Gespräch mit einer Kapelle

I

Ich besuche Dich, Kapelle, und schaue, was Du machst.

Stehst Du weiter so still auf Deinem hohen Platz und verbirgst Dein Inneres ?

Oder gewährst Du dem, der sich zu nähern wagt, Einblick durch das Gitter ?

Du stehst ganz für Dich, als benötigst Du niemanden,

außer den Bäumen, die sich um Dich scharen, als gehörten sie zu Dir.

Und die sich zu Dir neigen und Dich mit ihrem Blattwerk liebkosen.

Das Gras hat heute einen Teppich vor Dich gebreitet,

grün und weich, noch feucht von der Nacht.

Die Baumgesellen weisen dem Besucher den Weg,

sie leiten ihn zu Dir, das lässt Du zu.

Die roten Pfosten hast Du mit einem Kreuz geschmückt,

gelbes Stroh von den Feldern, denke ich, aber Du belehrst mich

und zeigst mir, es ist gewirkt aus beblätterten Zweigen.

Ich trete an Deine Seite und da Du mich nicht abweist, lehne ich mich an

und spüre die Wärme des Tages, die das dunkle Fachwerk mir weiterreicht,

während Dein Wandweiß noch die Kühle der Nacht bewahrt.

Die Pflastersteine hast Du wie eine Krause um Dich gelegt,

ich folge ihren Faltungen und schaue hinauf zum Kruzifix,

wo der Christus voller Harm keine Kraft mehr hat,

den Blick zu heben ins Sommergrün der Landschaft.

Ich aber tue das, ich trete vor ans rostrote Geländer,

um das sich kräftige Pflanzen ranken,

ich sende einen Gruß in die Weite des Himmels

und zu den Wölbungen der Höhen.

Dann verlasse ich Dich wieder, Kapelle,

und danke Dir,

dass Du Deine Stille mit mir geteilt hast.

II

Da bist du ja wieder, Kapelle!

Das Morgenlicht begrüßt Dich und gibt Dir eine Gloriole.

Die Bäume haben kein Laub und ich bin fast geblendet.

Du aber stehst frei und findest, dass der Lichtkranz Dir gut steht.

Stämme und Äste der Baumgesellen strecken ihre Schatten lang

und zeichnen so den Weg zu Dir.

Ihr Blattwerk haben sie schon dem Boden geschenkt,

einen dicken Teppich gewoben, in dem der Morgenregen versinkt.

Wie Kristallschmuck glitzern die beiden Laternen,

das weiße Spitzengeflecht eines Spinnennetzes ziert das Türgitter,

ein einzelnes Herbstblatt hat sich darin verfangen

und stimmt sich auf den roten Ton der Tür ein.

Heute bist Du offenherzig, Kapelle,

und lässt einen Blick in Dein Inneres zu,

ich schaue, wie das Morgenlicht die Holzbänke streichelt

und den Rahmen des Altarbilds golden zum Leuchten bringt.

Dann trete ich zur Seite, folge den Pflastersteinen, die Deinen Grundriss begleiten,

bis ich an Deiner Rückwand stehe, die das Kruzifix trägt.

Du beschirmst den Christus mit dem Dunkel eines Holzdachs,

Du hast es dem Fachwerk entlehnt.

Ich schaue hinauf zum Turm, den Du in den Himmel schickst,

die Schieferplatten schmiegen sich übereinander und gewähren Schutz.

Das Rot der Tür hat einen hölzernen Gruß in die Fensteröffnungen gesandt

und Du, Kapelle, atmest ein durch ein gesägtes Herz und aus durch schräge Kiemen.

Du willst dem Himmel noch näher sein, eine Kreuzrosette krönt geschmiedet den Turm .

Pfeile durchbohren sie wie den heiligen Sebastian.

Im Morgenlicht sind sie in Blitze gewandelt.

Ein großer Vogel lässt sich auf der obersten Spitze nieder

und ich sage Adieu, Kapelle,

bleibe standhaft, ich sehe Dich wieder!

(Texte vom August 2023 und Januar 2024, überarbeitet)