Tag 13 im Dezember

Am Tag der Hl. Lucia von Syrakus (um 283 n.Chr. in Syrakus, Sizilien geboren und dort 304 n.Chr. den Märtyrertod gestorben) lade ich zum morgigen Konzert des Motettenchores in der Evangelischen Kirche Steinen-Hofen ein: „Hört der Engel helle Lieder“. Wir werden diese aus Frankreich stammende Weise doch auch intonieren. Eröffnen wird das Programm der Satz Nun komm, der Heiden Heiland, Lucas Osiander der Ältere (1534-1604), Pfarrer der evang. Landeskirche in Württemberg und in der Stuttgarter Stiftskirche begraben, hat ihn komponiert. Es folgen Veni, Veni Emmanuel von Thomas Helmore (1811-1890) und viele verschiedene weitere, darunter das schwedische  Jul, jul, strålande jul und Joy to the World von Georg Friedrich Händel (1685-1759), aus dessen Harfenkonzert in B, Op.4 Nr.6 auch Sätze erklingen werden. Beschließen wird das Programm Es ist ein Ros entsprungen von Michael Praetorius (1571-1621) mit den in anderer Dramaturgie erscheinenden Strophen Lob, Ehr sei Gott dem Vater, dem Sohn und heilgen Geist… und So singen wir all Amen, das heißt: nun wird es wahr…(Köln 1599).

Die heilige Lucia war – wie ihr Name schon sagt –  eine Lichtbringerin, in Schweden und anderen nordischen Ländern gehört das Luciafest am 13.Dezember fest zum vorweihnachtlichen Brauchtum. Mädchen tragen Kränze mit Kerzen auf den Köpfen, wie Lucia es machte, um sich in den Katakomben von Syrakus den Weg zu erleuchten und dabei ihre Hände frei zu haben, mit denen sie nachts die dort versammelten Christen mit Lebensmitteln versorgte. Eine andere Legende erzählt, dass Lucia ihrem Verlobten ihre ausgerissenen Augen schickte, worauf sie von der Gottesmutter noch schönere Augen erhielt. Ikonografisch sind deswegen die Augen auf einer Schale auch ein Attribut der Hl. Lucia.

Tag 12 im Dezember

Ich fahre fort mit dem Rückblick auf die Retraite und bringe ihn zum Abschluss :

