der Seite, es sind die Verse 103 bis 105: „Dein Wort ist meinem Mund süßer denn Honig. Dein Wort macht mich klug; darum hasse ich alle falsche Wege. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.“ Ich traue mich, vorsichtig die Seiten zu wenden, um zu schauen, von wann die Bibelausgabe stammt, eine Lutherbibel ist es, Stereotyp-Ausgabe der Preußischen Haupt-Bibelgesellschaft, Berlin 1899, und Martin Luther ist abgebildet in einem Talar, breitbeinig, mächtig und mit entschlossenem Gesicht steht er da, das Bibelbuch fest in beiden Händen. Ich schlage wieder die Seite 618 auf, in früheren Zeiten hat dort jemand ganz oben etwas notiert, das sind.. und Mittag – Abend kann ich aus der verblassten Tintenschrift entziffern.
Dann verlasse ich St.Ottilien, setze aber meinen Spaziergang fort, noch ist es hell und mein Weg führt Richtung Westen. Auf der großen Wiesenfläche neben dem Obertüllinger Lindenplatz nutzen Einige die verbliebenen Böen und lassen bunte Drachen steigen, eine Eiche zu meiner Linken will sich am Spiel beteiligen und überlässt ihre gelappten Blätter dem Wind. Der Grasnarbenweg bleibt zunächst noch auf der Höhe und der Blick gleitet weit über die Rheinebene zum dunklen Blau der Vogesen am Horizont, dann beginnt der Pfad sich zu senken und ich folge ihm, vorbei an blond gewordenen Reben, die ordentlich ihre Reihen halten. Hängt da rechts am Baum eine Tierhaut? Ich trete näher, nein, jemand hat aus Totholzfindlingen eigenwillige Mobiles kreiert und im Wildwuchsdickicht platziert. Und dort leuchten Beeren in kräftigem Rot, wie kleine Spielzeugäpfel geformt, es sind die Früchte des eingriffeligen Weißdorns. Ich kehre auf den Pfad zurück, hebe aber noch einmal den Blick hinauf zu den dicken Mistelnestern, die die oberen Äste eines kahlen Baumes gekapert haben, über ihnen schwimmen die Wolken im blauen Himmelsbassin.
Nun habe ich wieder befestigtere Wege des Hügels erreicht, muss mich nach Osten wenden und begegne prompt denen, die ihre Hunde springen lassen, manchen springen die Lieblinge auch davon und werden mit Geschrei bedacht, auf das sie nicht hören, ich aber soll hören und Glauben schenken, dass die Lieblinge nichts machen, nur gerade außer Rand und Band sind, obwohl sie Arthrose haben und schon viel zu lange rennen. Hm, Bewegungsdrang, traue ich mich zu sagen und bin dann froh, dass meine Bewegung eine andere Richtung nimmt als die der Lieblinge und ihrer Besitzer. Gleich habe ich meine große Schlaufe beendet und bin wieder im Gewann Sänger angekommen, da entdecke ich links im heiteren Gelb des Reblaubs dunkle Dolden, es sind Trauben, die man für Eiswein hat hängen lassen.