Schon vermisse ich adventlichen Duft und den Schein bronzener Kronleuchter aus dem Schloss-Saal, die Kreativ-Gruppe, die Musik und floristisches Material der Umgebung nicht nur zu Kränzen gebunden hat, ist abgereist, kaum dass ihre Hände vom würzig-klebrigen Baumharz befreit waren. Der Saal liegt dunkel und von Residuen gereinigt, nur durch wenige Schießscharten-Fenster fällt Licht auf die Ziegelfarbe des Fliesenbodens, ein mittiger dicker Pfosten stützt wie eh und je die schwere Holzbalkendecke. Ich mache mich auf den Weg nach Merligen, streife zuerst auf dem Gutsgelände die blaue Scheinzypresse und reibe erneut ihre Nadeln zwischen den Fingern, der kräftige Geruch ist ein stärkendes Inhalat. Die Magnolie etwas weiter oben erwartet bereits den Frühling, vorsichtig wagt sie, der Sonne winzige zartflaumige Spitzen entgegenzuhalten. Ich nehme den Weg heute in umgekehrter Richtung, steige zuerst die Treppe zu „Mis Träumli“ hinauf, um zum Waldstück zu gelangen, leichter Wind mischt sich in die Schwüle. Plötzlich ein Geräusch von prasselndem Regen oder sind es Hagelkörner? Ein sanfter Schmerz schneidet die rechte Wange, ich hebe den Blick: es regnet trockene Birkenblätter als wären es Sterntaler aus dem Märchen der Brüder Grimm. Nur wenige Menschen begegnen mir, meist führen sie ihre Hunde aus. Am Châtel Claire, das nun rechts liegt, wird weiter gearbeitet, links verwehren vor einem Garagentor eine große Astgabel und fünfzehn in Reihe gelegte, runde weiße Steine die Nutzung der Fläche als Parkplatz. Ein Kegel mürbe gewordener Laub- und Baumnadelreste gesellt sich zum Ensemble, das sich mit seinen Schatten unterhält. Ich erweitere meinen Gang um den Kirchweg und blicke schließlich unter den Bögen, die die Kirche zum Vorplatz öffnen, hinüber zum Niesen, er bleibt mir treu. Nachmittags, nachdem ich Fisch im Backteig, Currykartoffeln, Möhrengemüse und zum Dessert Beerenquark gegessen habe, werde ich wieder zuschauen, wie genau um 15 Uhr die Sonne auf der Niesenspitze Platz nimmt, ich werde in meine Lektüren blicken oder aufs Wasser des Sees, das nur leise gegen die Ufermauer murmelt, und bewundern, wie sich das zarte Rosa einer Gartenmyrtenaster bemüht, sein großes Berg-Gegenüber zu grüßen. Abends wird die Komplet unterm Zelt der Dachkapelle den Tag ausklingen lassen, davor blättere ich in Bänden aus den mit Schnitzereien verzierten Holzregalen der Bibliothek, ein Herr kommt mit eigener Lektüre und nimmt im Sessel neben dem hölzernen Schreibtisch Platz – ist es derselbe, der nachmittags zwischen den Dalben des Bootstegs saß? Es gibt neue Hausgäste, Schwester M. aus kleiner Kommunität in Südfrankreich, die sich die Regel von Taizé gegeben hat, besucht Ralligen auf dem Weg nach Italien, dass sie aus Schweden stammt, erfahre ich am kommenden Morgen. Eine ganze Jugendgruppe ist angereist, der junge Student der Wirtschaftswissenschaften gehört nicht dazu, er besorgt Schwester M. noch einen Stuhl an unserem Frühstückstisch, gebürtig ist er aus Ägypten, wo seine Familie zu einer absoluten Minderheit gehört- nicht koptische, sondern protestantische Christen. Ich bezahle meinen Aufenthalt bei Bruder T. und denke an den gelben Zettel, der im frühen Tagebuch liegt und verkündet, dass die Christusträger in die Tonhalle Villingen kommen vom 19.bis 24.März 1972 mit Themen wie Überentwickelte-Unterentwickelte-Verwickelte oder Hiroshima-Himmel-Gott, Pop-Peace u. Puritaner, Traum-Trug u. Traurigkeit –  und auf dessen Rückseite die 13-Jährige ein Anschreiben entworfen hat: „Liebe Christusträger, fünf von Euch kenne ich ja nun seit der Woche in V. persönlich. Ich war jeden Abend in der Tonhalle und habe Euch sehr liebgewonnen. Ich finde, Ihr seid sehr überzeugend und sehr glaubwürdig. Ihr seid so fröhlich und doch so ernst. Das gefällt mir sehr. Dieses Geld habe ich zur Konfirmation bekommen und ich glaube, Ihr könnt es viel besser verwenden als ich. Ganz herzliche Grüße, Eure F.S.“ Der letzte Ralliger Morgen sonnt sich im Tessiner Anklang und so setze ich mich, nachdem ich meine Kajüte verlassen habe, noch eine ganze Weile zu den Palmen auf die südliche Terrasse, bevor ich reiche Spreu des Herbstlaubs vom Autodach fege und den gastlichen Ort verlasse. Mein Häuschen sehe ich nicht mehr, auf seiner Außenhaut heben sich mit erneuertem Weiß und farblich abgesetzten Initialen die Frakturbuchstaben der alten Hausspruchdichtung vom Dunkel des Holzbalkens ab: Ein fröhlich Herz, ein friedlich Haus, machen das Glück des Lebens aus!

Tag 11 im Dezember

Liebe Frau A. Ich rieche es schon, Sie haben mal wieder gekocht. Verraten Sie uns, was Sie zusammengewürfelt haben? – Warum nicht, lieber Herr – wie war gleich nochmal Ihr Name? – Den verrate ich nicht, entschuldigen Sie bitte, der bleibt mein Geheimnis. – Na gut, es geht auch so, lieber Herr Spürnase, also das müssen Sie jetzt schon zulassen, dass ich Ihnen diesen Namen verleihe. In meinem Sprachgebrauch bedeutet er übrigens eine Auszeichnung. – Okay, okay- huch, diese Anglizismen- aber jetzt endlich raus mit der Sprache, was haben Sie denn nun gekocht? – Es ist etwas Vegetarisches, allerdings nicht Veganes, also das geht dann doch zu weit, immerhin ist mensch eigentlich ein Omnivore. – Herrje, Sie spannen mich aber auf die Folter. –  Na ja, mein Lieber,  vielleicht muss das so sein, zuerst die Qual und dann das Vergnügen oder, anders gesagt, der Käse kommt vor dem Dessert. Obwohl, der Vergleich hinkt gewaltig. – Warum das? – Na, weil ich Käse liebe! Es hat ihn auch auf mein Gericht geregnet. – Es hat Käse geregnet? –  Ja, giusto, es regnete weißen Käse, nicht Ricotta, aber Feta. – Soso, und auf was hat es geregnet, wenn man fragen darf? – Sie dürfen, lieber Herr Spürnase, ich erlaube Ihnen fast alles. – Das ist sehr freundlich, liebe Frau A., aber himmelwelt, warum sagen Sie nicht einfach, was Sie da in die Pfanne geschmissen haben? – Bitte, nun werden Sie nicht ungeduldig, ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, dass ich nicht schmeiße, allenfalls streue. Und schließlich schaue ich auch nicht nur in die Töpfe, sondern hänge im Kochdunst flüchtigen Fantastereien nach. – Was machen Sie??? – Flüchtigen Fantastereien nachhängen, wussten Sie das nicht? – Ach doch, doch, ich erinnere mich dunkel. Ich finde es nur schade, dass die Fantastereien flüchtig sind, Sie sollten sie festhalten. – Ich soll sie festhalten? D’accordo, Herr Spürnase, ich denke darüber nach. Aber jetzt zurück zur Spreu, äh zum Streuen. Es hat mir ein bisschen Grün gefehlt, deshalb hab‘ ich geschnipselte Schnittlauchröllchen auf den Schnee gestreut. – Auf den Schnee?–  Na, auf das Weiße meine ich, auf den Käse. – Ach so, gut, einverstanden, wir haben bald Winter, da kann man schon mal an Schnee denken. Zumindest in unseren Breitengraden. Obwohl, das ist auch nicht mehr so, wie es mal war. – Da haben Sie recht, lieber Herr Spürnase, wissen Sie, bei uns früher im Schwarzwald …., aber wir schweifen ab. – Genau, bleiben wir lieber bei der Sache, vielmehr der Pfanne. Was liegt denn unter der Schneedecke? – Ganz einfach: gewürfelte Süßkartoffeln und gewürfelte Randen. – Randen? – Ja, rote Beete. Die bieten sich an in dieser Jahreszeit, so als Kontrapunkt zum Schneeweiß.- Ah, Schneeweißchen und Rosenrot, meinen Sie? – Naja, so ungefähr. Jedenfalls ist das Randen- Rot doch belebend und gesund sind die Dinger außerdem. – Gut, gut, ich bin einverstanden. War es das? – Nicht ganz. Etwas frischer Knoblauch findet sich gern dazu ein und natürlich braucht es noch ein wenig Würze, so die üblichen Verdächtigen wie Kräutersalz, weißen Pfeffer, gemahlenen Koriander. Wenn man es schärfer mag, noch ein paar Chiliflocken on top. – Ah, ich merke schon, Sie können es nicht lassen, das Streuen! – Auch diesbezüglich haben Sie recht, Herr Spürnase, streuen wir weiter. Ach noch was, die Gemüsewürfel habe ich natürlich in Olivenöl angedünstet, bevor alles andere geschehen ist, also das mit der Würze, dem Schnee, den Fantastereien et cetera. – Aha, ich danke Ihnen für das Gespräch, liebe Frau A. – Ja, danke ebenfalls und buon appetito!
 

Tag 10 im Dezember

macht mir um sieben Uhr früh und damit noch vor dem Italienisch-Kurs eine Adventsfreude: die Nun-Wieder-Italienisch-Lehrerin schickt einen Gruß per messenger-Dienst. Ich lächle, denn der Satz geht noch einmal mit mir zurück zum Tag 9: ein Zwischenhoch (oder was auch immer es ist) sorgt für helle Stunden, die unbedingt genutzt sein wollen, ich steige hinauf zum Ottilienkirchlein. Dort fällt mir ein, dass ich doch einmal etwas ins Besucherbuch geschrieben habe – wann war das bloß? Ich wende die Seiten, lese einige Einträge, nicht wenige sind auf Französisch und somit Zeugen des Dreiländerecks, das man von hier aus grenzenlos sehen kann. Dann finde ich meine Schrift: am 21.Februar 2023 habe ich einen am 6.Dezember 2022 nach einem Spaziergang geschriebenen kleinen Text ins Besucherbuch des Kirchleins übertragen …..du lässt alles liegen und nimmst dir die Zeit, um dieses Leuchtens teilhaftig zu werden und steigst zum Ottilienkirchlein hinauf, wo man nicht nur im Innern, sondern auch zwischen Bäumen draußen einen Herrnhuter Stern aufgehängt hat, …“  Ist es jetzt auch so? Das Leuchten, der Herrnhuter Stern? Ja, es ist so und sogar darüber hinaus, denn Tag 9 im Dezember 2025 gewährt mir nicht nur den Blick auf die Höhenzüge von Vogesen, Schwarzwald und Jura, sondern auch Sicht auf schneebedeckte Alpengipfel.

Im Italienisch-Kurs schneit es auch, neapolitanische Kinder schauen aus Fenstern des „Zuges voller Hoffnung“ und sehen das erste Mal das Weiße, das vom Himmel fällt und alles bedeckt. Sie, denen das Leben bisher nicht viel Schönes geschenkt hat, bestaunen den Schnee mit ihnen vertrauten Worten : le molliche di pane che scendono lente lente (die Brotkrumen – eigentlich das weiche helle Innere des Brots – die langsam langsam fallen) oder piove ricotta (es regnet Ricotta).

Die Neapolitanerin Viola Ardone (geb.1974, ausgebildete Bibliothekarin, Studium italienischer Literatur, Journalistin, Lehrerin für Geschichte, Italienisch und Latein) schrieb den in Italien preisgekrönten Bestseller „Il treno dei bambini“, der in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde, deutscher Titel „Ein Zug voller Hoffnung“.  Hier Ausgabe Reclam Fremdsprachentexte, Reclams Universal-Bibliothek Nr.14501, 2023)

Tag 9 im Dezember

lässt zu, dass ich auf die Retraite zurückblicke:

Der Festtagscharakter bleibt dem Donnerstag in Ralligen erhalten, am Abend werde ich mich einigen Brüdern und Hausgästen anschließen und nach dem Essen ein weiteres im Tongeschirr gereichtes Mahl zelebrieren, nachdem wir durchs Dunkel den Feldweg hinauf gepilgert sind zur Wegkapelle, dabei an Lichtstationen innegehalten und uns mit Worten in Lesung und Gesang gestärkt haben. Laudate omnes gentes, laudate dominum – die wiederholten Schleifen des Liedes laufen uns aus der Kapelle voraus und legen sich in klarer Nacht aufs Schwarz der Landschaft. Erreichen sie auch die Himmel, in denen die Sterne ein entschiedener Widerschein unserer kleinen Lichter sind ? Stern über Bethlehem, zeig uns den Weg… werden wir später noch intonieren, denn das Singen will an diesem Abend kein Ende nehmen, beim Feuer im Kaminzimmer finden sich Etliche zusammen und folgen der Pianistin besinnlich bis spritzig. Zuletzt kredenzt jemand sogar noch Eis, flankiert von Sahne, aus den Tiefen der Küche. Die Wegkapelle war mir bereits am Ende des Morgenrundganges ein Ziel, eine geteilte Holztür ließ sich mit Riegeln öffnen, auf dem aus unregelmäßigen Steinen gepflasterten Boden der ehemaligen Scheune fand ich rote Sitzkissen auf Strohballen, vor dem Kreuz an der Stirnwand eine Krippe, in der aus weißen Laken das Kind seine Ärmchen hochreckt. Ist das Kind aus Ton oder dunklem Holz gefertigt? Ich versage meiner Hand die Berührung. Nischen der Bruchsteinwände nehmen Kerzen und Bücher auf, verschiedene Bibelausgaben sind es vor allem. Auf einfachem Ambo liegt das fünfte Kapitel des Matthäusevangeliums aufgeschlagen, die Verse eins bis zehn der Seligpreisungen sind fett gedruckt, genau wie die Verse dreizehn und vierzehn, die von Salz und Licht handeln: Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt. Über der geöffneten Bibel hat man einen von Beat Rinks Sätzen auf den Ambo gelegt: Eine Kirche, die nie nach Stall riechen wird, verleugnet ihre Herkunft. Die Wegkapelle tut das nicht, der gestaltende Künstler hat ihren Scheunencharakter bewahrt, durch die Öffnungen der hölzernen Wand- und Dachsparren-Konstruktion fällt das Himmelslicht herein und der Blick hinaus auf Bergwiesen, auf See und Niesen. Giemwand heißt wohl der Fachausdruck für den Aufbau der Scheune, am Nachmittag lese ich das in Gunten auf blechernem Schild, das auf eine alte Scheune als letzten Zeugen von kleinbäuerlichen und kleingewerblichen Tätigkeiten im Dorfkern hinweist. Neben der Wegkapelle sind bäuerliche Tätigkeiten noch alltäglich, mittags wurde beim nahen Misthaufen mit dem Schaufeltraktor geschafft, der Stallgeruch verteilt. Nach Gunten laufe ich nicht auf der Höhe, sondern am See entlang, ich raste auf Bänken, die sich Wasser und Sonne zuwenden, ab irgendwann taucht im Blick Richtung Interlaken das schneeweiße Antlitz der Jungfrau auf, im verwaisten Guntener Strandbad weist ein Schild darauf hin, dass Tauchen hier eine Wintersportart und im Sommer verboten sei, und tatsächlich begegnen mir beim Zurückgehen an den Rastplätzen Menschen, die sich aus tauchtauglichen Anzügen schälen und ihr Equipment in den Kofferräumen ihrer Kombis verstauen. Auch auf diesem Gang wandert der Niesen immer mit und später, als er in der Nacht kaum auszumachen ist, werde ich denken, dass er selbst der Dunkelheit des Himmels ein treuer Begleiter ist.

Beat Rink https://share.google/wWmO5t5DjP4fxakw4

(Fortsetzung/Schluss folgt)

Tag 8 im Dezember

Das oberrheinische Sinfonieorchester ist ein überwiegend aus Nicht-Berufsmusikern bestehendes Orchester, das gleichwohl mit professionellem Anspruch Werke des klassisch-romantischen Repertoires erarbeitet und in bis zu fünf Konzerten pro Jahr zur Aufführung bringt, wobei gelegentlich Werke des 20. und 21.Jahrhunderts den Erfahrungshorizont von Orchester und Zuhörerschaft erweitern sollen. Zudem unterstützt es junge Solisten und Solistinnen dabei, im Rahmen einer Zusammenarbeit erste musikalische Aufführungserfahrungen zu gewinnen. Das Programm der diesjährigen Adventskonzerte am zweiten Adventswochenende bringt vor dem Cellokonzert e-moll, op.85 von Edward Elgar (1857-1934)  die Symphonie brève (g-moll,op.58) des mir bis dahin unbekannten Théodore Gouvy (1819-1898) und nach der fast halbstündigen Pause (reichlich gefülltes, unruhiges Foyer) die Sinfonie Nr.3 in Es-Dur von Robert Schumann (1810-1856). Hätte ich den Kölner Dom in der „Rheinischen“ erkannt, wenn man mich nicht im Text des Programmheftes darauf hingewiesen hätte? Dass ich einer „feierlichen Zeremonie“ beiwohne, war jedenfalls sofort klar (IV) und im „Morgen am Rhein“, wie Schumann ursprünglich das Scherzo (Satz II) bezeichnete, ging ich gleich heiter spazieren.

Seit 16 Jahren lebt die Cellistin Ana Helena Surgik in Lörrach, ist aber nun zum ersten Mal dort aufgetreten, in Brasilien ist sie geboren, wann genau, verrät sie nicht. Auf einem kleinen Podest steht der schwarze, stoffbezogene Klavierhocker, auf dem sie im leuchtend roten langen Kleid Platz nimmt, der Rock des Kleides ist weit ausgestellt entsprechend der Erfordernis der Cello- Haltung. Faszinierend nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, wie die Finger der linken Hand greifen und laufen, weite Strecken zurücklegen und wie die rechte Hand die verschiedenen Charaktere der Bogenführung bewältigt. Während der Arbeit am Cellokonzert hatte sich Elgar in die Landschaft seiner Kindheit, nach Worcestershire zurückgezogen, lese ich im Netz in einem BR-Klassik-Artikel von Uta Sailer (24.05.2022).

Am Vorabend sah ich in der ARD-Mediathek eine Dokumentation über die Cellistin Lise Cristiani, geboren – wie nach fast detektivischer Recherche herausgefunden wurde – am 4.Dezember 1825, man hätte also an Rilkes 150. Geburtstag an ihren 200. denken können. Ein langes Leben hat sie nicht gehabt, aber es ganz eigen gemeinsam mit ihrem Cello gestaltet. Dabei war aus vielerlei Gründen zur damaligen Zeit eine Frau als Cello-Virtuosin unvorstellbar, unter anderem auch wegen der Art der Cello-Haltung. Sol Gabetta hat sich ihrer frühen Kollegin angenommen, davon erzählt sie auch sehr lebendig in NDR- Kultur (Audio Sol Gabetta über ihre Heldin Lise Cristiani, 14:43 min).

Ana Helena Surgik übrigens hat sich während des Beifalls beim Orchester bedankt, indem sie mit dem ihr überreichten Blumenstrauß in der rechten Hand winkte, als bewegte sie einen Cheerleader-Pompon.

Sol Gabetta über die historischen Spuren der Cellistin Lise Cristiani | ndr.de https://share.google/KuclAxNZfaTCmDDuA

Zweiter Sonntag im Advent – Tag 7 im Dezember

Der im Herrnhuter Losungsbüchlein angegebene Vers für die beginnende Kalenderwoche 50 steht in Lukas 21 (Vers 28) und ich zitiere ihn nach der Elberfelder Übersetzung 2006:

Wenn aber diese Dinge anfangen zu geschehen, so blickt auf und hebt eure Häupter empor, weil eure Erlösung naht.

Das vorgeschlagene Wochenlied ist Nr.7 im evangelischen Gesangbuch, eine Freundin schenkte mir im Dezember 2016 die kleine, besonders ausgestattete Ausgabe des Gesangbuches für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern und die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland im Gebiet der ehemaligen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen. Unter Lied Nr.7 O Heiland, reiß die Himmel auf findet sich darin eine Anrufung des niederländischen, anfangs römisch-katholischen, später konfessionslosen Theologen (und Dichters) Huub Oosterhuis (1933-2023).

Tag 6 im Dezember

„Sieg des Volkes“ bedeutet der Name Nikolaus und an einem 6.Dezember ist er gestorben, der heilige Nikolaus von Myra, so viel steht fest, das Sterbejahr jedoch ist nicht genau bekannt (um 350 n.Chr.), ebenso wenig wie das Geburtsjahr (zwischen 270 und 286 n.Chr.) Viele Legenden ranken sich um sein Wirken und er ist einer der bekanntesten Heiligen sowohl der Ostkirchen als auch der lateinischen Kirche. Einmal war ich da in Myra, dem heutigen Demre (Provinz Antalya, Türkei), wenn auch nur kurz und vor vielen Jahren.

Ich blicke aber nicht nur auf Myra, sondern auch zurück auf die Retraite in Ralligen:

Was ich denn den ganzen Tag mache, fragen mich andere Frauen beim Frühstück, während wir Ralliger Quittengelee auf selbstgebackenes Brot türmen, das wir zuvor mit einer Butter bestrichen, die ihre Bergherkunft nicht leugnen kann. Oh, ich habe zu tun, antworte ich, es gibt so viel zu entdecken – und zeige meinen fotografischen Versuch, die Rosa-Überwältigung des frühen Morgens einzufangen. Der Niesen ist diese Himmel gewohnt, er sitzt unverändert und ruhig und auch sein flüssiges Spiegelbild kümmert ihn nicht, er ist nicht Narziss. Später werde ich denken, dass er mich begleitet und ein Gegenüber bleibt, obgleich ich in Bewegung bin. In leichter Bewegung, denn ich will meinen Radius nur gering erweitern und der Sonne entgegengehen. Der Oberländerweg verspricht, mich ohne Aufs und Abs und dennoch erhaben nach Merligen zu bringen, Poesie mit Seebrise kommentiert zu Recht das Werbeplakat eines Bauvorhabens, Bergwiesen rechts und links wechseln mit verstreuter Bebauung ab, bis diese sich verdichtet und nach zwanzig Minuten der Ort erreicht ist. Den Kirchturm sehe ich noch etwas entfernt vor mir, ich werde ihm erst am nächsten Tag näher kommen, das Panorama vom Kirchenvorplatz aus betrachten, die auf einem Felsensporn aus einheimischen Balmholz-Bruchsteinen erbaute Merliger Kirche betreten und im einfachen Innensaal unter der Holzbalkendecke fast erschrecken im Angesicht zweier türkisgewandeter, steif aufragender Engel in den beiden hohen Stichbogenfenstern der Stirnseite. Heute aber will ich über den Bäreneggweg etwas bergan steigen, um auf den Ralligweg zu gelangen, ich komme am steinernen Oval des Pappelbrunnens vorbei, Laub des namengebenden Baumes beansprucht mit seinem gelben Leuchten fast allen Raum der Brunnenschale, das Wasser hat ein Nachsehen. Der Frauenverein lädt beim Wintermärit alle Familien zum Kasperlitheater ein, was dabei erzählt werden wird, kann ich nur verstehen, indem ich auf die Buchstaben der Ankündigung höre: Kasperlis Abetüür im töife Meer. Inzwischen stehe ich auf einer Brücke und in mir steigt ein Lied auf, das das Kind mit den Eltern sang bei Fahrten durch die Schweiz „Von den Bergen rauscht ein Wasser, rauscht, als wär es kühler Wein, kühler Wein, ja der soll es sein…“, der Stillenbach nämlich ist keineswegs still, sondern tut, was er kann an Gurgeln, Schäumen und Rauschen, dabei muss man ihn erst einmal ein wenig suchen unter Gestrüpp und Bewuchs, erst weiter unten, nachdem er ein paar Felsstufen heruntergestürzt ist  und sich dem See zuwendet, zeigt er offen sein Gesicht. Bevor ich durch eine fast hohle Gasse in ein Waldstück einbiege, bewundere ich links Renovierungsarbeiten an einem Anwesen, Erdgeruch weht mir vom Aushub entgegen, das Haus mindestens eine Villa, ah, da steht es ja auch, es ist ein Schlösschen: Châtel Claire. Es geht dem Mittag entgegen und selbst im Wald ist es nicht kühl, kräftige Herbstsonne erreicht entlang kahl gewordener Stämme auch die Bodenschichten, auf kleinen Felsen bekräftigen Moose ihr Grün und melden meiner Hand weiche Wärme, ein Wort taucht auf von irgendwo: Martinisommer. „Mis Träumli“ heißt das Chalet rechts am Berghang nach dem Waldstück, hier führen links die Stufen hinunter, die mich zurück auf den Oberländerweg bringen, nicht harte weiße Bälle springen über die alte Tischtennisplatte, die ich passiere, schrumplige dunkel gewordene Äpfel ruhen sich auf ihr aus. Vor der letzten Stufe halte ich erstaunt inne – nein, es ist kein Herbstblatt, das da vor mir flattert, es ist ein Schmetterling, er setzt sich auf die Schottersteine zu Füßen der Treppe, breitet weit die Flügel und bleibt so, er sammelt die Sonne wie ich. Dann bewegt er sich etwas vorwärts, ja tatsächlich, er geht ein paar Schritte – habe ich jemals schon einen Schmetterling eine solche Wegstrecke gehen sehen? Schließlich erhebt sich der Admiral wieder und ich schaue zu, dass ich meinen Rundgang vollende, denn nicht mehr lang und die Glocke wird rufen zum Mittagsgebet unter hohem Dach, ich werde auf das Drahtkreuz schauen, das ins Rund der bleigefassten Glasscheibe eingelassen ist, die über dem Altar schwebt und Durchblick gewährt, und dann wird die Küche die Zusammengekommenen verwöhnen mit einem Herbstmahl, Hirschgulasch, selbstgemachte Spätzle und nussige Maronen gesellen sich zum Blaukraut aus dem Gärtchen, so dass ich frage und mir gleich selbst die Antwort gebe: ist heute ein Festtag? Ja – heute ist ein festlicher Tag!

(Fortsetzung folgt)

Tag 5 im Dezember

schenkt mir die Zeit, in der Regionalbahn mit einer meiner Lektüren nicht anzufangen, sondern fortzufahren: Alltäglicher sind andere Anfänge. Man fängt mit der Lektüre eines neuen Buches an……In jedem wahrhaften Anfang steckt die Chance zur Verwandlung…..In besonderem Maße hat es Literatur mit dem Abenteuer des Anfangens zu tun… Diese und viele weitere sehr lesenswerte Sätze finden sich in Rüdiger Safranskis Auffächerung des Phänomens Zeit, die von Kap.1 Zeit der Langeweile bis Kap.10 Erfüllte Zeit und Ewigkeit reicht. Die zitierten Sätze sind dem Kap.2 entnommen „Zeit des Anfangens“ (Im Oktober 2022 hatte Rüdiger Safranski als Gastgeber die Badenweiler Literaturtage unter das Thema „Über das Anfangen“ gestellt).

Folgen wir dem zweiten Teil des Untertitels  „Zeit – und was wir aus ihr machen“ und nehmen uns nach einem Termin Eigen(e) Zeit : das Museum für Neue Kunst in der Marienstraße lädt nicht nur zur Ausstellung MAL ER – MAL SIE über Parallelen und Unterschiede in den Werken der KünstlerInnen Olga Jakob (geb.1985) und Artur Stoll (1947-2003), sondern auch zur Kostprobe von Dolce Vita, gibt es doch nicht nur die Plakate, sondern auch einen kleinen Mittagstisch im Museumscafé und von den drei angebotenen Pasta-Gerichten fällt unsere Wahl auf alla Puttanesca, und zwar in der römischen Variante. Gegenüber lockt die eine (Fundevogel) und nicht weit entfernt die andere Buchhandlung (Zum Wetzstein) – wir verweilen zeitvergessen –  und schließlich geraten wir genau dann ins Münster, als dort der Organist nicht nur die Marienorgel, sondern auch die anderen drei Orgeln vom Generalspieltisch im Chorraum aus zum Klingen und Stürmen bringt. Den heiligen Bischof Nikolaus im Fenster der Stürzelkapelle (Kapelle des Stifters Konrad Stürzel) sehen wir nicht, aber dessen Zeit ist ja auch erst an Tag 6 im Dezember.

Kinderbuchhandlung Fundevogel | leseliebe.de https://share.google/SvJIXnTDAAKplYsDB

Start – Buchhandlung zum Wetzstein https://share.google/UjC8nTQP3N2A8HuEg

(Rüdiger Safranski: Zeit – Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. hier: Fischer TaschenBibliothek 3.Aufl. Juli2024)